Protokoll:
11188

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 188

  • date_rangeDatum: 18. Januar 1990

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:19 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/188 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 188. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 Inhalt: Nachruf auf die ehemaligen Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bundesminister a. D. Dr. Schröder und Klein (Dieburg) . . 14473 A Glückwünsche zum Geburtstag der Abg. Brandt und Dr. Laermann 14473 B Erweiterung der Tagesordnung 14473 B Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Erfolgen der Gesundheitsreform Dr. Blüm, Bundesminister BMA 14474 A Dreßler SPD 14480 C Dr. Becker (Frankfurt) CDU/CSU . . . 14485 C Kirschner SPD 14486 D Frau Wilms-Kegel GRÜNE 14488 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 14492 C Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 14494 A Heyenn SPD 14496 C Dr. Becker (Frankfurt) CDU/CSU . . 14498 A Egert SPD 14498 B Dr. Hoffacker CDU/CSU 14499 A Louven CDU/CSU 14499 D Frau Unruh fraktionslos 14501 C Dr. Hoffacker CDU/CSU 14502 B Wüppesahl fraktionslos 14504 A Egert SPD 14505 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bericht der Bundesregierung über die Verhandlungen mit der DDR (Drucksache 11/6214) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Deutschlandpolitik der Bundesregierung (Drucksache 11/6231) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten (Drucksache 11/6236) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Garantie der polnischen Westgrenze (Drucksache 11/6237) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens (Drucksache 11/6250) II Deutscher Bundestag — í 1. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18 Januar 1990 in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt: Antrag des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Modernisierung für Waffensysteme, insbesondere sofortiger Stopp der Entwicklung des Jagdflugzeuges 90 (Drucksache 11/6242) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt: Antrag des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verkürzung des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes auf 12 Monate (Drucksache 11/6243) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt: Antrag des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Reduzierung der Präsenzstärke der Bundeswehr (Drucksache 11/6244) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt: Antrag der Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Drucksache 11/6249) Seiters, Bundesminister BK 14508 D Dr. Ehmke (Bonn) SPD 14512 B Lintner CDU/CSU 14516D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 14518B Dr. Graf Lambsdorff FDP 14521 D Roth SPD 14525 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 14526 D Dreßler SPD 14530 B Dr. Hornhues CDU/CSU 14532 C Hoss GRÜNE 14534 B Dr. Gerhardt, Staatsminister des Landes Hessen 14535 B Conradi SPD 14536 B Dr. Vogel SPD 14537 C Rühe CDU/CSU 14540A, 14544 B Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 14543 A Gansel SPD 14544 A Wüppesahl fraktionslos 14544 B Büchler (Hof) SPD 14546 B Dr. Briefs GRÜNE 14546 D Tagesordnungspunkt 4: Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksache 11/6174) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Drucksache 11/6241) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft: Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" Wirtschaftsjahr 1988 (Drucksache 11/6186) 14547 D Tagesordnungspunkt 5: Beratungen ohne Aussprache a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Halbjahresbericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über den zeitlichen Ablauf der Verwendung der Tranchen des neuen Gemeinschaftsinstruments (NGI) 1. Juli 1987 bis 31. Dezember 1987 (Drucksachen 11/3021 Nr. 2.2, 11/5202) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Halbjahresbericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über den zeitlichen Ablauf der Verwendung der Tranchen des neuen Gemeinschaftsinstruments (NGI) 1. Januar 1988 bis 30. Juni 1988 (Drucksachen 11/4758 Nr. 2.2, 11/5534) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses: Übersicht 15 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 11/6013) . . 14548B Tagesordnungspunkt 6: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schmidt (Nürnberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sofortprogramm für schwangere Frauen, Müt- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 III ter und Familien — Hilfen mit Rechtsanspruch und Maßnahmen für eine kinder-und familienfreundlichere Gesellschaft (Drucksache 11/2532) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schmidt (Nürnberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Konzept zur Sexualaufklärung (Drucksache 11/4978) Frau Dr. Götte SPD 14557 C Frau Verhülsdonk CDU/CSU 14559 A Jäger CDU/CSU 14560 D Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 14561 C Geis CDU/CSU 14563 B Frau Würfel FDP 14564 C Conradi SPD 14565 C Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 14567 B Frau Schmidt (Spiesen) CDU/CSU . . . 14569 C Frau Dr. Götte SPD 14571 A Frau Dr. Wegner SPD 14571 B Frau Dr. Lehr, Bundesminister BMJFFG 14572 C Frau Dr. Götte SPD 14573 B Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Chemikaliengesetzes (Drucksachen 11/4550, 11/5121, 11/6216) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag des Abgeordneten Schmidbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Baum, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verbot von Pentachlorphenol (PCP) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur 9. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Drucksachen 11/3599, 11/2465 Nr. 2.27, 11/4653) Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU . . . . 14574 D Müller (Düsseldorf) SPD 14576 C Frau Dr. Segall FDP 14579 A Frau Garbe GRÜNE 14580 B Schmidbauer CDU/CSU 14581 B Weiermann SPD 14582 D Grüner, Parl. Staatssekretär BMU . . . . 14583 C Tagesordnungspunkt 8: a) Zweite und dritte Beratung des vom Abgeordneten Susset, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie dem Abgeordneten Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Milchaufgabegesetzes (Drucksachen 11/6090, 11/6246, 11/6256) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN: Schutz vor Verbrechen in der Tiermast (Drucksache 11/5732) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verbesserung der sozialen Situation der Bäuerinnen (Drucksachen 11/4468, 11/5475) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Susset, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Paintner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zum Agrarbericht 1989: Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Flinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN Agrarbericht 1989: Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Agrarbericht 1989: Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung (Drucksachen 11/3968, 11/3969, 11/4487, 11/4505, 11/4517, 11/5486) Michels CDU/CSU 14586 C Oostergetelo SPD 14588 C Bredehorn FDP 14590 B Frau Weyel SPD 14590 C Oostergetelo SPD 14590 D Frau Flinner GRÜNE 14592 B Kiechle, Bundesminister BML 14593 B Kreuzeder GRÜNE 14594 A Frau Weyel SPD 14594 D IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Weiss (München), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage des Abgeordneten Weiss (München), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN: Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage des Abgeordneten Weiss (München), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN: Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt (Drucksachen 11/4099, 11/4949, 11/5243, 11/5256, 11/6143) Weiss (München) GRÜNE 14596 C Oswald CDU/CSU 14598 B Bamberg SPD 14600 C Wimmer (Neuötting) SPD . . 14601D, 14202B Dr. Jobst CDU/CSU 14602 A Weiss (München) GRÜNE 14602 B Gries FDP 14603 C Peter (Kassel) SPD 14604 A Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Staatsterrorismus und Terrorismus (Drucksachen 11/2124, 11/2984) Frau Beer GRÜNE 14605 A Dr. Olderog CDU/CSU 14606 A Wischnewski SPD 14607 A Schäfer, Staatsminister AA 14607 D Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 11/6220 vom 12. 1. 1990 — Trassenführung der Eisenbahnschnellverbindung Berlin—Hannover über Stendal MdlAnfr 25 Seidenthal SPD Antw StSekr Dr. Knittel BMV 14548 D ZusFr Seidenthal SPD 14549 A ZusFr Kühbacher SPD 14549 B Ausbau und Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke Braunschweig—Magdeburg MdlAnfr 26 Seidenthal SPD Antw StSekr Dr. Knittel BMV 14549 C ZusFr Seidenthal SPD 14549 C ZusFr Kühbacher SPD 14549 D Verhinderung der Abkoppelung des schwäbisch-bayerischen Wirtschaftsraumes durch den Halt aller IC-Züge in Augsburg und Ulm MdlAnfr 27, 28 Amling SPD Antw StSekr Dr. Knittel BMV 14550A, 14551A ZusFr Amling SPD 14550A, 14551 A ZusFr Höpfinger CDU/CSU . 14550C, 14551B Neuregelung der Entsorgungsgrundsätze für Atomkraftwerke; Verhandlungsstand betr. Auslegung der Planfeststellungsunterlagen zum geplanten atomaren Endlager „Schacht Konrad" in Salzgitter MdlAnfr 31, 32 Frau Wollny GRÜNE Antw PStSekr Gröbl BMU . . 14551 C, 14552 B ZusFr Frau Wollny GRÜNE . . 14551D, 14552 C ZusFr Weiss (München) GRÜNE 14552 A Haltung der Bundesregierung zur gemeinsamen lothringisch-saarländischen Kandidatur für die beabsichtigte EG-Umweltagentur MdlAnfr 33 Schreiner SPD Antw PStSekr Gröbl BMU 14552 D ZusFr Schreiner SPD 14552 D Einmischung des deutschen Botschafters in Irland in die Ausweisung von Mülldeponien im Main-Kinzig-Kreis MdlAnfr 44, 45 Reuter SPD Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14553C, 14554 A ZusFr Reuter SPD 14553C, 14554 A ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 14554 A ZusFr Kühbacher SPD 14554 B Anstieg der Zahl der politischen Gefangenen trotz genereller Verbesserung der Menschenrechtslage in Südkorea MdlAnfr 46, 47 Dr. Klejdzinski SPD Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14554C, 14555 B ZusFr Dr. Klejdzinski SPD . 14554D, 14555 B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 V Einsatz von G-3-Gewehren der Firma Fritz Werner im Iran MdlAnfr 48 Frau Vennegerts GRÜNE Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14555 C ZusFr Frau Vennegerts GRÜNE 14555 D Unterstützung der baltischen Völker bei der Durchsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts MdlAnfr 51 Jäger CDU/CSU Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14556 A ZusFr Jäger CDU/CSU 14556 B Bemühungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Verhaftung der deutschen Soziologin Dr. Hella Schlumberger am 10. Januar 1990 in der Türkei MdlAnfr 53 Schreiner SPD Antw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14556 C ZusFr Schreiner SPD 14556 D Nächste Sitzung 14608 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 14609* A Anlage 2 Kosten der Anzeigen „Gutes Neues Jahr 1990" in Tageszeitungen MdlAnfr 7 — Drs 11/6220 — Frau Schulte (Hameln) SPD SchrAntw BMin Klein BK 14609* C Anlage 3 Aktivitäten der Sekte „Scientology Church" ; Aufhebung der Gemeinnützigkeit MdlAnfr 20, 21 — Drs 11/6220 — von Schmude CDU/CSU SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 14609* C Anlage 4 Gefahren durch die Arbeit der Scientology-Sekte MdlAnfr 22 — Drs 11/6220 — Kuhlwein SPD SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 14610* A Anlage 5 Änderung der Trinkwasserverordnung, insbesondere Neuregelung der bereits in Verbindung mit Sanierungsprogrammen genehmigten Grenzwertüberschreitungen für Pestizide MdlAnfr 23, 24— Drs 11/6220 — Kiehm SPD SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 14610* B Anlage 6 Störungen des Amateurfunks durch die zunehmende Verkabelung MdlAnfr 34, 35 — Drs 11/6220 — Dr. Diederich (Berlin) SPD SchrAntw PStSekr Rawe BMPT 14611* A Anlage 7 Auswirkungen der Aktivitäten der Scientology-Sekte MdlAnfr 36 — Drs 11/6220 — Kuhlwein SPD SchrAntw PStSekr Rawe BMPT 14611* C Anlage 8 Ergebnisse des Treffens der EG-Wohnungsbauminister, insbesondere für die bundesdeutsche Wohnungspolitik; Anteil der in Sozialwohnungen in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf lebenden Ausländer MdlAnfr 38, 39 — Drs 11/6220 — Müntefering SPD SchrAntw PStSekr Echternach BMBau . . 14612* A Anlage 9 Förderung der Wiedereingliederung abgeschobener Frauen aus der Dritten Welt, insbesondere in Thailand und auf den Philippinen MdlAnfr 40, 41 — Drs 11/6220 — Frau Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU SchrAntw StSekr Lengl BMZ 14612* B Anlage 10 Förderung von Kurzausbildungsprogrammen zur Wiedereingliederung von in der Bundesrepublik Deutschland der Prostitution nachgehenden Frauen der Dritten Welt aus dem Einzelplan des BMZ; Sensibilisierung von Mitarbeitern des BMZ für die Bedeutung der Frauenförderung in der Dritten Welt MdlAnfr 42, 43 — Drs 11/6220 — Frau Männle CDU/CSU SchrAntw StSekr Lengl BMZ 14613* A VI Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 Anlage 11 Haltung der Bundesregierung zu den US-Aktionen in Panama MdlAnfr 49, 50 — Drs 11/6220 — Conradi SPD SchrAntw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14613*C Anlage 12 Personelle Verstärkung der Botschaften in den reformbereiten Ostblockstaaten MdlAnfr 52 — Drs 11/6220 — Stiegler SPD SchrAntw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14613* D Anlage 13 Verantwortung für die Gutachten des Auswärtigen Amtes zur Verhinderung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen im Zusammenhang mit dem U-Boot-Geschäft mit Südafrika MdlAnfr 54 — Drs 11/6220 — Gansel SPD SchrAntw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 14614* A Anlage 14 Überdurchschnittliche Anhebung der Mittel zur Erhaltung des kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen seit 1983; Anteil des Bundes der Vertriebenen und Verwendung der Mittel MdlAnfr 55, 56 — Drs 11/6220 — Hiller (Lübeck) SPD SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 14614* B Anlage 15 Bundesmittel und Mittel aus dem von dem ehemaligen DDR-Staatssekretär Schalck-Golodkowski geleiteten Unternehmen für Waffenkäufe zugunsten der Guerillabewegung in El Salvador MdlAnfr 57 — Drs 11/6220 — Dr. Müller CDU/CSU SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 14614* D Anlage 16 Ausbau des Eisenbahnübergangs zur CSSR in Bayerisch Eisenstein MdlAnfr 58 — Drs 11/6220 — Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 14615* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 14473 188. Sitzung Bonn, den 18. Januar 1990 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein CDU/CSU 19. 01. 90 Dr. Ahrens SPD 19. 01. 90* Antretter SPD 19. 01. 90 * Biehle CDU/CSU 19. 01. 90 ** Böhm (Melsungen) CDU/CSU 19. 01. 90 * Büchner (Speyer) SPD 19. 01. 90 * Dr. von Bülow SPD 19. 01. 90 Dr. Diederich (Berlin) SPD 18. 01. 90 Dr. Emmerlich SPD 19. 01. 90 Eylmann CDU/CSU 19.01.90 Dr. Fell CDU/CSU 18. 01. 90 Frau Frieß GRÜNE 19. 01. 90 Dr. Geißler CDU/CSU 19. 01. 90 Genscher FDP 18.01.90 Glos CDU/CSU 19.01.90 Dr. Götz CDU/CSU 19. 01. 90 Grünbeck FDP 19.01.90 Harries CDU/CSU 19.01.90 Häuser SPD 19.01.90 Heimann SPD 19.01.90 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 19. 01. 90 Frau Hensel GRÜNE 19. 01. 90 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 19. 01. 90 Ibrügger SPD 19. 01. 90 ** Kolbow SPD 19.01.90 Koschnick SPD 18.01.90 Dr. Kreile CDU/CSU 19. 01. 90 Frau Luuk SPD 19. 01. 90 * Mischnick FDP 18.01.90 Möllemann FDP 18.01.90 Nagel SPD 19.01.90 Niegel CDU/CSU 19. 01. 90* Paterna SPD 18.01.90 Petersen CDU/CSU 19. 01. 90 **' Pfeifer CDU/CSU 19.01.90 Pfuhl SPD 19. 01. 90 * Rauen CDU/CSU 19.01.90 Reddemann CDU/CSU 19. 01. 90 * Repnik CDU/CSU 19.01.90 Frau Rost (Berlin) CDU/CSU 18. 01. 90 Schartz CDU/CSU 18.01.90 Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 19. 01. 90 Gmünd) Schwarz CDU/CSU 19.01.90 Sielaff SPD 18.01.90 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 19. 01. 90 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 19. 01. 90 Dr. Uelhoff CDU/CSU 19. 01. 90 Uldall CDU/CSU 19.01.90 Vosen SPD 18.01.90 Dr. Warnke CDU/CSU 19. 01. 90 Weiß (Kaiserlautern) CDU/CSU 19. 01. 90 Frau Wieczorek-Zeul SPD 19. 01. 90 Frau Dr. Wilms CDU/CSU 19. 01. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Antwort des Bundesministers Klein auf die Frage der Abgeordneten Frau Schulte (Hameln) (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 7): In welchen Tageszeitungen sind die Anzeigen „GUTES NEUES JAHR 1990" vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden, und welche Kosten sind hierfür insgesamt entstanden? Die Anzeigenserie „GUTES NEUES JAHR 1990" ist in der Zeit vom 27. Dezember 1989 bis 11. Januar 1990 in allen Tageszeitungen, in den Wochenzeitungen sowie in der Kirchenpresse erschienen. Die Kosten der Anzeigen betragen etwa 3,4 Millionen DM; die genaue Abrechnung der Verlage steht noch aus. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Fragen des Abgeordneten von Schmude (CDU/CSU) (Drucksache 11/6220 Fragen 20 und 21): Welche Informationen liegen der Bundesregierung über die Aktivitäten der Sekte „Scientology Church" vor, insbesondere über das Geschäftsgebaren und deren Versuche, junge Menschen in ihre Abhängigkeit zu bringen? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das Vorgehen dieser Sekte zu überwachen und gegebenenfalls einzugreifen, und ist die Bundesregierung bereit und in der Lage, gegebenenfalls auch die Gemeinnützigkeit dieser Sekte aufzuheben? Zu Frage 20: Die Bundesregierung verfügt über umfangreiches Informationsmaterial über die „Scientology-Church", aus dem Zielsetzung, Aktivitäten und Praktiken dieser Gruppierung und der ihr zuzuordnenden Organisationen hervorgehen. Es handelt sich hierbei um Materialien, die im wesentlichen aus dem Bereich der Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Kirchen und von den im Bereich der sogenannten „Jugendreligionen/Jugendsekten" tätigen Elterninitiativen erstellt worden sind. In diesem Zusammenhang wird z. B. verwiesen auf die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Stuttgart, die Kath.-Sozialethische Arbeitsstelle in Hamm sowie auf die Aktion für geistige und psychische Freiheit - Arbeitsgemeinschaft der Elterninitiativen e. V. in Bonn und die Aktion Psychokultgefahren e. V. in Düsseldorf. Die Bundesregierung hat im übrigen in ihrem Bericht an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages vom Dezember 1979 „Jugendreligionen in der Bundesrepublik Deutschland", in dem auch die „Scientology-Church" erwähnt ist, zu dem Problembereich Stellung genommen. 14610' Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 Zu Frage 21: Die Bundesregierung geht davon aus, daß das rechtliche Instrumentarium ausreicht, um evtl. Verstößen gegen die Rechtsordnung seitens der „Scientology-Church" im Rahmen der bestehenden Gesetze wirksam begegnen zu können. Soweit aus polizeirechtlicher Sicht eine Beobachtung bzw. Überwachung dieser Gruppierung in Betracht kommt, sind hierfür die entsprechenden Behörden der Länder zuständig. Schwerpunkte der Bemühungen der Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem Problem „Jugendreligionen/Jugendsekten" ist die Unterstützung einer breit angelegten Informations- und Aufklärungsarbeit. Diese wird in enger Kooperation mit den Bundesländern, den öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe, den Elterninitiativen, den Beauftragten der Kirchen für Weltanschauungs- und Sektenfragen sowie anderen gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen geleistet. Die Anerkennung bzw. der Entzug der Gemeinnützigkeit fällt ausschließlich in die Zuständigkeit der Länderfinanzverwaltungen. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Frage des Abgeordneten Kuhlwein (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 22) : Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahren, die von der Arbeit der Scientology-Sekte für die geistige und seelische Entwicklung von jungen und erwachsenen Menschen ausgehen, und welche Maßnahmen will sie gegebenenfalls ergreifen, um diesen Gefahren zu begegnen? Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Informations- und Aufklärungsarbeit auch auf mögliche Gefährdungen hingewiesen, die nach Einschätzung der Bundesregierung von den Aktivitäten und Praktiken der „Scientology-Church" für die Persönlichkeitsentwicklung und die sozialen Bezüge junger Menschen ausgehen können. Die Bundesregierung sieht in einer breit angelegten Informations- und Aufklärungsarbeit ein wichtiges Instrument, um solchen Gefährdungen frühzeitig zu begegnen. Diese Informations- und Aufklärungsarbeit wird in enger Kooperation mit den Bundesländern, den öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe, den Elterninitiativen, den Beauftragten der Kirchen für Weltanschauungs- und Sektenfragen sowie anderen gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen geleistet. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Fragen des Abgeordneten Kiehm (SPD) (Drucksache 11/6220 Fragen 23 und 24): Welche konkreten Verbesserungen für den Trinkwasserschutz will die Bundesregierung durch die jetzt vorgelegte Änderung der Trinkwasserverordnung erreichen, und wie beurteilt sie die Argumente der EG-Kommission, die Bundesrepublik Deutschland trotz beabsichtigter Änderung der Trinkwasserverordnung wegen nicht ausreichender Umsetzung der EG-Richtlinie insbesondere in bezug auf die Grenzwerte für Nitrat und Pestizide vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen? Wie wird sich durch Einfügen des Begriffs „Notfall" in § 4 Abs. 1 der Trinkwasserverordnung die Praxis der Gesundheitsämter bei der Genehmigung von Grenzwertüberschreitungen ändern müssen, und was soll in den Fällen geschehen, in denen nach dem 1. Oktober 1989 Pestizid-Grenzwertüberschreitungen — verbunden mit Sanierungsprogrammen — genehmigt wurden? Zu Frage 23: Mit der vorgesehenen Novellierung der Trinkwasserverordnung verfolgt die Bundesregierung drei Ziele: 1. Die Regelungen für die Aufbereitung von Trinkwasser und die Vorschriften über die Qualität und die Untersuchung des Trinkwassers, die bisher in zwei Rechtsverordnungen geregelt waren, sollen im Interesse der Übersichtlichkeit und einer besseren Handhabung in der Praxis in einer Rechtsverordnung zusammengefaßt werden. 2. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der Trinkwasserverordnung sollen Verbesserungen vorgesehen werden, die einige bekanntgewordenen Unstimmigkeiten im Vollzug bereinigen sollen. 3. Durch die Herabsetzung von Grenzwerten für gesundheitlich relevante Substanzen, wie z. B. Arsen und organische Chlorverbindungen soll der Gesundheitsschutz weiter verbessert werden. 4. Die Bundesregierung ist entgegen der EG-Kommission der Auffassung, daß die Trinkwasserrichtlinie der EG materiell in innerstaatliches Recht umgesetzt ist. Schon die deutsche Trinkwasserverordnung von 1975 hat eine Reihe strenger Anforderungen festgelegt. Die 1980 zusätzlich durch die EG-Richtlinie vorgesehenen Qualitätsanforderungen wurden durch die neue Trinkwasserverordnung vom 22. Mai 1986 umgesetzt. Dabei traten die Grenzwerte für chemische Stoffe, somit auch für Nitrat am 1. Oktober 1986 in Kraft. Aus technisch-analytischen Gründen konnte der Grenzwert für Pfanzenschutzmittel also für Pestizide erst am 1. Oktober 1989 in Kraft treten. Der Bundesregierung ist der Inhalt einer EG-Klage nicht bekannt. Um aber die Risiken eines angekündigten Rechtsstreites zu vermindern, hat die Bundesregierung gegenüber der EG die Bereitschaft erklärt, Forderungen der EG-Kommission bei der Änderung der Trinkwasserverordnung, soweit sie aus dem Vorverfahren bekannt sind, zu berücksichtigen. Zu Frage 24: Nach § 4 Abs. 1 der Trinkwasserverordnung können von den zuständigen Landesbehörden Abweichungen von den Grenzwerten zugelassen werden, und zwar — für einen befristeten Zeitraum, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 14611 — bis zu einer festzusetzenden Höhe, — wenn dadurch die menschliche Gesundheit nicht gefährdet wird, und — die Trinkwasserversorgung nicht auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand sichergestellt werden kann. Dies deckt sich inhaltlich mit den Kriterien, die in der EG-Richtlinie im Art. 10 für Grenzwertüberschreitungen in Notfällen vorgesehen sind. Nach Auffassung der Bundesregierung liegt ein Notfall im Sinne der EG-Richtlinie immer dann vor, wenn die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung nicht sichergestellt werden kann. Mit der beabsichtigten ausdrücklichen Einführung des Begriffes „Notfälle" wird auch dies nochmal klargestellt. Für die Praxis der Gesundheitsbehörden der Länder bedeutet dies, daß Abweichungen von den Grenzwerten nur unter strikter Einhaltung der strengen Bedingungen des § 4 Abs. 1 der Trinkwasserverordnung genehmigt werden können. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rawe auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Diederich (Berlin) (SPD) (Drucksache 11/6220 Fragen 34 und 35): Trifft die Feststellung eines renommierten Fachorgans für den Amateurfunkdienst zu, daß im Zuge der zunehmenden Verkabelung allenthalben die „Hausverteilungsnetze auf einem dem Amateurfunk exklusiv zugewiesenen Frequenzband" strahlen und so in vielen Stadtbereichen der Funkbetrieb auf den beeinträchtigten Frequenzen nicht mehr möglich sei, und wie viele Beschwerden über solche Störungen gehen der Bundesregierung zu? Was wird die Bundesregierung tun, um ihren hoheitlichen Aufgaben der Frequenzkoordination und Überwachung gerecht zu werden und diese Störungen des Amateurfunkbetriebs abzustellen? Zu Frage 34: Der Frequenzbereich 144-146 MHz ist dem Amateurfunk als Primärfunkdienst zugewiesen. Die Deutsche Bundespost betreibt keine Sender im Frequenzbereich des Amateurfunks. Bei Nutzung der Amateurfunkfrequenzen in drahtgebundenen und geschirmten Versorgungsanlagen, z. B. in Breitbandverteilanlagen, kann es allerdings zu Störungen des Amateurfunks kommen. Von jedem elektrischen Gerät oder System dürfen unerwünschte elektromagnetische Abstrahlungen in einer durch die Regelungen der Funk-Entstörung vorgegebenen Höhe ausgehen. Aus technischen und wirtschaftlichen Gründen ist eine Entstörung auf den Wert „Null" nicht realisierbar. Allgemein sind alle Frequenzen mit diesen „Störsignalen" belastet, also auch die für den Amateurfunk zugewiesenen Frequenzen im Bereich 144 —146 MHz. Dies steht im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen und muß insoweit geduldet werden. Die Zahl der im obigen Sinne zu Recht bestehenden Funkamateur-Störungsmeldungen — wenn also der Grenzwert überschritten wird — ist statistisch nicht erfaßt, wird aber als gering eingeschätzt. Zu Frage 35: Soweit im Einzelfall der erlaubte Grenzwert von z. B. einer Hausverteilanlage überschritten wird, muß diese auf den Grenzwert nachgebessert werden. Es besteht aber keine Veranlassung, auf die Belegung des sogenannten Sonderkanals 6, der den Amateurfunk berührt, in den Breitbandverteilanlagen zu verzichten, was im übrigen auch aus Gründen der Programmvielfalt nicht möglich ist. Darüber hinaus hat sich auch schon die Deutsche Bundespost TELEKOM um Abhilfemaßnahmen bemüht, indem z. B. ein Frequenzversatz des beeinträchtigenden Ton- oder Bildträgers durchgeführt wurde. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rawe auf die Frage des Abgeordneten Kuhlwein (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 36) : Wie beurteilt die Bundesregierung die Verteilung der Werbezeitung der Scientology-Sekte „Der Freiheitsspiegel" im südlichen Schleswig-Holstein durch die Deutsche Bundespost im Hinblick auf die bekannten Praktiken dieser Sekte, junge und erwachsene Menschen in psychische und finanzielle Abhängigkeit zu bringen? Bei der in der Anfrage genannten Sendung handelt es sich um eine Wurfsendung, die am 8. 1. 90 beim Postamt 2070 Ahrensburg 1 zur Verteilung in Ahrens-burg und in den umliegenden Orten eingeliefert worden ist. Die Verteilung von Wurfsendungen durch die Deutsche Bundespost unterliegt dem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit. Die Deutsche Bundespost kann daher die Annahme und Verteilung nur ablehnen, wenn bestimmte gesetzlich vorgesehene Ausnahmetatbestände gegeben sind, bei deren Auswahl und Auslegung die Post zudem eine strenge Abwägung der jeweils mit dieser Ausschlußvorschrift geschützten Rechtsgüter mit den Grundrechten nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz vornehmen muß. § 13 Abs. 1 der Postordnung vom 16. Mai 1963 (BGBl. I S. 341) sieht daher einen Ausschluß von aufschriftlosen Postsendungen — und Wurfsendungen sind solche Sendungen — nur vor, wenn deren — Inhalt oder Beförderung gegen strafgesetzliche Bestimmungen verstößt oder — Außenseite oder einsehbarer Inhalt erkennbar gegen das öffentliche Wohl oder die Sittlichkeit verstößt, insbesondere, wenn sie wegen des offenen Versands anstößig wirken. Im vorliegenden Falle ist keiner der genannten Ausschlußgründe gegeben. Die Sendungen mußten deshalb bestimmungsgemäß ausgeliefert werden. 14612* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Echternach auf die Fragen des Abgeordneten Müntefering (SPD) (Drucksache 11/6220 Fragen 38 und 39): Zu welchen konkreten Ergebnissen und Beschlüssen hat das erste Treffen der Wohnungsbauminister der EG am 18. Dezember 1989 geführt, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Wohnungspolitik der Bundesregierung? Welche Informationen liegen der Bundesregierung zum Anteil von Ausländern an den Haushalten vor, die in Sozialwohnungen in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf leben, und wie ist der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung in diesen Gebieten? Zu Frage 38: Wie ich Ihnen bereits bei der Antwort auf eine entsprechende Anfrage für die Fragestunde im Dezember 1989 dargestellt habe, diente das Treffen der EGWohnungsbauminister am 18./19. Dezember in Lille einem ersten Erfahrungsaustausch über die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den Mitgliedstaaten. Dabei standen die Situation von sozialen Problemgruppen und die wohnungspolitischen Maßnahmen zugunsten dieser Gruppen im Mittelpunkt der Diskussion. Eine Harmonisierung der Wohnungspolitik auf EG-Ebene streben die EG-Mitgliedstaaten nicht an. Mit dem Treffen in Lille wollten sie vielmehr einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch auf EG-Ebene über die Wohnungspolitik einleiten. Die wohnungspolitischen Beschlüsse der Bundesregierung vom Herbst 1989 haben bei der Konferenz aufmerksame Beachtung gefunden. Zu Änderungen dieser Beschlüsse im Hinblick auf die Ergebnisse der Konferenz besteht kein Anlaß. Zu Frage 39: Über den Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung in Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf sowie über den Anteil der Ausländerhaushalte an den in diesen Gebieten mit einer Sozialwohnung versorgten Haushalten liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. Anlage 9 Antwort des Staatssekretärs Lengl auf die Fragen der Abgeordneten Frau Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU) (Drucksache 11/6220 Fragen 40 und 41) : Wie ist der Stand der Überlegungen im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in bezug auf die Förderung von Wiedereingliederungsmaßnahmen für aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschobene Frauen aus der Dritten Welt, die hier in der Prostitution tätig waren? Welche Maßnahmen zur Frauenförderung sind in der letzten Zeit in Thailand und auf den Philippinen durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit initiiert und finanziert worden? Zu Frage 40: Im BMZ wird gegenwärtig überlegt, wie die Instrumente zur Förderung der beruflichen Eingliederung und Existenzgründung von Fachkräften aus Entwicklungsländern auch für einen Personenkreis geöffnet werden können, der noch nicht über die grundsätzlich vorausgesetzte fachliche Qualifizierung verfügt. Das setzt eine entsprechende Anpassung der bestehenden Förderungsrichtlinien voraus. Ressortgespräche hierüber sollen noch im Frühjahr 1990 begonnen werden. Zu Frage 41: Es wird zur Zeit für die Philippinen geprüft, wie die Einbeziehung und Förderung von Frauen in bereits laufende TZ-Vorhaben verstärkt werden kann. Dazu wurde im August 1989 ein Prüfbericht über „Möglichkeiten der Frauenförderung in den Philippinen" erstellt. Die Ergebnisse wurden von einem interdisziplinären philippinisch-deutschen Team erarbeitet und mit den offiziellen philippinischen Stellen NEDA (National Economic Development Authority) und NCRFW (National Commission on the Role of Filipino Women) in einem kontinuierlichen Dialog abgestimmt. Das Gutachten sieht zwei Teilprojekte vor. So sollen zum einen in drei laufenden TZ-Vorhaben auf den Philippinen (Ländliches Entwicklungsvorhaben „Cebu Upland Projekt", Sonderenergieprogramm, Obstanbau in Luzon) verstärkt Maßnahmen zur Frauenförderung durchgeführt werden. In einem zweiten Teilprojekt soll die NCW (National Commission on Women), die staatliche Dachorganisation für Frauen, institutionell gestärkt werden. Hierzu soll ein Pilotprogramm für eine effektive Implementierung des philippinischen Entwicklungsplans für Frauen finanziert werden. In Thailand werden verschiedene Vorhaben durchgeführt, die Maßnahmen zur Frauenförderung beinhalten. Im Rahmen eines ländlichen TZ-Vorhabens im Nordosten Thailands (Community Based Integrated Rural Development) werden einkommensschaffende Maßnahmen für Frauen und Mädchen angeboten. Das TZ-Vorhaben zur Bergregionenentwicklung sieht die Einbeziehung von Frauen in landwirtschaftliche Beratungsmaßnahmen, Gesundheitsprogramme sowie die Durchführung einkommensschaffender Maßnahmen für Frauen vor. In dem Vorhaben zur Dorf gesundheitsentwicklung durch Parasitenkontrolle werden insbesondere auch Frauen als Zielgruppe angesprochen und in entsprechende Aus- und Beratungsmaßnahmen einbezogen. Über die Friedrich-Ebert-Stiftung fördert das BMZ ein weiters Vorhaben, das einkommens- und beschäftigungswirksame Aktivitäten von Frauen im ländlichen Raum unterstützt. In dem Vorhaben, das Ende 1987 begonnen wurde, werden Frauengruppen beim Aufbau eigener kleiner Betriebe durch technisch und betriebswirtschaftlich ausgerichtete Ausbildungs- und Beratungsmaßnahmen sowie den Aufbau eines revolvierenden Kreditfonds unterstützt. Es wird erwartet, daß diese Projekte dazu beitragen, den wirtschaftlichen Druck zu verringern, der Frauen vielfach zur Prostitution zwingt. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 14613* Anlage 10 Antwort des Staatssekretärs Lengl auf die Fragen der Abgeordneten Frau Männle (CDU/CSU) (Drucksache 11/6220 Fragen 42 und 43): Sind mittels der Titelgruppe 02 des Einzelplans 23 des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit „Förderung von Entwicklungsländern durch Maßnahmen der Reintegration oder zur Verbesserung der Beschäftigungslage in diesen Ländern" Förderungsmöglichkeiten von Kurzausbildungsprogrammen zur Wiedereingliederung für solche Frauen aus der Dritten Welt gegeben, die in der Bundesrepublik Deutschland der Prostitution nachgegangen sind? Wie wird im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit die in der Frauenförderrichtlinie enthaltene Zusage umgesetzt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses für die Bedeutung der Frauenförderung in der Dritten Welt zu sensibilisieren? Zu Frage 42: Die Förderungsmaßnahmen der Titel 02 stehen gegenwärtig nur Personen offen, die in der Bundesrepublik Deutschland aus- und fortgebildet worden sind (Ausbildungsabsolventen) und/oder eine nachgewiesene mehrjährige Arbeits- und Berufserfahrung erworben haben. Bereits bei der Antwort auf Frage 40 habe ich darauf hingewiesen, daß gegenwärtig überlegt wird, die Förderungsrichtlinien zu überprüfen. Zu Frage 43: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit bietet Fortbildungsmaßnahmen für Mitarbeiter/-innen zum Thema „Förderung von Frauen in Entwicklungsländern" an. Ein solches Seminar wurde erstmalig 1988 durchgeführt. Da durch die Verpflichtung von zwei externen Referentinnen die knapp bemessenen Haushaltsmittel für die allgemeine Fortbildung (außerhalb der Informationstechnologie-Fortbildung) über die Hälfte in Anspruch genommen wurden (ca. 6 000 DM pro Seminar), konnte 1988 und 1989 jeweils nur eine Veranstaltung durchgeführt werden. Für 1990 wurde bei der Bundesakademie beantragt, zwei Seminare in deren Jahresarbeitungsprogramm als geschlossene Veranstaltung für Mitarbeiter/ -innen des BMZ aufzunehmen und zu finanzieren. Diesem Antrag wurde nicht entsprochen. Bei der Bedarfsmeldung für den Haushalt 1990 wurden durch das BMZ im Hinblick auf die dringend erforderliche Fortbildung zur Einführung der Informationstechnologie, aber auch u. a. wegen der beabsichtigten Veranstaltung von zwei Seminaren zur Frauenförderung insgesamt 260 000 DM beantragt. Davon sollten ca. 20 000 DM für die allgemeine Fortbildung verwandt werden. Durch erhebliche Kürzung dieses Betrages um 95 000 DM wird auch 1990 nur ein Seminar zur Frauenförderung für ca. 20 Personen durchgeführt werden können. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit hat das BMZ eine Materialie zur „Förderung von Frauen in Entwicklungsländern" in Auftrag gegeben, die auch der Sensibilisierung der Mitarbeiter/-innen dienen soll. Anlage 11 Antwort der Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf die Fragen des Abgeordneten Conradi (SPD) (Drucksache 11/6220 Fragen 49 und 50): Wie beurteilt die Bundesregierung die völkerrechtswidrigen Aktionen der US-Regierung in Panama, und wie hat sie in den Vereinten Nationen dazu abgestimmt? Auf welche Weise hat die Bundesregierung ihre Meinung zu den völkerrechtswidrigen Gewaltmaßnahmen der USA in Panama geäußert? Zu Frage 49: Gemeinsam mit ihren europäischen Partnern hat die Bundesregierung auf dem Pariser Ministertreffen am 22. Dezember 1989 ihre tiefe Sorge über die Verluste an Menschenleben in Panama geäußert und den Wunsch zum Ausdruck gebracht, daß der Friede in diesem Lande und die persönliche Sicherheit seiner Bürger wiederhergestellt werden, so daß die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen und demokratischen Ordnung gewährleistet werden kann. Die Bundesregierung bedauert die Entwicklung in Panama, die der Endpunkt einer schwerwiegenden und planmäßigen Zerstörung der Demokratie war. Nach der Annullierung der Wahlen vom 7. Mai 1989, die eine grobe Mißachtung des demokratischen Volkswillens bedeutete, hatte die Bundesregierung zusammen mit ihren europäischen Partnern das Nonega-Regime wiederholt aufgefordert, den Weg zum inneren Frieden und zur Demokratie freizumachen. Die Bundesregierung hat — wie fast alle EG-Partner — in der Generalversammlung der Vereinten Nationen den von Nicaragua und Kuba eingebrachten Resolutionsentwurf nicht unterstützen können, weil er einseitig formuliert war und wichtige Aspekte der Entwicklung der Krise in Panama außer acht ließ. Zu Frage 50: Die Bundesregierung hat sich entsprechend der zu Frage 1 gegebenen Antwort öffentlich geäußert. Anlage 12 Antwort der Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf die Frage des Abgeordneten Stiegler (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 52): Was unternimmt die Bundesregierung, um das Personal der Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Polen und in den anderen Reformstaaten so aufzustocken, daß der enorme zusätzliche Arbeitsanfall produktiv bewältigt werden kann? Das Personal der Botschaften in Warschau, Prag und Budapest ist durch Zuweisung von Stellen aus den Haushalten 1989 und 1990 und dem Nachtragshaushalt 1989 verstärkt worden. Eine weitere Entlastung werden diese Auslandsvertretungen durch die für Mitte dieses Jahres vorgesehenen Eröffnungen der Generalkonsulate in Krakau und Fünfkirchen erfahren. Auch unsere Auslandsvertretungen in der Sowjetunion, die insbesondere im Aussiedler- und Sichtvermerksbereich immer stärker unter Druck gerieten, 14614* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 wurden personell verstärkt. Außerdem wurde Mitte letzten Jahres das Generalkonsulat in Kiew eröffnet. Angesichts der erweiterten Anforderungen in Osteuropa bleibt die Bundesregierung bemüht, diese Auslandsvertretungen personell und technisch so auszurüsten, daß sie ihren Aufgaben gerecht werden können. Anlage 13 Antwort der Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf die Frage des Abgeordneten Gansel (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 54): Trifft es zu, daß auch nach der jüngsten Verurteilung des U-Boot-Geschäfts mit Südafrika durch die Vereinten Nationen das Auswärtige Amt den Eintritt einer „erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland" verneint hat, und wer trägt im Auswärtigen Amt dafür die Verantwortung, daß zum wiederholten Male durch sogenannte Gutachten des Auswärtigen Amtes gegenüber der Staatsanwaltschaft Kiel versucht worden ist, die Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen wegen der rechtswidrigen Lieferung von Konstruktionsunterlagen für den U-Boot-Bau nach Südafrika zu verhindern? Es trifft zu, daß das AA mit Schreiben vom 15. Dezember 1989, gerichtet an die Staatsanwaltschaft Kiel in Beantwortung einer entsprechenden Anfrage der Staatsanwaltschaft, das Vorliegen einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes verneint hat. Diese Bewertung beruht auf einer sorgfältigen Prüfung, an der alle zuständigen Stellen des Auswärtigen Amtes beteiligt wurden. Die in ihrer Frage enthaltene Unterstellung, hiermit sei versucht worden, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu verhindern, weise ich entschieden zurück. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des Abgeordneten Hiller (Lübeck) (SPD) (Drucksache 11/6220 Fragen 55 und 56): Wie erklärt die Bundesregierung die Tatsache, daß in Kapitel 06 40 der Titel 684 06-246 Förderung der Erhaltung und Auswertung des kulturellen Heimaterbes der Heimatvertriebenen sowie der kulturellen Bestrebungen der Flüchtlinge (§ 96 BVFG) in den Jahren 1983 bis 1989 von 4,359 Mio. DM auf 17,594 Mio. DM gestiegen ist und im Jahre 1990 noch einmal auf 20,424 Mio. DM steigen soll, was einer unverhältnismäßig hohen Steigerung um 368,55 % in sieben Jahren oder einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung von 52,65 % entspricht, während im gleichen Zeitraum der Bundeshaushalt von 188,3731 Mrd. DM auf 242,9729 Mrd. DM (Entwurf 1990) gestiegen ist, was einer Steigerung von 28,99 % oder einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung von 4,14 % entspricht? Wieviel Prozent hat der Bund der Vertriebenen in der Vergangenheit von der Projektförderung erhalten, die 1987 knapp 2 Mio. DM (Kapitel 06 40 Titel 684 05-246) erreichte, 1989 waren das 14 839 000 DM und nun liegt sie bei 39 042 000 DM, und für welche konkreten Projekte hat er bisher Gelder bekommen? Zu Frage 55: Die Steigerung der ostdeutschen Kulturmittel erklärt sich aus der Tatsache, daß sich die Bundesregierung mit Unterstützung des Deutschen Bundestages darum bemüht haben, für die ostdeutschen Kulturaktivitäten ähnliche Rahmenbedingungen zu schaffen, wie sie für die übrige Kulturarbeit in der Bundesrepublik Deutschland seit langem bestehen. Es geht hierbei schließlich um die Erhaltung und Vermittlung des über Jahrhunderte gewachsenen ostdeutschen Anteils an der gesamten deutschen und auch europäischen Geschichts- und Kulturentwicklung und um eine kulturelle Vielfalt, die vor Flucht und Vertreibung von über 17 Millionen Deutschen getragen war. Darüber hinaus trägt die ostdeutsche Kulturarbeit dazu bei, die Kenntnisse über die verbindenden Elemente unserer Geschichts- und Kulturentwicklung mit der unserer östlichen Nachbarvölker zu vertiefen. Im übrigen weise ich darauf hin, daß im Mittelzuwachs 1989 0,5 Millionen DM und 1990 1,0 Millionen DM für die kulturelle Integration der Aussiedler enthalten sind. Welche Maßnahmen im einzelnen bis 1993 notwendig sind, ist in dem Aktionsprogramm des Bundesministeriums des Innern zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit dargelegt, das der Deutsche Bundestag zusammen mit dem genannten Bericht über die ostdeutsche Kulturarbeit in den Jahren 1984 und 1985 ebenfalls zustimmend zu Kenntnis genommen hat. Das Aktionsprogramm baut seinerseits auf den Überlegungen der Grundsatzkonzeption zur Weiterführung der ostdeutschen Kulturarbeit von 1982 auf. Zu Frage 56: Der Bund der Vertriebenen e. V. (BdV) ist wie folgt mit Projektmitteln des BMI aus Kap. 0640 Tit. 684 05 gefördert worden: 1987 0 v. H. 1988 52 600,— DM 2,1 v. H. 1989 240 728,— DM 1,6 v. H. Für 1990 steht die Mittelverteilung gegenüber dem BdV noch nicht fest, weil die Projektmaßnahmen noch nicht endgültig vereinbart sind. Diese Mittel sind zweckgebunden für die Durchführung von Eingliederungsseminaren für Aus- und Übersiedler, die insbesondere von den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, den zentralen Vertriebenen- und Flüchtlingsverbänden, den kirchlichen Institutionen, sowie sonstigen zentralen Organisationen wahrgenommen werden. Anlage 15 Antwort Parl. Staatssekretär Spranger auf die Frage des Abgeordneten Dr. Müller (CDU/CSU) (Drucksache 11/6220 Frage 57): Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 14615* Wie hoch ist nach Erkenntnis der Bundesregierung der Betrag von Waffenkäufen zugunsten der Guerillabewegung in El Salvador, der in der Bundesrepublik Deutschland aufgebracht wurde, und in welchem Umfang hat nach Erkenntnis der Bundesregierung das Unternehmen, das in der DDR von dem ehemaligen Staatssekretär Schalck-Golodkowski geleitet wurde, Waffen mit Mitteln aus der Bundesrepublik Deutschland an die Guerillabewegung verkauft? Nach Veröffentlichungen in der „taz" ( „die tageszeitung") wird von Mitarbeitern dieser Zeitung ein Spendenkonto „Waffen für El Salvador" verwaltet. Über die Herkunft der einzelnen Spenden ist der Bundesregierung nichts bekannt. Über den Kontostand des Spendenkontos wurde in verschiedenen Veröffentlichungen die folgenden Zahlen angegeben: 15. 09. 1988: 4 108 311,74 DM und 28. 11. 1989: 4 281 396,10 DM. Weitere Einzelheiten zu dem von der Frage angesprochenen Sachverhalt sind der Bundesregierung nicht bekannt. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Frage des Abgeordneten Stiegler (SPD) (Drucksache 11/6220 Frage 58): Was unternimmt die Bundesregierung, auch in Form finanzieller Angebote, um an der Grenze zur CSSR die Möglichkeit der Eröffnung weiterer Grenzübergänge, insbesondere auch des Ausbaus des Eisenbahnübergangs in Bayerisch Eisenstein, voranzubringen, und bis wann wird mit Ergebnissen gerechnet? Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck für die Eröffnung weiterer Grenzübergänge an der Grenze zur CSSR ein. Diese Bemühungen schließen den in der Frage angesprochenen Ausbau des Eisenbahnüberganges in Bayerisch Eisenstein ein. Anfang Februar 1990 werden die bereits im vergangenen Jahr begonnenen Expertengespräche über alle damit zusammenhängenden Fragen fortgesetzt. Im Hinblick auf die großen politischen Veränderungen in der CSSR ist die Bundesregierung zuversichtlich, daß bald mit Ergebnissen gerechnet werden kann.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118800000
Die Sitzung ist eröffnet.

(Die Abgeordneten erheben sich)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zunächst noch einmal daran erinnern, daß am 31. Dezember 1989 im Alter von 79 Jahren unser ehemaliger Kollege Bundesminister a. D. Dr. Schröder verstorben ist. Am vergangenen Freitag wurden in einem Staatsakt die Verdienste Schröders um unseren demokratischen Staat gewürdigt.
Wenige Tage nach Vollendung seines 57. Lebensjahres erlag am 18. Dezember 1989 unser Kollege Heinrich Klein einem schweren Leiden. Heinrich Klein vertrat im Bundestag den Kreis Dieburg, seinen Heimatort. Dort, in Hergershausen, wurde er am 13. Dezember 1932 geboren. Im Jahre 1976 wurde er für die SPD in den Bundestag gewählt.
Er setzte sich als Mitglied und bald als stellvertretender Vorsitzender des Sportausschusses besonders für den Breitensport und die Förderung der Sportjugend ein. In den Aktivitäten der Sportvereine sah er auch ein hervorragendes Mittel, DDR-Flüchtlingen die Eingliederung bei uns zu erleichtern.
Den Verfolgten und Bedrängten, den Opfern des Nationalsozialismus und den politischen Flüchtlingen und Asylanten galt stets sein besonderer fürsorgender Einsatz.
Wir haben einen engagierten Kollegen verloren, und viele Bürger und Bürgerinnen, die seine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit erfuhren, trauern mit uns.
Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen.
Herr Kollege Brandt feierte am 18. Dezember 1989 seinen 76. Geburtstag und Herr Kollege Dr.-Ing. Laermann am 26. Dezember 1989 seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.

(Beifall)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Die Haltung der Bundesregierung zur US-Invasion in Panama (In der 187. Sitzung bereits erledigt)

2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats — Drucksache 11/6241 —
3. Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft: Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" Wirtschaftsjahr 1988 — Drucksache 11/6186 —
4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bericht der Bundesregierung über die Verhandlungen mit der DDR — Drucksache 11/6214 —
5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Deutschlandpolitik der Bundesregierung — Drucksache 11/6231 —
6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten — Drucksache 11/6236 —
7. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Garantie der polnischen Westgrenze — Drucksache 11/6237 —
8. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens — Drucksache 11/6250 —
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/6242, 11/6243, 11/6244 und 11/6249 zu erweitern.
Darüber hinaus soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden, soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Erfolgen der Gesundheitsreform
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6240 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6248 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung drei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.



Präsidentin Dr. Süssmuth
Ich erteile das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1118800100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr, am 1. Januar 1989, ist die Gesundheitsreform in Kraft getreten. Das ist Anlaß für eine Zwischenbilanz. Die Gesundheitsreform war notwendig. Sie ist die erste Reform der Krankenversicherung seit Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung im Dezember 1914. Unser Krankenversicherungsrecht hat seit seiner Neubekanntmachung im Jahre 1924 insgesamt 281 Novellierungen und punktuelle Änderungen erfahren, aber keine grundlegende Überarbeitung. Reformen wurden mehrfach angekündigt, doch es fehlten Mut und Kraft zur Durchsetzung.
Ohne Reform wäre unsere Krankenversicherung zusammengebrochen. Eine Verstaatlichung unseres freiheitlichen Gesundheitssystems wäre die Folge gewesen. Ohne Reform wären die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung ins unerträgliche gestiegen. Die Reform ist die Rettung der Beitragszahler vor Überlastung.
Unser Gesundheitssystem kennt nicht nur Überversorgung und Verschwendung, sondern auch Unterversorgung und Not. Wer Not und Unterversorgung beseitigen will, muß Überversorgung und Verschwendung den Kampf ansagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Sozialstaat braucht ein neues Gleichgewicht, ein Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung und Solidarität. Wer die Solidarität nicht durch Eigenverantwortung entlastet, der entzieht der Solidarität die Kraft, um denen solidarisch beizustehen, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Wer den medizinischen Fortschritt bezahlen, wer Leben retten und verlängern will, der muß bereit sein, Einschränkungen bei den nicht unbedingt notwendigen Gesundheitsleistungen hinzunehmen. Denn wer alles, was gesundheitlich wünschbar ist, auf Krankenschein finanzieren will, dem fehlt das Geld, um den Schwerkranken, den Herzpatienten, den Krebspatienten, den Dialysepatienten, den Schwerpflegebedürftigen zu helfen.
Die Krankenversicherung hat durch die Gesundheitsreform neue Instrumente erhalten, um ihren Solidarauftrag zu erfüllen. Mit dem Instrument des Festbetrags sichert die Gesundheitsreform beispielsweise die notwendige medizinische Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln auf marktwirtschaftlicher Grundlage ohne Preisdirigismus, und endlich kommt die Nachfragemacht der Krankenkassen zum Zuge.
Neuland erschließen wir auch mit dem Modell der Beitragsrückgewähr, mit der ein wirtschaftliches Interesse an der sinnvollen Inanspruchnahme der Kassenleistung durch die Versicherten eingeführt wird. Der Wunsch der Versicherten, die Kosten, die sie verursachen, zu kennen, erhält durch die Beitragsrückgewähr erstmals ein Stimulans aus Eigeninteresse. Kostenkenntnis und Transparenz steuern gegen anonymes Ausnutzen unserer Sozialkassen.
Meine Damen und Herren, der erste und der größte Erfolg unserer Gesundheitsreform nach einem Jahr ist die Beitragsentlastung von Millionen von Versicherten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gewinner der Gesundheitsreform sind die Beitragszahler, denn der durchschnittliche Beitragssatz ist Anfang 1989 mit 12,9 % nicht nur erstmals seit vielen, vielen Jahren stabil geblieben, er ist zum Jahresbeginn 1990 um 0,1 % sogar gesunken. Während die Ausgaben von 1984 bis 1988 um durchschnittlich 5,8 %, also fast 6 %, jährlich stiegen — Jahr für Jahr stiegen sie um fast 6 %! —, sind sie 1989 erstmals in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung um rund 3 % gesunken. Das sind gut 4 Milliarden DM weniger Ausgaben. Durch die günstige Entwicklung der Wirtschaft stiegen die Beitragseinnahmen auf der anderen Seite um weitere 4 Milliarden DM. Die Krankenkassen werden also 1989 einen Einnahmeüberschuß von 8 Milliarden bis 10 Milliarden DM erhalten. Das ist nicht ein Erfolg mit Worten, das ist ein handfester Erfolg für Millionen von Arbeitnehmern, Handwerksmeistern, Arbeitgebern, die von weiteren Beitragssteigerungen befreit wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

8 Milliarden bis 10 Milliarden DM Einnahmeüberschuß, das ist mehr, als der Bund an Arbeitslosenhilfe ausgibt, mehr als die Gesamtaufwendungen des Bundes für Straßenbau, mehr als der Gesamthaushalt des Forschungsministers, etwa das Doppelte dessen, was wir für Erziehungsgeld ausgeben, dasselbe etwa wie das, was wir für Kriegsopferversorgung aufwenden.
Zum 1. Januar 1990, meine Damen und Herren, konnten deshalb 81 Ortskrankenkassen ihre Beiträge bis zu 1,1 Prozentpunkte senken, 136 Betriebskrankenkassen konnten die Beiträge um 0,3 bis 2,4 Prozentpunkte senken, 74 Innungskrankenkassen konnten die Beiträge bis zu 1,6 Prozentpunkten senken. 4 Ersatzkassen haben ihre Beiträge um bis zu 0,9 Prozentpunkte gesenkt. Zu Beginn dieses Jahres konnten sich die Mitglieder von 295 Krankenkassen über niedrigere Beiträge freuen. Das betrifft 4,8 Millionen Beitragszahler. Für die nächsten Monate wurden von zahlreichen Kassen weitere Beitragssenkungen angekündigt, die noch einmal 5,9 Millionen Beitragszahler entlasten werden.
Hinzu kommt — worüber ja viel zuwenig gesprochen wird — , daß auch die Rentner an der Gesundheitsreform partizipieren: eine Entlastung bei 15 Millionen Renten. Denn erstmals seit Jahren erhalten die Rentner zum 1. Juli 1990 eine volle Rentenanpassung, die sich durch die Erfolge der Gesundheitsreform sogar noch etwas erhöht. Früher wurden die Rentenerhöhungen fast jedes Jahr durch die höheren Krankenversicherungsbeiträge gekürzt. Jetzt kommt die Rentenerhöhung dank Gesundheitsreform den Rentnern ungeschmälert zugute.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Durch den von 12,9 auf 12,8 % gesunkenen Beitragssatz erhalten die Rentner allein von Mitte 1990 bis 1991 rund 100 Millionen DM mehr auf die Hand. Ohne die Reform hätten sie 700 Millionen DM weni-



Bundesminister Dr. Blüm
ger in der Tasche. Auch das ist ein Erfolg der Gesundheitsreform.
Beitragssatzsenkungen haben bisher noch nicht alle Kassen vorgenommen. Sie entlasten daher noch nicht alle Beitragszahler. Unabhängig von der Gesundheitsreform — auch darauf muß aufmerksam gemacht werden — kommt es wegen der Dynamik der Beitragsbemessungsgrenze in den betreffenden Einkommensgruppen zu Beitragserhöhungen. Das hat aber mit der Gesundheitsreform nichts zu tun. Ohne Gesundheitsreform wäre diese Beitragserhöhung in diesem Einkommensbereich noch höher.
Das wahre Ausmaß der Entlastung der Beitragszahler durch die Gesundheitsreform wird allerdings nicht durch den Vergleich mit den Zuständen von gestern deutlich. Das wahre Ausmaß, das wir geleistet haben, kommt erst zum Vorschein, wenn man die Entlastung in Beziehung zur Belastungssteigerung setzt, die ohne Reform notwendig gewesen wäre.
Was wäre erst ohne Reform gewesen? Ohne Reform wäre der Beitragssatz 1989 auf 13,5 % und 1990 auf 14 % gelandet. Anfang 1990 ist er auf 12,8 % gesunken. Er wäre ohne Reform auf 14 % gelandet! Ohne Reform hätten die Beitragszahler 1989 rund 5,2 Milliarden und 1990 12,5 Milliarden DM mehr zahlen müssen. Das macht einen Unterschied zum jetzigen Zustand von insgesamt 17,7 Milliarden DM aus.
Die Entlastung kann man sich einmal hochrechnen, die durch die Gesundheitsreform ausgelöst wird. Ich sagte: 1991 17,25 Milliarden DM, 1992 21,7 Milliarden DM, 1993 26,6 Milliarden DM und 1994 30 Milliarden DM. Insgesamt summiert sich der Entlastungsbeitrag für die Beitragszahler auf 115 Milliarden DM. Das entspricht etwa den Bruttoinlandsprodukten von Portugal und Griechenland zusammen

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

oder den kompletten Haushalten des Arbeits- und Verteidigungsministeriums im Jahre 1990. Hochgerechnet, Herr Kollege Egert, auf das Jahr 2000, wird die Entlastung mehr ausmachen als der gesamte Bundeshaushalt 1990 mit 300 Milliarden DM.
Ja, in der Tat, man muß doch einmal rechnen: Was wäre gewesen, wenn diese Reform nicht gekommen wäre?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dann hätten wir nicht nur die Reform jetzt, sondern dann wäre die Beitragslawine weitergegangen, und sie hätte alle verschüttet. Einem Durchschnittsverdiener mit 3 500 DM brutto brachte die Gesundheitsreform schon 1989 eine Entlastung von rund 120 DM. Dieses Jahr bringt sie ihm eine Entlastung von rund 300 DM. Durchschnittsverdiener sind nicht Millionäre, es sind Millionen von Arbeitnehmern. Sie haben in diesem Jahr Monat für Monat 25 DM mehr, als sie ohne Gesundheitsreform gehabt hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Diese 300 DM übertreffen viele Zuzahlungen, wie z. B. 1,25 DM mehr für eine Massage. Die Beitragsentlastung ist höher als manche Zuzahlung. Ohne Gesundheitsreform müßte ein Durchschnittsverdiener bereits Mitte der 90er Jahre Monat für Monat 150 DM, insgesamt 1 800 DM, mehr an seine Kasse abführen. Das ist die schleichende Selbstbeteiligung durch steigende Beiträge. Sie haben gar nicht gemerkt, daß Beiträge auch Selbstbeteiligung sind. Es ist die krasseste Form der Selbstbeteiligung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist die klammheimliche, indirekte — durch die Hintertür — Selbstbeteiligung. Die haben Sie Jahr für Jahr losgetreten.
Die Beitragszahler waren lange Zeit die großen Verlierer. Wegen der Feigheit vor der Reform in den 70er Jahren muß der Durchschnittsverdiener mit einem Monatseinkommen von 3 500 DM brutto durch Beitragserhöhungen heute rund 5 % seines Einkommens mehr an die Krankenkasse abführen, als wenn die Reform schon damals durchgeführt worden wäre.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

5 % hätte er sich sparen können, wenn Norbert Blüm früher gekommen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU) Diese 5 % sind der SPD-Malus.

Die dramatisch gestiegenen Beiträge belasten den Durchschnittsverdiener — das kann ich auch noch in Mark und Pfennig sagen — mit 2 100 DM im Jahr. Das Abkassieren von Löhnen war darin eingebaut. Von dieser stärkeren Selbstbeteiligung durch jährliche Beitragssteigerung hat bisher niemand gesprochen. Das war die schleichende Enteignung der Arbeitnehmer. Ihre Löhne wurden sozialisiert.
Mein Appell auch an die Gewerkschaften: Durch diese Beitragssteigerung ist ein Teil ihrer Lohnerfolge in den Tarifverhandlungen ins Nichts verlaufen.
Die Gesundheitsreform ermöglicht auch die Erprobung von Beitragsrückzahlungen. Auch hier wird es einen Gewinn geben. Mehrere Betriebskrankenkassen mit mehr als 40 000 Mitgliedern haben schon für dieses Jahr die Beitragsrückzahlung eingeführt. Mitglieder, die keine oder nur geringe Leistungen in Anspruch genommen haben, können bis zu 580 DM zurückerhalten.
Entlastet werden die Patienten auch durch die Festbeträge. Für Millionen von Patienten entfällt seit September die Rezeptgebühr von 3 DM. Diejenigen, die bisher 3 DM Rezeptgebühr zahlen mußten, müssen jetzt Null DM bezahlen. Wer spricht eigentlich von der Entlastung, einer Entlastung für diejenigen, die Arzneimittel in Anspruch nehmen müssen? Es sind inzwischen 1 849 Arzneimittel, die vom Festbetrag abgedeckt werden und für die keine 3 DM bezahlt werden müssen.
Der Festbetrag hat zu bisher unbekannten Preissenkungen der Pharmaindustrie geführt. Meine Damen und Herren, darauf bin ich richtig stolz. Das hätten Sie doch wohl selber nicht geglaubt. Die Firma Bayer hat ihre 100er Packung Adalat von 72,90 DM auf 49,95 DM gesenkt. Das sind 31,5 %.

(Frau Wilms-Kegel [GRÜNE]: Und welche Preise hat sie erhöht?)

Ciba-Geigy hat die 50er Packung Voltaren von
44,59 DM auf 29,10 DM gesenkt. Das ist eine Preis-



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senkung von 34,7 %. Hoechst-Böhringer hat die 100er Packung Euglucon von 39,40 DM auf 27,65 DM gesenkt. Das ist eine Preissenkung von 29,8 %.
Kommentar der Ärztezeitung, über jeden Verdacht erhaben, mir nahezustehen:
Der Bundesarbeitsminister hat recht behalten. Mit Festbeträgen geht alles genausogut, nur sehr viel billiger.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich frage Sie: Wann ist die Pharmaindustrie je unter mehr Preisdruck geraten als durch unsere Reform? Und außerhalb der Regierungserklärung: Wer, meine Damen und Herren, hat die großen Pharmakolosse je mehr in Trab gebracht als der kleine Norbert Blüm?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Gewinner sind auch die Versicherten, die neue Leistungen und Leistungsausweitungen in Anspruch nehmen können. Das sind bei Erreichen des Gesamtausbaus 5 Milliarden DM für die häusliche Pflege und 1 Milliarde DM für die Gesundheitsvorsorge. Für 630 000 Schwerpflegebedürftige und ihre Helfer bieten wir Verbesserungen an, seit Januar 1989 einen Pflegeurlaub und ab Beginn des nächsten Jahres Pflegegeld oder häusliche Pflegeleistungen. 1989 wurden insgesamt 98 000 Anträge auf Pflegeurlaub gestellt; ich hatte mal mit 100 000 gerechnet. Von den bisher 82 320 Anträgen wurden 14 % wegen fehlender Vorversicherungszeit, rund 11 000, und 15 % wegen fehlender Schwerpflegebedürftigkeit — das sind 10 620 — abgelehnt. 60 180 stille Samariter haben für ihren Pflegeurlaub erstmals eine finanzielle Hilfe, eine Ersatzperson bekommen. Das ist für 60 000 Menschen eine Verbesserung ihrer Lage. Das sind gerade diejenigen, die am meisten für den Nächsten tun: die pflegende Mutter, der pflegende Vater, die Tochter, der Sohn, sie können Pflegeurlaub machen.
Wir sind noch nicht am Ziel; das ist im Ausbau, das ist der erste Schritt, aber es ist eine spürbare Hilfe für die, die der Hilfe bedürfen. Ich habe die Krankenkassen ermuntert, zwar die Grenzen der Leistungspflicht zu beachten, aber das Angebot nicht kleinlich zu handhaben und von den Anspruchsberechtigten nicht unzumutbare bürokratische Nachweise zu verlangen. Ich bin sicher, daß deshalb die Zahl der Anträge wie der Bewilligung im weiteren Verlauf dieses Jahres stark steigen wird, denn jedes neue Angebot braucht seine Zeit, bis es bei denen, für die es gedacht ist, bekanntgeworden ist und das Verfahren sich eingespielt hat.
Mit dem Ausbau der Gesundheitsvorsorge stärken wir die Eigenverantwortung der Versicherten. Alle über 35 Jahre alten Versicherten — das sind 24,6 Millionen — haben durch die Gesundheitsreform einen Rechtsanspruch auf einen regelmäßigen Gesundheits-Check-up — seit dem 1. Oktober ist es endlich soweit — , und dafür stehen 200 Millionen DM bereit. Rund 6 Millionen Kinder profitieren von der neuen Verpflichtung der Krankenkassen, zusammen mit den Bundesländern eine flächendeckende Gruppenprophylaxe zur Verhütung von Zahnkrankheiten mitzufinanzieren. Das bedeutet für die Krankenkassen 200 Millionen DM Mehrausgaben.
Sie sehen, wir haben nicht nur gespart, sondern das Sinnvolle besser finanziert. Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren können jetzt einmal im Jahr auf Kosten der Krankenkasse zahnärztliche Prophylaxe betreiben. Fast 600 000 Kinder können jetzt Jahr für Jahr durch eine weitere Vorsorgeuntersuchung etwa ein Jahr vor der Einschulung auf Seh-, Hör- und Sprachfehler, Haltungsfehler und Übergewicht untersucht werden. Jahr für Jahr erhalten jetzt fast 600 000 Mütter bei der Geburt eines Kindes bei allen Kassen ein auf den Höchstsatz aufgestocktes Entbindungsgeld von 150 DM. Behinderte Kinder erhalten jetzt endlich eine von den Krankenkassen finanzierte Behandlung in Spezialeinrichtungen, den Sozialpädiatrischen Zentren. Davon haben Sie in der ganzen aufgeregten Debatte über die Gesundheitsreform fast kein Wort gehört, daß wir den Schwerstpflegebedürftigen mehr Leistungen anbieten, daß wir die Vorsorge ausbauen, damit auch der Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit eine neue Bahn, neue Chancen und Aufgaben eröffnen.
Der dritte Erfolg liegt bei der Selbstverwaltung. Gewinner sind die Krankenkassen. Sie erhalten mehr Gestaltungsrechte im Gesundheitssystem als je zuvor. Das entspricht auch unserer Philosophie: Nicht alles durch den Staat.
Die Gesundheitsreform ermöglicht es den Krankenkassen, Festbeträge festzulegen; die Erfolge im Arzneimittelbereich habe ich gerade erwähnt. Wir sind keineswegs am Ende der Festbeträge angelangt — es ist gerade erst ein Jahr her —, weitere Schritte müssen folgen. Ich mahne auch mit Nachdruck, diese weiteren Schritte jetzt vorzunehmen, um Kompensation und Ausweichmöglichkeiten zu verhindern. Je schneller der Festbetrag vorwärtskommt, um so weniger ist Ausweichen möglich.
Das Instrument des Festbetrags erweist seine Nützlichkeit weit über den Bereich der Arzneimittel hinaus. So zahlen die Kassen mittlerweile in fast allen Bundesländern Festbeträge für Hörgeräte, die meist gut 20 % unter den bisherigen Vertragspreisen liegen — mit der Folge, daß die Anbieter ihre Preise drastisch senken. In Hamburg liefert ein wettbewerbsbereiter Hörgeräteakustiker das durchschnittliche Hörgerät sogar um 30 % günstiger: statt für bisher 1 250 DM jetzt zum Preis von 875 DM. Was haben Sie eigentlich dagegen, daß die Hörgeschädigten ein billigeres Hörgerät bekommen — so daß die Krankenkassen weniger zahlen —, ein preiswerteres, das qualitativ mindestens genauso gut ist, denn die Garantiezeiten sind trotz Preissenkung verlängert worden. Im übrigen: Jeder Brillenträger konnte feststellen, daß mit dem Inkrafttreten der Gesundheitskostenreform plötzlich fast über Nacht zahlreiche modische Brillengestelle für den neuen Erstattungsbetrag von 20 DM zu haben sind.
Selbst bei Rollstühlen ist der Preiswettbewerb in Gang gekommen, und zwar noch bevor die ersten Festbeträge in Kraft getreten sind. Anfang des Jahres hat die Barmer Ersatzkasse mit dem Rehabilitationsfachhändler PRO REHA einen bundesweit geltenden Vertrag abgeschlossen, der erhebliche Senkungen gegenüber den vom Hersteller empfohlenen Preisen vorsieht: bei Elektrorollstühlen um 25 % und bei Stan-



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dardrollstühlen sogar um bis zu 40 %. Es handelt sich um Qualitätsrollstühle. Die Qualität ist nicht gesenkt worden.
Welcher Spielraum auf einmal für Preissenkungen entstehen kann, zeigt sich am Beispiel der Hörgerätebatterien. Deutsche Krankenkassen mußten bisher 4 DM für die übliche Hörgerätebatterie ausgeben. Für den britischen Gesundheitsdienst liefert der europäische Lieferant dieselbe Batterie für 35 Pfennige. Die Herausnahme dieser Batterie, für die die Krankenkasse bisher 4 DM gezahlt hat, führte dazu, daß sie plötzlich für 99 Pfennige angeboten wird. So ist das mit der Marktwirtschaft. Und so ist es, wenn die Anonymität überhaupt keinen Wettbewerbsdruck auslöst.
Die Gesundheitsreform gibt den Krankenkassen grünes Licht für Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit ihrer Versicherten. Der Kreativität werden keine Grenzen gesetzt.
Die Gesundheitsreform ermöglicht es den Krankenkassen, Versorgungsverträge mit unwirtschaftlichen Krankenhäusern zu kündigen. Auch hier sind bereits erste Erfolge eingetreten. Vier Häusern wurde schon gekündigt. Eine Kündigung ist wirksam. Die zweite bedarf noch der Zustimmung des Hamburger Senats. Rund 20 weiteren Häusern steht die Kündigung ins Haus.
Die Gesundheitsreform ermöglicht den Krankenkassen die Errichtung eines Medizinischen Dienstes in eigener Regie. Ihn gibt es mittlerweile in allen elf Bundesländern. Neben den Aufgaben des bisherigen Vertrauensärztlichen Dienstes stellt er den Kassen vor allem medizinischen Sachverstand zur Seite, der gerade dann erforderlich ist, wenn beispielsweise mit den Krankenhäusern über Pflegesätze, Fehlbelegung oder Verweildauerverkürzung verhandelt wird.
Die Krankenkassen haben mehr Mitsprache bei der Anschaffung und Plazierung neuer medizinischer Geräte erhalten, deren Verteilung offenbar nicht immer unter gesundheitspolitischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll war.
Neu für die Krankenkassen ist auch der Prüfdienst der Krankenversicherung. Denn auch die Krankenversicherung muß selber in ihrer Verwaltung zur Sparsamkeit beitragen. Es gibt da überhaupt keine Tabus. Er hilft ihnen, Wirtschaftlichkeitsreserven im eigenen Unternehmen aufzuspüren. Denn offenbar gibt es hier Spielräume. Das zeigt, daß es bei den Verwaltungsposten der Krankenkassen riesige Unterschiede gibt: von 30 DM pro Mitglied bis 200 DM pro Mitglied. Sparsamkeit gilt also für alle.
Der vierte Erfolg dieser Gesundheitsreform liegt in der Sicherung des medizinischen Fortschritts. Gewinner der Reform sind in erster Linie die Kranken selber. Die Leistungen der moderner Spitzenmedizin stehen weiterhin allen Bundesbürgern zur Verfügung. Ob Sozialhilfeempfänger, Arbeiter, Angestellter oder Direktor, jeder kann die Spitzenmedizin haben. Wir müssen dafür sparen, daß die Schwerkranken in der Not Spitzenmedizin erhalten können. Das unterscheidet unser System von den sozialistischen Systemen. Dort steht die Spitzenmedizin nur den Funktionären zur Verfügung. Die Klassenmedizin ist eine Erfindung des real existierenden Sozialismus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das gibt es bei uns nicht. Der Unterschied zwischen dem idealen und dem realen Sozialismus besteht darin, daß den idealen Sozialismus noch niemand erlebt hat.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Spitzenmedizin für alle ist die Leistung unseres freiheitlichen Sozialstaates.
Wer allerdings Spitzenmedizin finanzieren will, der muß auf die Finanzierung von Luxus- und Bagatellmitteln durch die Solidargemeinschaft verzichten. Wir wollen Spitzenmedizin für jedermann absichern.
Rund 150 000 Bundesbürger tragen heute einen Herzschrittmacher — den gibt es, Gott sei Dank — in ihrer Brust. Jährlich kommen 32 000 Patienten dazu. Die Preise für einen Herzschrittmacher liegen — nur damit man einmal die Proportionen sieht — zwischen 3 000 und 10 000 DM. Damit wird Herzkranken geholfen. Dafür das Geld auszugeben, das ist der Sinn der Gesundheitsreform.
Jährlich werden 30 000 Herzoperationen mit HerzLungen-Maschinen durchgeführt. Menschen, die früher dem Tod geweiht waren, können wir heute retten, ihr Leben verlängern. Dafür muß das Geld bereitgestellt werden. Dafür brauchen wir die Solidargemeinschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Rund 2 000 Nieren, über 150 Lebern wurden verpflanzt. Eine Lebertransplantation kostet 96 000 DM. Spitzenmedizin wird teurer. Wenn sie bezahlbar bleiben soll, muß man beim Überflüssigen sparen.
Jedes Jahr kommen in der Bundesrepublik rund 5 000 Kinder mit angeborenen Herzfehlern auf die Welt, die früher nie ihren ersten Geburtstag erlebt hätten. Heute können wir ihnen und ihren Eltern helfen. Das soll so bleiben. An allem, was die Medizin tun kann, den Menschen zu helfen, soll es nicht mangeln. Dafür werden wir jeden Betrag aufbringen. Aber wenn es durch die Solidargemeinschaft finanzierbar bleiben soll, muß anderweitig gespart werden.
Noch 1970 starben bei uns 2 000 Menschen an chronischem Nierenversagen, weil nur für 743 Patienten eine regelmäßige künstliche Blutwäsche zur Verfügung stand. Heute haben wir Dialysegeräte für 20 000 Kranke — mit Kosten pro Patient von durchschnittlich 48 000 bis 64 000 DM. In ganz Europa erreichen nur vier Länder eine ausreichende Versorgung. Wir liegen dabei an der Spitze.
Ist unser Geld nicht sinnvoll ausgegeben, wenn beispielsweise die Allgemeine Ortskrankenkasse im Sommer 1989 einem vier Jahre alten, lebensbedrohlich erkrankten deutschen Jungen in einer Spezialklinik in den USA eine neue Leber hat einsetzen lassen? Die Kosten nur für den einen Fall betrugen 500 000 DM.

(Reimann [SPD]: War doch früher auch möglich!)




Bundesminister Dr. Blüm
Und wären sie noch höher gewesen, hätte die Kasse sie auch übernommen. Dafür sparen wir.
Ja, das war auch vorher so.

(Zurufe von der SPD)

— Hören Sie mich doch einmal ganz in Ruhe an. Aber die Leistungen der Medizin wachsen doch, (Günther [CDU/CSU]: So ist es!)

die Fortschritte wachsen doch. Dann muß doch die Finanzierung nachkommen. Wenn die Finanzierung der Spitzenmedizin nachkommen soll, dann muß sie bei Bagatellen und Luxus sparen, dann muß sie fragen: Was muß die Solidargemeinschaft bezahlen? Das Notwendige, was der einzelne nicht bezahlen kann, muß die Solidargemeinschaft bezahlen. Auch wenn es Millionen kostet, sein Leben zu retten, zahlt ihm das die Solidargemeinschaft. Aber überflüssige Taxifahrten, unwirtschaftliche Arzneimittel, zu viele Pillen, zu hohe Honorare, das muß sie nicht bezahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gewinner der Reform sind auch die im Gesundheitswesen Beschäftigten. Ohne die vorhandenen und noch zu erwartenden Ersparnisse durch die Gesundheitsreform wäre die tarifliche Verbesserung in der Krankenpflege gar nicht möglich gewesen. Den Hunderttausenden von Pflegekräften, Schwestern in den Krankenhäusern hätten wir ihren Tarifvertrag gar nicht verbessern können, wenn nicht vorher die Gesundheitsreform das Geld dafür herbeigeschafft hätte. Wissen Sie, was diese tarifvertraglichen Verbesserungen kosten? 4 Milliarden DM kosten sie. Stellenpläne wurden verbessert. Ausfallzeiten für Urlaub und Krankheit werden in die neuen Anhaltszahlen aufgenommen. Die Pflegekräfte haben das verdient. Aber dann müssen wir an anderer Stelle sparen. Die Bundesregierung hat durch eine Änderung der Bundespflegesatzverordnung die Anrechnung der Krankenpflegeschülerinnen und -schüler auf die Stellenpläne der Krankenhäuser deutlich verbessert. Bis Ende letzten Jahres galt beispielsweise in Nordrhein-Westfalen auf Grund früherer Vorgaben des Landes ein Anrechnungsschlüssel von vier Krankenpflegeschülern auf eine Schwesternstelle im Krankenhaus. Ab 1. Januar 1990 kommen dank Bonn sieben Krankenpflegeschüler auf eine Stelle.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Hierdurch können allein in Nordrhein-Westfalen etwa 2 300 zusätzliche Krankenschwestern eingestellt und mehr Krankenpflegeschüler ausgebildet werden. In Bayern sind es knapp 1 200. Allein dank der von uns vorgenommenen Verbesserung des Anrechnungsschlüssels können in Nordrhein-Westfalen 2 300 Krankenschwestern mehr eingestellt werden. Ich bin sicher, Johannes Rau wird das wieder als seinen eigenen Erfolg feiern.

(Günther [CDU/CSU]: Hoffentlich stellt er die auch ein!)

Die Krankenkassen haben sich darüber hinaus in den Pflegesatzverhandlungen bereit erklärt, bundesweit etwa 13 000 neue Stellen für Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger zu schaffen, und zwar gezielt in den Krankenhäusern, wo es im Pflegebereich personelle Engpässe gibt. Mehr Geld für die Pflegekräfte im Krankenhaus ist gut angelegtes Geld; es ist besser angelegt als für Bagatellen und Luxus.
Die Gesundheitsreform liefert auch ein Höchstmaß an sozialer Rücksichtnahme. Sie ist Politik mit Augenmaß und sozialer Rücksichtnahme. Sozial- und Überforderungsklauseln schützen die sozial Schwächeren, Härte- und Überforderungsklauseln, wie es sie im bisherigen Krankenkassenrecht überhaupt nicht gab. Die Sozialklausel befreit die sozial Schwächeren völlig von Zuzahlungen bei Rezeptgebühren, Heilmitteln, Fahrtkosten und Zahnersatz. Von diesen Zuzahlungen sind ab 1990 alle Versicherten mit einem Einkommen unter 1 316 DM befreit. Kommt ein weiteres Familienmitglied hinzu, liegt der Betrag bei
1 809,50 DM. Für jeden weiteren Angehörigen erhöht sich dieser Betrag um 329 DM. Eine Familie mit zwei Kindern beispielsweise muß also bis zu einem Monatseinkommen von 2 467,50 DM keine einzige Mark für Rezeptgebühren, Heilmittel, Fahrtkosten oder Zahnersatz zuzahlen. Die Familie mit zwei Kindern mit einem Monatseinkommen von 2 467,50 DM
— Durchschnittsverdiener — muß also überhaupt nichts zuzahlen.

(Heyenn [SPD]: Jetzt hat er es erst begriffen!)

— Wenn Sie es noch nicht begriffen haben, will ich es gerne wiederholen.

(Heyenn [SPD]: Sie haben es schon wiederholt!)

— Wahrheiten, die von Ihnen geheimgehalten werden, will ich gerne öfters wiederholen: Eine Familie mit zwei Kindern und einem Monatseinkommen von
2 467,50 DM muß überhaupt nichts zuzahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das steht in den Broschüren drin!)

— Broschüren müssen gelesen werden.

(Egert [SPD]: Viel schlimmer ist: Man muß verstehen, was drinsteht!)

Auch oberhalb der Sozialklausel ist jedermann vor Überforderung geschützt. Höchstens 2 % des Einkommens muß zuzahlen, wer weniger als 56 700 DM verdient. Höchstens 4 % muß zuzahlen, wessen Einkommen darüber liegt. Was im Jahre 1989 an Zuzahlungen über 2 % bzw. 4 % hinausgegangen ist, wird spätestens in diesen Wochen von den Krankenkassen zurückerstattet. Wer nicht bereits im Laufe des Jahres 1989 von Zuzahlungen befreit wurde, beispielsweise chronisch Kranke, sollte jetzt einen Jahresausgleich für Zuzahlungen beantragen, wenn er mehr als 2 % bzw. 4 % seines Jahreseinkommens aufgewendet hat. Hat beispielsweise ein Ehepaar mit zwei Kindern bei einem Jahreseinkommen von 37 500 DM mehr als 409 DM zugezahlt, so erstattet ihm die Krankenkasse alles, war darüber ist.
Meine Damen und Herren, in die Bilanz gehört auch ein Rückblick auf die Diskussion um die Gesundheitsreform vor und nach dem Inkrafttreten. Ich kenne kein Gesetz, gegen das mit mehr Verleumdung, Ver-



Bundesminister Dr. Blüm
drehungen und Verunglimpfungen gearbeitet wurde als gegen unser Gesundheits-Reformgesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Angst der kleinen Leute wurde für die großen Interessen schamlos ausgenutzt. Ich will drei Zitate aus der unendlichen Sammlung der Zitate, drei Spitzenleistungen der Unverschämtheit, drei Spitzenleistungen der Schamlosigkeit stellvertretend für viele andere in Erinnerung rufen.
Erstens: „Ab 1. Januar 1989 dürfen Sie nicht mehr krank werden. "

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: SPD!)

Zweites Zitat: „Die Bundesregierung läßt Sie jetzt kräftig zuzahlen. "

(Zuruf von der SPD: Stimmt auch!)

Drittes Zitat: „Seit dem 1. Januar 1989 wird bei den Kranken abkassiert. "

(Egert [SPD]: Ist auch wahr!)

Ich will Ihnen einen Hinweis auf die Quelle geben. Zwei dieser Aussagen stammen vom SPD-Bundesvorstand, eine stammt vom SED-Zentralorgan „Neues Deutschland".

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Noch einmal: Zwei dieser drei Unverschämtheiten sind von der SPD, eine Unverschämtheit ist von der SED.

(Egert [SPD]: Herr Minister, noch billiger sind Sie nicht zu haben, was?! Sie sollten sich schämen! — Weitere Zurufe von der SPD)

Zu dem Wort „billiger" : Ich schäme mich, Herr Egert, für das Zitat, das Ihre Partei plakatiert hat, ich schäme mich für Ihr Plakat: „Ab 1. Januar 1989 dürfen Sie nicht mehr krank werden. " Lesen Sie das einmal mit den Augen einer Kranken, die ausgerechnet Ihnen glaubt! Sie muß ja geradezu in Angst und Panik geraten. Schämen Sie sich, Herr Egert, daß Sie einer Partei angehören, die Millionen von Kranken belogen hat!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Egert [SPD]: Sie sind ein billiger Demagoge!)

Nach einem Jahr wird jeder Kranke feststellen können, daß er wie bisher zum Arzt gehen kann, seine Behandlung bekommt, seine Arzneimittel bekommt,

(Sehr richtig! bei der FDP)

daß er ins Krankenhaus gehen kann. Sie von der SPD haben aber tausendmal plakatiert: „Ab 1. Januar 1989 dürfen Sie nicht mehr krank werden. " — Eine bodenlose Unverschämtheit; Sie sollten sich schämen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Sparziele wurden einerseits als „Luftbuchungen", andererseits als „sozialer Kahlschlag" diffamiert. Entweder sind sie Luftbuchungen — dann treffen sie niemanden — , oder sie sind Kahlschlag — dann treffen sie alle. Aber es wurde in diesem Interessenkampf weder auf die Gesetze der Logik noch der Wahrheit Rücksicht genommen. Unsere Gesundheitsreform ist weder Luftbuchung noch Kahlschlag. Sie ist das ausgewogene Konzept eines Sozialumbaus, mit dem Solidarität und Eigenverantwortung ins Gleichgewicht gebracht werden.
Ich vertraue darauf, daß niemand die Wahrheit auf Dauer vergewaltigen kann, und halte es mit Abraham Lincoln, der gesagt hat:
Man kann alle Leute für eine gewisse Zeit zum Narren halten. Man kann einige Leute auch ständig zum Narren halten. Aber auf Dauer kann man nicht alle Leute zum Narren halten.

(Heyenn [SPD]: Aber Sie versuchen das!)

Deshalb bin ich ganz sicher, daß die Wahrheit dieser Gesundheitsreform Tag für Tag neu zum Vorschein kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich frage die SPD angesichts dieser Zwischenbilanz: Was ist die Alternative der SPD? Wo liegen ihre Vorschläge für eine Gesundheitsreform — außer allgemeinen Programmsätzen — vor?

(Dreßler [SPD]: Sie haben das doch niedergestimmt!)

Ich kenne nur die Positivliste. Sie wollen eine Positivliste, nach der an Stelle von 70 000 Arzneimitteln nur noch 2 000 bis 3 000 bezahlt werden. Wenn wir mit einer Negativliste ein paar hundert Arzneimittel ausschließen, dann schreien Sie Zeter und Mordio. Sie aber wollen mit einer Positivliste überhaupt nur noch 2 000 Arzneimittel zulassen.
Ich frage die SPD: Ist sie gegen Beitragssatzstabilität? Ist sie gegen Transparenz? Ist sie gegen eine Wirtschaftlichkeitsprüfung bei den Ärzten? Ist sie gegen den Ausbau der Pflege? Ist sie gegen den Abbau kostentreibender Überkapazitäten im Krankenhausbereich? Ist sie gegen eine bessere Nachbehandlung der Patienten, die aus dem Krankenhaus entlassen werden? Ist sie gegen eine wirksame Qualitätssicherung? Ist sie gegen den Ausbau der Gesundheitsvorsorge? — All das sind Maßnahmen, die wir in unserem Gesetz, in unserer Reform durchgeführt haben.

(Zuruf von der SPD: Wir sind gegen Blüm!)

Wer gegen unsere Reform ist, muß auch gegen Ausbau der Vorsorge, Verbesserung der Pflege, Verbesserung der Wirtschaftlichkeit sein. Sagen Sie einmal Ihren Anhängern, Sie seien gegen den Ausbau der Pflege.
Im übrigen: Es gibt auch Sozialdemokraten, auf die ich mich berufen kann. Wenn es in den Kram paßt, hört sich das nämlich ganz anders an. Ich zitiere einfach aus dem Entwurf des nordrhein-westfälischen Finanzministers zur Änderung der Beihilfe-Verordnung vom 19. Dezember 1989 — ganz jung — : „Im übrigen hat auch der Beihilfeberechtigte von der Konzeption des Gesundheits-Reformgesetzes Vorteile." — Er hat Vorteile, sagt der sozialdemokratische Finanzminister von Nordrhein-Westfalen. Also, da muß es doch etwas geben. Wenn die Gesundheitsreform jetzt auf die Beihilfe übertragen wird und ein sozialdemokratischer Finanzminister sagt, davon habe der Beihilfeberechtigte Vorteile, dann scheint die Gesundheitsreform ja nicht so schlecht zu sein. Er findet dafür dann ja auch Beispiele.



Bundesminister Dr. Blüm
Ich will in meine Kritik, um diese vollständig zu machen, auch Leistungsanbieter einbeziehen. Sie haben die politische Schamgrenze verletzt. Wartezimmer wurden zu Schlachthöfen der Wahrheit.

(Lachen bei der SPD)

Ja, doch.
Der Freie Verband Deutscher Zahnärzte möchte diese Art von Agitationspolitik offenbar fortsetzen, wenn er empfiehlt, in Wartezimmern weiter gegen die Gesundheitsreform zu agitieren. Die Krankenkassen haben das zurückgewiesen. Ich schließe mich den Krankenkassen an.
Wartezimmer sind Zimmer, in die behandlungsbedürftige Menschen kommen, um vom Arzt Rat und Hilfe zu erhalten; sie sind nicht Warteräume der Agitation und der Indoktrination.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unbeeindruckt vom Geschrei rechts und vom Geplärre links gehen wir unseren Weg, geleitet allein von der Verantwortung für die Zukunft unseres Sozialstaates und von der Sorge für diejenigen, die der Hilfe bedürfen.
Politik kann nicht alle Probleme lösen, und der Sozialstaat ist nicht der allmächtige Gott. Auch das beste Gesundheitssystem und die beste Medizin können den Tod nicht besiegen.
Der Anspruch, alle Probleme politisch lösen zu können, ist das Versprechen, den gescheiterten Turmbau zu Babel erneut zu versuchen. Diese Hybris verdrängt den Tod und raubt dem Menschen die Chance, sein Schicksal anzunehmen, sich mit ihm auseinanderzusetzen und es positiv zu wenden. Die Tragödie des Nihilismus ist die Unfähigkeit, im Tod einen Sinn des Lebens zu erkennen.
Auch die beste Medizin kann dem Menschen nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten. Diesen muß jeder selber finden, egal ob krank oder gesund. So zeigt die Kritik am Gesundheits-Reformgesetz auch die Züge der Ratlosigkeit einer nihilistischen Politik.
Wir bleiben einer humanen Politik verpflichtet, dem Fortschritt ohne Vollendung; denn dem Zwang zur Vollkommenheit haftet der Geruch der eitlen Barbarei des Perfektionismus an. Fortschritt ist möglich, Vollendung nicht.
Die Gesundheitsreform bleibt auf dem Weg. In einem selbstverwalteten System sind wir auf die Gestaltungskraft und die Mitarbeit der Selbstverwaltung in hohem Maße angewiesen. Ohne funktionsfähige Selbstverwaltung der Partner ist unser freiheitliches Gesundheitssystem rettungslos verloren.
Insofern geht die Gesundheitsreform durch die Mitarbeit der Kassen weiter. Wir befinden uns immer auf dem Weg. Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen. Ich appelliere an alle Gutwilligen, auch an die Opposition, unser gutes, unser freiheitliches Gesundheitssystem zu erhalten. Große Aufgaben liegen noch vor uns. Die Anstrengung lohnt sich, für die Kranken, für die Hilfsbedürftigen und für alle diejenigen, die es bezahlen, für die Millionen von Beitragszahlern.
Dafür machen wir unsere Politik, für die, die schwach sind, die in Not sind und die der Hilfe bedürfen. Für sie war unsere Gesundheitsreform gedacht.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118800200
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dreßler.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1118800300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung zur sogenannten Gesundheitsreform, die soeben hier vorgetragen wurde, dient vor allem einem Ziel: der Irreführung der Bürgerinnen und Bürger und der Ablenkung von den Tatsachen.

(Beifall bei der SPD)

Sie offenbart zugleich, daß sich Minister Blüm, daß sich die Bundesregierung, daß sich die CDU/CSUFraktion und daß sich die FDP-Fraktion politisch verkalkuliert haben. Kaum ein anderes Gesetz dieser Koalition hat die Gemüter so erregt und den Zorn der Menschen so provoziert wie diese sogenannte Gesundheitsreform.

(Beifall bei der SPD)

Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP haben angenommen, das alles würde sich legen, wenn das Gesetz erst einmal in Kraft sei. Tatsache ist: Das Gegenteil ist richtig.

(Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Sie reden am Volk vorbei!)

Seit dieses Gesetz in Kraft ist, seit Millionen von Kranken seine soziale Ungerechtigkeit spüren, geht es mit dem Bürgerprotest erst richtig los, und die Bürgerinnen und Bürger protestieren zu Recht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)

Kein anderes Gesetz hat sich durch seine Einseitigkeit und die soziale Härte seiner Auswirkungen so negativ in das Bewußtsein der Menschen eingegraben wie die sogenannte Gesundheitsreform.

(Zuruf von der FDP: Das hätten Sie gern!)

Die Quittungen, die der Bundesregierung und der Koalition für dieses Gesetz ausgeteilt wurden, waren eindeutig: Von Berlin bis zur Europawahl hagelte es schwere Wahlniederlagen.

(Zuruf von der SPD: So war es!)

Das Ziel der heutigen Regierungserklärung heißt daher auch: Schönfärben, was unappetitlich ist, um vergessen zu machen. Es soll nicht sein, was nicht sein darf. Das aber ist vergebliche Liebesmüh. Der Versuch, den CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zum erfolgreichen Helden der Gesundheitspolitik hochzustilisieren, Ihr Versuch, Herr Blüm, sich selbst hochleben zu lassen, nachdem es kein anderer tut, wird scheitern.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)




Dreßler
Herr Blüm, Sie werden bleiben, was Sie sind: der personifizierte Leistungsklau der deutschen Sozialpolitik.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP)

Ihr Sündenregister in Sachen Sozialabbau ist zu lang, als daß Sie das durch wortreiche Regierungserklärungen wegreden könnten.
Seit nunmehr einem Jahr ist das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz in Kraft.

(Kolb [CDU/CSU]: Und hat gute Wirkung gehabt!)

Das, was Sie hier eben als Zwischenbilanz dieses Gesetzes vorgetragen und hochgelobt haben, nenne ich eine reichlich dreiste Spekulation auf die Vergeßlichkeit der Menschen. Ehrliche Bilanzen kann nur derjenige ziehen, Herr Blüm, der das, was er vor einem Jahr den Menschen von dieser Stelle aus versprochen hat, mit dem vergleicht, was tatsächlich geschehen ist. Diesen Vergleich haben Sie, Herr Blüm, sorgsam vermieden. Sie haben auch allen Grund dazu, und daher will ich das für Sie tun.
Dazu lade ich uns alle ein, den Entwurf eines sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes auf Drucksache 2237 aus der 11. Wahlperiode zur Hand zu nehmen. Wir alle sollten gemeinsam verhindern, daß diese Drucksache der Vergessenheit anheimfällt. Sie ist eine wahre Fundgrube für die gesundheits- und sozialpolitischen Irrungen dieser Koalition. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, wenn politische Spekulation an die Stelle seriöser Sachpolitik tritt.
Sie von der CDU/CSU und FDP versprechen in dieser Drucksache einen finanziellen Spielraum der Krankenkassen am 1. Januar 1990 auf Grund Ihres sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes, der zu einer Senkung des Beitragssatzes um 0,7 — ich wiederhole, um 0,7 — Prozentpunkte führen soll. Der durchschnittliche Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung hätte sich also zu Jahresbeginn von 12,9 auf 12,2 % ermäßigen müssen. Wo, bitte, sind diese 0,7 % Senkung des Beitragssatzes geblieben? Was ist aus Ihrer Versprechung geworden, Herr Blüm?

(Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Sie ist auf vier Jahre angelegt gewesen! — Gegenruf von der SPD)

Nach ersten Hochrechnungen der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich der Beitragssatz am 1. Januar dieses Jahres allenfalls um 0,15 % ermäßigt. Das war es aber auch schon.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Bei einem Durchschnittseinkommen von 3 500 DM sind das 2,62 DM im Monat oder 31,44 DM im Jahr. Und dann nennt Herr Blüm den Durchschnittsverdiener den Gewinner seiner Gesundheitsreform. Da kann ich nur lachen, Herr Blüm.

(Zurufe von der CDU/CSU — Gegenrufe von der SPD)

Deshalb frage ich Sie noch einmal: Was ist aus der versprochenen Beitragssatzsenkung um 0,7 % im Durchschnitt geworden?

(Zuruf von der SPD: Die ist auf dem Weg in die Zukunft verlorengegangen!)

Erklären Sie uns doch bitte, warum nicht das eingetroffen ist, was Sie versprochen haben. Sie haben versprochen, daß am 1. Januar dieses Jahres auf Grund Ihres sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes ein finanzieller Spielraum bei den Krankenkassen von 6,4 Milliarden DM zur Verfügung stünde. Wo sind die bitte?
Nach ersten Hochrechnungen der gesetzlichen Krankenkassen beträgt der finanzielle Spielraum, der direkt durch das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz verursacht wurde, am 1. Januar gerade 4 Milliarden DM.
Was ist denn aus Ihren Prognosen geworden? Die Krankenkassen sind noch nicht einmal in der Lage, diese 4 Milliarden DM voll für Beitragssenkungen bereitzustellen, weil sie zunächst einmal ihre Schulden bezahlen müssen, die sie auf Grund des Ankündigungseffektes Ihres famosen Gesundheits-Reformgesetzes in der vergangenen Zeit machen mußten. So sieht die Wirklichkeit aus, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Haben Sie sich eigentlich auch Kenntnis darüber verschafft, wie dieses Einsparpotential von 4 Milliarden DM zustande gekommen ist, wer diese 4 Milliarden DM aufgebracht hat? Ich will es Ihnen sagen: Im letzten Jahr vor Inkrafttreten des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes — das war das Jahr 1988 — haben die Versicherten für Selbstbeteiligung und Zuzahlung insgesamt 7,2 Milliarden DM aufgewandt. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten der sogenannten Gesundheitsreform erhöhten sich die direkten Leistungen der Patienten für Selbstbeteiligungen, für Zuzahlungen und Leistungskürzungen von 7,2 Milliarden DM auf genau 11 Milliarden DM. Das Gesundheits-Reformgesetz hat also die Kranken mit 3,8 Milliarden DM zur Ader gelassen. Die direkte Einsparwirkung Ihres Gesetzes liegt bei 4 Milliarden DM. Wissen Sie, was das heißt? Die von Ihnen hier abgefeierten Einsparungen haben die Kranken finanziert. Vom grippekranken bis zum schwerkranken Patienten: Alle mußten zahlen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Sie haben, wie wir das immer gesagt haben, abkassiert, den Kranken in die Tasche gegriffen.
Eines Ihrer Hauptziele, das Sie mit diesem Gesetz erreichen wollten, war — das jedenfalls ist der bereits erwähnten Drucksache zu entnehmen — , Solidarität in der Krankenversicherung neu zu definieren. Das ist Ihnen wahrhaftig gelungen: Sie haben Solidarität in ihr Gegenteil gewendet; Sie haben Entsolidarisierung nun auch in der Krankenversicherung zum Markenzeichen Ihrer Politik gemacht.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei der Verabschiedung des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes am 25. November 1988 festgestellt, daß dieses Gesetz einseitig die Versicherten belastet und die Er-
14482 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18 Januar 1990
Dreßler
I bringer von Gesundheitsleistungen, also Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie, schont. Davon haben wir heute nichts zurückzunehmen; die Tatsachen geben uns recht.
Wissen Sie wirklich nicht, wie sich die ärztlichen Honorare im vergangenen Jahr entwickelt haben? Ich will es Ihnen sagen: Die Krankenkassen haben im vergangenen Jahr 3,6 % mehr für ärztliche Honorare ausgegeben. So ist Ihre Politik: Bei den Ärzten gibt es ein Mehr an Einkommen, bei den Kranken gibt es ein Mehr an Ausgaben. Eine Milliarde DM mehr Einkommen für Ärzte, fast 4 Milliarden DM zusätzliche Ausgaben für die Kranken. Das ist ein Erfolg Ihres sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes. Das ist die Neudefinition von Solidarität, so wie Minister Blüm sie haben will.

(Beifall bei der SPD)

Ich will Ihnen sagen, was das in Wirklichkeit ist: Es ist die Pervertierung des Sozialstaates, was Sie hier vornehmen.

(Beifall bei der SPD)

Aber das ist noch nicht alles: Mehr gibt es nicht nur für die Ärzte, sondern auch für die Zahnärzte und die pharmazeutische Industrie. Weniger gibt es bei Ihnen immer nur für die Versicherten, vor allen Dingen für die Patienten.
Was tun Sie in der Öffentlichkeit? Jede einzelne Preissenkung feiern Sie als großen Erfolg. Damit kein Mißverständnis entsteht: Auch wir freuen uns über Preissenkungen im Gesundheitswesen.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Ehrlich?)

— Aber Ihr öffentliches Abfeiern hat immer nur ein Ziel, Herr Cronenberg, nämlich die unsoziale Gesamtentwicklung ihres Gesetzes zu vernebeln. Sie brüsten sich damit, daß Brillen jetzt 20 DM kosten. Dazu sage ich: erfreulich. Aber was ist gewonnen, wenn der Versicherte jetzt für eine Brille nur noch 20 DM statt bisher 40 DM bezahlen muß, aber gleichzeitig für seinen Zahnersatz statt 2 000 DM jetzt 4 000 DM auf den Tisch des Hauses zu legen hat? Sie biegen sich die Wahrheit zurecht, meine Damen und Herren.
Wie wenig Sie die Auswirkungen der sogenannten Gesundheitsreform tatsächlich interessieren, zeigen doch die Antworten, die Herr Blüm aus dem Arbeitsministerium auf Schreiben besorgter Bürger denen zuschicken läßt. Da wendet sich ein Bürger aus der Nähe von Bamberg an Herrn Blüm und beklagt die hohe Fahrtkostenbelastung, die er zu tragen habe, weil er — seit sechs Wochen krank — mehrmals in der Woche zu Facharztterminen in die Kreisstadt fahren müsse. Seine Versuche, die verschiedenen Arzttermine zu koordinieren, um dadurch Fahrtkosten zu senken, seien erfolglos gewesen, schreibt er; er könne die Fahrtkosten kaum mehr tragen; was er machen solle, ob das Gesetz nicht überprüft werden müsse. — Und wie reagiert Herr Blüm? Ich will dem Deutschen Bundestag die Antwort aus dem Arbeitsministerium gern im Wortlaut zur Kenntnis geben — Zitat — :
Ihr Schreiben vom 8. Dezember 1989 habe ich
zuständigkeitshalber dem Bundesversicherungsamt, Reichpietschufer 74 —76, 1000 Berlin 30,
weitergeleitet. Sie werden von dort weitere Nachricht erhalten.
Das war's. Da wendet sich ein Bürger mit Sorgen über die Auswirkungen des Gesetzes an den Arbeitsminister, und der leitet es an das Bundesversicherungsamt weiter. So geht dieser Arbeitsminister mit den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger um. Sie werden auch noch verhöhnt. Warum sind Sie eigentlich nicht ehrlich, Herr Blüm? Warum schreiben Sie dem Bürger aus der Nähe von Bamberg nicht, daß Sie die unsozialen Auswirkungen, die Ihr Gesetz im Zusammenhang mit Fahrtkosten zeitigt, gewollt haben? Aber noch nicht einmal dazu haben Sie den Mut. Die Bürger, für die Sie dazusein haben, werden hier mit solchen Lappalien abgespeist.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Oder es wird gar nicht geantwortet!)

Was haben Sie mit diesem Gesetz alles versprochen? Sie haben versprochen, daß es im Krankenhausbereich zu Einsparungen von ca. 1,57 Milliarden DM führen wird. Und wie sehen die Tatsachen aus? Die Krankenkassen rechnen mit Mehrausgaben von 4 Milliarden DM. Sie haben versprochen, daß die Ausgaben der Krankenversicherung für Arzneimittel sinken werden. Sie haben in diesem Gesetz dazu das von Ihnen als genial bezeichnete Festbetragskonzept verankert, das sogenannte — wie Sie es nennen — Herzstück der Reform. Nach einem Jahr praktischer Anwendung lohnt es sich wirklich, dieses Herzstück einmal unter die Lupe zu nehmen. Sie wollen Festbeträge in drei Arzneimittelgruppen bei gleichen Wirkstoffen, also in der Stufe 1, bei vergleichbaren Wirkungen, also in der Stufe 2, und bei vergleichbaren Wirkprinzipien; das ist die sogenannte Stufe 3.
Ich will Sie daran erinnern, daß laut Gesetzestext zum 30. Juni 1989 die Festbeträge in der Stufe 1 festgelegt sein sollten. Das wären immerhin fast 100 Wirkstoffe gewesen. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Am 1. Januar 1990, also sogar ein halbes Jahr nach diesem Zieltermin, existieren für ganze 15 Wirkstoffe Festbeträge. Schon jetzt ist klar, daß die Festbeträge in Stufe 1 statt am 30. Juni 1989 frühestens Ende 1991 komplett sein werden. Nennen Sie das eigentlich seriös?
Nachdem Sie im abgelaufenen Jahr jede einzelne Preissenkung der Unternehmen geradezu hymnisch gefeiert haben, möchte ich mich hier einmal mit den gesamten finanziellen Auswirkungen des Festbetragsmodells auseinandersetzen.
Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß trotz Ihres Jubels über Preissenkungen die Krankenversicherung im abgelaufenen Jahr 1 % mehr — das sind 200 Millionen DM — für Arzneimittel ausgegeben hat? Wo sind die Einsparungen? Ich kann auf der Grundlage der Daten, die uns vorliegen, nur Mehrausgaben erkennen. Während Sie nämlich öffentliche Feiern über die Preissenkungen bei Festbetragsarzneimitteln veranstaltet haben, hat die pharmazeutische Industrie ganz etwas anderes getan: Sie hat die Preise bei nicht festbetragsfähigen Arzneimitteln kräftig erhöht,

(Reimann [SPD]: So war es!)




Dreßler
und sie hat ihren Absatz, also die Menge der abgegebenen Arzneimittel, gesteigert. Wie ist das also mit dem Erfolg Ihres Gesetzes? Die mittlerweile festgelegten Festbeträge haben nach Schätzungen der Krankenkassen im abgelaufenen Jahr zu Einsparungen von knapp 500 Millionen DM geführt. Die seit Beginn des Festbetragsverfahrens im Februar 1989 von der Pharmaindustrie durchgesetzen Preiserhöhungen hingegen haben zu Mehrausgaben der Krankenkassen von knapp 300 Millionen DM geführt. 500 Millionen DM einsparen, 300 Millionen DM mehr ausgeben, das ist Blüms geniales Konzept.
Sind Sie wirklich so naiv, zu glauben, die Pharmaindustrie habe ihr Ziel aufgegeben, der Krankenversicherung nach Kräften in die Tasche zu greifen, und wolle statt dessen treu und brav an der Festbetragslinie hinter Ihnen hertrotten? Mehr als die Hälfte der Einsparungen durch Festbeträge hat die pharmazeutische Industrie durch Preiserhöhungen bei Arzneimitteln im nicht festbetragsfähigen Bereich ausgeglichen, wieder hereingeholt. Warum verschweigen Sie das, Herr Blüm?
Warum verschweigen Sie, daß Sie das finanzielle Ziel des Festbetragskonzeptes, Einsparungen von 1,95 Milliarden DM bei Arzneimitteln zu erzielen, nie erreichen werden? Das Festbetragssystem hat sich schon in seiner ersten Phase als das herausgestellt, als das wir es bezeichnet haben. Dies ist eine ökonomische und sozialpolitische Mißgeburt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir haben Sie an den Solidarbeitrag der Pharmaindustrie erinnert, den Sie den Bürgerinnen und Bürgern versprochen haben. Sie haben sich davongestohlen und haben gesagt, dieser Solidarbeitrag der pharmazeutischen Industrie werde über die Festbeträge erbracht.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Wird er auch! Bleib doch bei der Wahrheit!)

Und das ist nun das Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Einsparungen bei den Krankenkassen wird über Preiserhöhungen in anderen Bereichen wieder hereingeholt. War das das Solidaropfer, ist das der Erfolg Ihres Gesetzes? Nein, das ist das Ergebnis eines verhängnisvollen Konzeptes.

(Seehofer [CDU/CSU]: Es ist falsch, was Sie sagen!)

— Herr Seehofer, dann lesen Sie bitte wenigstens die Äußerungen des wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkassen der letzten Tage. Es geht nicht an, daß sich Herr Blüm oder Sie auf irgendwelche Halbsätze dieses Instituts oder der AOK berufen, den Gesamtzusammenhang vernachlässigen und, wenn wissenschaftliche Untersuchungen dieser Institute präsentiert werden, die unsere Thesen bestätigen und Ihr Gesetz ad absurdum führen, sagen, das sei alles nicht wahr, d. h. es nicht zur Kenntnis nehmen. So kann man nicht Politik machen, Herr Seehofer.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Wir wissen, daß allenfalls 50 % des Arzneimittelmarktes vom Festbetragskonzept — wenn denn überhaupt — erfaßt werden können. Das heißt aber, daß es für die anderen 50 % keine Festbeträge geben kann. Das heißt auch: Für die Hälfte des Arzneimittelmarktes wird zum 1. Januar 1992 eine 15 %ige Verordnungsgebühr, höchstens aber 15 DM vom Versicherten je Präparat zu zahlen sein. Da können Sie sich — ich sage es noch einmal — drehen und wenden: Diese 15 %ige Selbstbeteiligung der Versicherten an ihren Arzneimitteln war das eigentliche Ziel der gesamten Operation.
Vor allem die FDP, aber auch der Wirtschaftsrat der Union haben das Festbetragskonzept nur akzeptiert, weil man sich ausrechnen konnte, daß für die Hälfte des Arzneimittelmarktes zukünftig 15 % Selbstbeteiligung fällig werden würden. Wenn 50 % der Arzneimittel nicht von Festbeträgen erfaßt werden können, bedeutet das doch auch, daß die pharmazeutische Industrie ein breites Feld hat, ihre Preisnachlässe, ihre Preissenkungen bei festbetragsfähigen Arzneimitteln durch Preiserhöhungen im anderen Bereich ausgleichen zu können.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das ist nicht wahr!)

Übrig bleiben wird für viele Patienten im wesentlichen die Selbstbeteiligung von 15 % ab 1. Januar 1992. Da frage ich noch einmal: Wo ist der Solidarbeitrag der pharmazeutischen Industrie? Was ist aus Ihrem Versprechen geworden? Herr Blüm, Sie wissen selbst, Sie werden es nicht einhalten können. Sie werden Wortbruch begehen müssen.

(Reimann [SPD]: Dann ist er auch kein Arbeitsminister mehr!)

Ihr Festbetragssystem führt für die Hälfte des Arzneimittelmarktes zu noch mehr Selbstbeteiligung für die Versicherten und Patienten. Das wird jene Hälfte des Marktes sein, in dem Arzneimittel angesiedelt sind, die bei schwierigen und seltenen Erkrankungen verabreicht werden müssen. Sie treffen mit Ihrer Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln ab 1. Januar 1992 genau jenen Teil der Kranken, der durch die Schwere seiner Erkrankung ohnehin besonders benachteiligt ist. Auch hier wird Ihr Versprechen, Solidarität mit der Krankenversicherung neu zu bestimmen, für die Versicherten doch geradezu zum Hohn.
Ich will noch zu einem weiteren Punkt Ihres famosen Gesetzeswerkes kommen. Sie haben versprochen, daß die Hälfte der durch dieses Gesetz eingesparten Beiträge der Absicherung der Pflegebedürftigen zugute komme. Ich wiederhole zunächst meine grundsätzliche Kritik: Es ist unerträglich, wenn bei den Kranken abkassiert wird mit der Begründung, dieses Geld benötige man für die Pflegebedürftigen. Es heißt Entsolidarisierung, wenn eine benachteiligte Gruppe die finanziellen Lasten einer anderen benachteiligten Gruppe aufzubringen hat.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Dies muß man sich einmal vorstellen: Der in der Bundesregierung für die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit besonders verantwortliche Bundesminister



Dreßler
macht aus der Not der einen ein Geschäft, um damit die Not der anderen zu lindern.

(Pfui-Rufe von der CDU/CSU — Frau Unruh [fraktionslos]: Das ist so!)

Das ist prinzipiell skandalös, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Weitere Pfui-Rufe von der CDU/CSU)

Wie sieht denn Ihre Absicherung bei Pflegebedürftigkeit tatsächlich aus? In der zweiten Stufe Ihres Pflegekonzepts soll der Schwerstpflegebedürftige ab 1. Januar nächsten Jahres 25 Pflegeeinsätze je Kalendermonat oder aber 750 DM an Pflegegeld im Monat erhalten. So sieht es das Gesetz vor. Aber was nicht im Gesetz steht, ist der politische Finanzierungsvorbehalt, den die Koalition, insonderheit die FDP, mehrfach klargemacht hat. Erst wenn — so heißt es dort — bei den Kranken genügend Geld abkassiert worden ist

(Frau Unruh [fraktionslos]: Sehr richtig!)

— Sie nennen das in Ihrer Terminologie „genügend eingespart" — , kann diese Leistung gewährt werden. Genau jenen politischen Finanzierungsvorbehalt findet man in anderer Form auch in den Richtlinien wieder, die festlegen, unter welchen Voraussetzungen diese Leistungen Schwerstpflegebedürftigen gewährt werden können. Nach diesen Richtlinien bekommt nur derjenige Pflegeleistungen, dessen körperlicher Zustand so hochgradig beeinträchtigt ist, daß er im Grunde stationär behandelt werden müßte.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Richtig!)

Sie haben die von Ihnen selbst so hoch gelobte Absicherung bei Pflegebedürftigkeit durch Zusammenstreichen der Leistungsvoraussetzungen so reduziert, daß nur wenige in den Genuß dieser Leistungen kommen werden. Dies ist die traurige Wahrheit.
Die SPD-Fraktion hat die Bundesregierung auf diesen Punkt schon mehrfach hingewiesen und hat mehrfach angemahnt, daß diese Richtlinien in grobem Maße unzureichend, ja, unsozial sind. Jeder weiß, daß Herr Blüm die Richtlinien in dieser restriktiven Form bei den Krankenkassenverbänden initiiert hat, und jeder weiß auch — das steht sogar im Gesetz —, daß die Richtlinien der Genehmigung des Ministers bedürfen. Ohne seine Zustimmung kann ein solcher sozialer Unfug nicht in Kraft treten. Sie, Herr Blüm, tragen hierfür die volle Verantwortung. Mogeln Sie sich also nicht davon!
War das nun eigentlich die versprochene Absicherung bei Pflegebedürftigkeit, die Sie in jeder Debatte um das Gesundheits-Reformgesetz wie auch heute mit viel Tremolo in der Stimme den Krankenversicherten verkündet haben? Wir alle haben das doch im Ohr: lieber weniger für das Gesundheitswesen ausgeben und damit den armen Pflegebedürftigen helfen. Aber in der Praxis sieht das anders aus. Sie haben die Leute zum Narren gehalten. Ihr Konzept löst das Pflegeproblem nicht, es tut nur so. Es ist Teil — oder, wenn Sie
so wollen, auch ein Kernstück — Ihrer fortwährenden Als-ob-Politik.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Beim Stichwort „Als-ob-Politik" sind wir bei einem weiteren Thema. Was ist eigentlich aus Ihrem Versprechen geworden, etwas für die pflegebedürftigen psychisch Kranken zu tun? Jeder kann sich davon überzeugen: Nichts wurde getan. Natürlich wissen auch wir, daß dies Geld kostet. Aber dieses Geld muß aufgebracht werden. Die psychisch Kranken gehören zu den besonders Benachteiligten in unserer Gesellschaft; sie müssen endlich mit den körperlich Kranken gleichgestellt werden.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Unruh [fraktionslos])

Jeder weiß, daß eine vernünftige Absicherung der Pflegebedürftigen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht möglich ist. Wir brauchen ein eigenes Leistungsgesetz, das von allen Bürgern, d. h. aus Steuermitteln, finanziert wird. Wir haben ein solches Alternativmodell am 25. November 1988 hier zur Abstimmung gestellt; Sie haben es abgelehnt. Was übriggeblieben ist, ist Ihr Konzept, ein Torso in der Ausgestaltung der Leistungen, restriktiv bei der Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen und eine soziale Ungerechtigkeit in der Art der Finanzierung.
Sie haben den Bürgern bei der Verabschiedung dieses Gesetzes versprochen, nichts von dem, was eingespart werde, gehe ihnen verloren. Sie haben ihnen zugesichert, sie erhielten die eine Hälfte als Beitragssatzsenkung und die andere Hälfte als zusätzliche Leistung zurück. Schon heute zeigt sich, daß dies die Unwahrheit war. Die Beitragssatzsenkungen sind minimal. Es wird also kaum etwas über die Beiträge zurückgegeben. Die zusätzlich gewährten Leistungen sind unzureichend. Auch hier haben Sie Ihr Wort gebrochen. Übriggeblieben ist das, was wir Sozialdemokraten von Anfang an prophezeit haben: Abkassieren — die Kranken finanzieren die Einsparungen im Gesundheitswesen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Zurufe von der CDU/CSU: Unfug ist das! — Das kann man nicht mehr mit anhören!)

Schon heute ist erkennbar, daß wir mit unserer Einschätzung recht behalten haben: Dieses Gesetz löst kein einziges der wirklichen Probleme im Gesundheitswesen. Keine der strukturellen Verwerfungen, die unser Gesundheitssystem belasten, ist wirklich ausgeräumt. Die Probleme in der Krankenversicherung sind ungelöst. Eine neue Kostenwelle bahnt sich an. 4 Milliarden DM Mehrausgaben im Krankenhausbereich sind zu erwarten. Wo sind Ihre Lösungsvorschläge? Das Gesundheits-Reformgesetz sagt dazu nichts. Die Beitragssatzverwerfungen zwischen den verschiedenen Krankenkassen werden immer größer. Wo sind Ihre Lösungsvorschläge? Das Gesundheits-Reformgesetz sagt dazu nichts.

(Günther [CDU/CSU]: Ihr habt 13 Jahre geschlafen!)




Dreßler
Eine Welle von Neugründungen bei Betriebskrankenkassen wird die Ortskrankenkassen in weitere große Schwierigkeiten bringen. Die Beitragssatzverzerrungen werden noch größer werden. Wo sind Ihre Lösungsvorschläge? Gleiche Rechte für alle Versicherten und Krankenkassen, Wahlfreiheit für alle Versicherten — wo sind sie? Die Gesundheitsreform drückt sich vor der Antwort.
Trotz Ihrer Jubelarien über die vermeintlichen Erfolge dieses Gesetzes: Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen ist nicht unter Kontrolle. Selbst die bescheidenen Beitragssatzsenkungen in der Krankenversicherung sind zu einem überwiegenden Ausmaß nicht auf Ihr Gesetz zurückzuführen. Sie begründen sich in der ungewöhnlich guten Konjunktur und in den deshalb ungewöhnlich sprudelnden Beitragseinnahmen der einzelnen Krankenversicherungsträger. Dazu haben Sie wohlweislich nichts gesagt.
Die sprunghaft steigenden Beitragseinnahmen der Krankenkassen sind für Sie heute tabu gewesen. Das hätte ja auch das Bild vom vermeintlich großen Erfolg des Gesundheits-Reformgesetzes relativiert.

(Beifall der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion hat nichts von ihrer Kritik an diesem Gesetz zurückzunehmen. Der finanzielle Rahmen ist unseriös. Die geschätzten Einsparwirkungen sind Makulatur.

(Zuruf von der CDU/CSU: Handfeste Zahlen sind das!)

Keines der wirklichen Probleme im Gesundheitswesen wurde gelöst. Statt dessen soziale Ungerechtigkeit, Entsolidarisierung und Umverteilung zu Lasten der Versicherten, vor allen Dingen der Kranken!

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Der Bundesarbeitsminister hat auf der letzten Sitzung der konzertierten Aktion im Herbst 1989 in einer Rede ausgeführt, wie der Idealzustand eines Gesundheitswesens sein könnte. Er sagte, er habe einen Traum,

(Zuruf von der SPD: Einen Alptraum!)

wie dies alles im Jahre 2000 erreicht sein könnte!

(Günther [CDU/CSU]: Man braucht auch Visionen! Ohne Visionen ist das Leben nichts wert!)

Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben auch einen Traum, Herr Blüm. Die Bürgerinnnen und Bürger dieses Landes haben den Traum, daß dieser Bundesarbeitsminister mit seiner unsozialen Politik endlich von der Bildfläche verschwindet.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Wilms-Kegel [GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU: Aus der Traum! Sie werden nie Minister!)

Und, Herr Blüm, was Ihren Traum betrifft: Wir werden bei den Bürgerinnen und Bürgern

(Zuruf von der SPD: Kommt Zeit, kommt Rat!)

die Erkenntnis wach halten, daß sie sich noch in diesem Jahr, spätestens im Dezember 1990, diesen Traum erfüllen können.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das war eine verlorene halbe Stunde!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118800400
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Becker.

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1118800500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hört man den sozialpolitischen Sprecher der SPD oder liest seine Reden nach, dann fallen zunächst die zynische Demagogie, die triefende Polemik, die Übertreibungen und die falschen Behauptungen auf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Dreßler bringt immer, wie schon bei der Verabschiedung der Gesundheitsreform, alles auf einen primitiven Nenner: Dies ist ein Gesetz zur Zerstörung der sozialen Krankenversicherung.
Am 19. Mai des letzten Jahres erklärte er, es sei handwerklich schlampige Arbeit,

(Zuruf von der SPD: Das auch noch! Das hat er heute vergessen zu sagen!)

es trage das Kainsmal sozialer Ungerechtigkeit und Härten. Nun, die Fakten und die Zeit belehren ihn eines besseren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Am 30. November redete er von drastischen Erhöhungen der Selbstbeteiligung, von der Erzwingung von Einsparungen durch Leistungskürzungen.

(Zuruf von der SPD: Wohl wahr!) Auch da muß er umlernen.


(Zuruf von der SPD: Nein!)

Er spickt seine Reden mit billigen Gags, verknüpft Halbwahrheiten miteinander und landet beim blanken Sozialneid.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei solchen Darstellungen kann er darauf setzen: In der Opposition braucht er seine Reden nicht in verantwortliches — verantwortliches! — Handeln umzusetzen, denn dann würde er sehr schnell als der Düpierte mit leeren Händen und leeren Kassen dastehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Schon wieder ein Traum!)

Meine Damen und Herren, die Politiker aller Parteien, auch der SPD, die Krankenkassen, die großen Verbände in der Bundesrepublik haben in den letzten Jahren immer wieder dringend die Reform des Gesundheitswesens gefordert. Die Krankenversicherung war auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Jahr um Jahr mußten höhere Beiträge eingesetzt werden.
Sozialisten glauben allerdings, die notwendigen Finanzierungsressourcen seien in erster Linie von den Leistungserbringern zu holen. International sieht das aber anders aus. Gerade in sozialdemokratischen Gesundheitssystemen muß zunehmend die Selbstbeteiligung der Kranken erhöht werden: bei Arzneimitteln,



Dr. Becker (Frankfurt)

bei Heilmitteln, bei Hilfsmitteln und bei Krankenhausaufenthalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Unruh [fraktionslos]: Das ist doch ein ganz anderes System, Herr Dr. Becker! Das wissen Sie doch!)

Die Koalitionsregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich 1987 für eine Gesundheitsreform im bewährten System entschieden. Die erste Stufe ist in Gang gesetzt. Die zweite Stufe mit der Reform der Krankenkassenorganisation — dies möchte ich auch zu den letzten Bemerkungen von Herrn Dreßler sagen — , mit der Reform der Überkapazitätsprobleme im Krankenhaus und bei den Gesundheitsberufen folgt in der nächsten Legislaturperiode.
Meine Damen und Herren, auf die Koalition und Norbert Blüm können Sie sich verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schwachstellen in unserem System wie Unterversorgungen werden schon in der ersten Stufe — jetzt — beseitigt; so bei der Verhinderung, bei der besseren Vorsorge und bei der Früherkennung von Krankheiten. Auch das Pflegeproblem wird angegangen.
Es ist eine Tatsache, daß durch weiteres Einpumpen von mehr Geld mittels höherer Beitragssätze nicht in gleichem Maße mehr Gesundheit zu bekommen ist. Da erreichen Gesundheitsförderung, Vorsorge, gezielte Früherkennung auf Dauer mehr.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Das stimmt ja gar nicht, was Sie sagen!)

Der gezielte Gesundheits-Check-up wurde deshalb im Oktober 1989 eingeführt. Er wurde allgemein begrüßt.
Herr Dreßler und seine Genossen sprechen immer von einer „sogenannten" Gesundheitsreform. Nach ihrer Ansicht kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Die Reform beginnt aber zu wirken und beweist ihren Reformcharakter. Dieses Gesetz ist eine Reform mit mehr Gesundheitsförderung, mit mehr Vorsorge, mit mehr Früherkennung, mit mehr Rehabilitation, mit der Aufnahme neuer Herausforderungen wie dem Einstieg in die Pflegehilfe und mit dem Pflegeurlaub. Es ist eine Reform mit mehr Wirtschaftlichkeit, mit mehr Transparenz, mit einer Stärkung der Selbstverwaltung, so daß nicht mehr die einzelnen Kassen gegeneinander ausgespielt werden können. Es bringt mehr Qualitätssicherung in der Gesundheitsversorgung und verteilt die Lasten gerechter mit einem Beitrag aller im Gesundheitswesen Betroffenen. Dabei gibt es für den Schwächeren jedoch mehr soziale Absicherung durch die Einführung der Überforderungsklausel usw. Deshalb ist dies eine wirkliche Reform. Was soll also das Geschwätz von der „sogenannten" Reform?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von Anfang an war uns bewußt, daß diese erste Reformstufe eine Anlaufzeit von drei bis vier Jahren bis zur vollen Wirkung braucht. Die Opposition kann es aber in ihrer Ungeduld nicht abwarten. Sie wollte schon im vergangenen Herbst die Beitragssatzsenkungen sehen. Heute hat Herr Dreßler es wieder so gesagt.

(Heyenn [SPD]: Weil Sie Ihre Vorstellungen nicht eingehalten haben!)

In der Haushaltsrede vom 30. November führte er an — ich zitiere — : „Von den 268 Ortskrankenkassen können rund 50 die Beitragssätze geringfügig senken, und das war es dann auch schon."
Wenn Sie es denn wirklich wissen wollen: Am 1. Januar 1990 haben 81 Ortskrankenkassen, 74 Innungskrankenkassen und 136 Betriebskrankenkassen ihre Beiträge gesenkt, und zwar um 0,2 bis 2,4 Prozentpunkte. Außerdem haben fünf kleinere Ersatzkassen ihre Beiträge gesenkt. Die Kaufmännische Krankenkasse Halle kommt im Frühjahr nach. Die großen Ersatzkassen warten das Jahresergebnis 1989 ab, um dann über eine Senkung zu entscheiden.
Im abgelaufenen Jahr mußten zuerst die Belastungen durch vorweggenommene Leistungen im sogenannten Blüm-Bauch bei Zahnersatz, Hör- und Sehhilfen ausgeglichen werden. So ist zu erwarten, daß im Sommer weitere Krankenkassen ihre Beiträge senken werden. Das kommt dann auch den Rentnern zugute.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Lassen Sie doch die Rentner heraus! Die bezahlen doch doppelt und dreifach mehr!)

Das wichtigste Ergebnis und der größte Erfolg im abgelaufenen Jahr waren allerdings, daß die seit Jahren regelmäßigen Beitragssatzerhöhungen um 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte nicht stattfanden.

(Beifall bei der FDP — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das übersieht Herr Dreßler!)

Damit sparten die Beitragszahler, die Wirtschaft und auch die Rentner einen Betrag von rund 4 Milliarden DM. Genauso wird es in diesem Jahr sein. Mit den Worten von Herrn Dreßler: Das war es dann auch schon. Ich füge hinzu: ein voller Erfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Bundesarbeitsminister erwartet, daß den Krankenkassen 1989 über 8 Milliarden DM mehr an Einnahmen bleiben. Zur Hälfte kommt dies aus höheren Beitragseinnahmen dank der guten wirtschaftlichen Entwicklung, einer guten Wirtschaftspolitik und des Könnens und Fleißes der deutschen Unternehmen und Arbeitnehmer. Die andere Hälfte kommt aus echten Reformeinsparungen. Auch das ist ein Erfolg für die Finanzstabilität der GKV.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118800600
Herr Dr. Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner? —

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID1118800700
Herr Kollege Dr. Becker, können Sie, wenn Sie ständig von den großen Beitragssatzsenkungen sprechen, einmal sagen, wie hoch sich die Beitragssatzsenkungen in Mark und Pfennig beim Arbeitnehmer im Monat bei einem durchschnittlichen Beitragssatzrückgang von 0,1 % niederschlagen?

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1118800800
Sie haben es vorhin schon von Herrn Blüm gehört, und ich wieder-



Dr. Becker (Frankfurt)

hole es: Bei einem Durchschnittseinkommensbezieher liegt dieser Betrag, wenn die Beitragssatzsenkung bei 0,5 Prozentpunkten liegt, bei knapp 20 DM.

(Reimann [SPD]: Aber sie liegt doch nicht bei 0,5! — Kirschner [SPD]: Sie liegt doch bei 0,1!)

— Es ist so, daß da verschiedene Einkommen natürlich unterschiedlich gehandhabt werden.
Wer sich noch der Schlagworte und Medienberichte von 1988 erinnert, kennt die durchweg schlechten Aussagen zur Gesundheitsreform. Schlimm und unverschämt waren dabei manche Flugblätter auch von der SPD. Ich wiederhole dies nochmals: Denken Sie nur an Ihr bösartiges Pamphlet „Ab 1. Januar dürfen Sie nicht mehr krank werden!" , aber auch an die schäbigen Ergüsse aus der Leistungserbringerkorona, wie „Keine neuen Medikamente mehr gegen Krebs" oder „Wer jetzt krank wird, kann sich gleich erschießen" oder „Weil du arm bist, mußt du früher sterben" ! Mit solchen Parolen wurde die Atmosphäre vergiftet und nur den Kranken massiv angst gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie mußten dann glauben, sie könnten in Zukunft die Ausgaben für ihre Krankheit nicht mehr aufbringen.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das war die größte Sauerei! — Günther [CDU/CSU]: Ein schäbiges Spiel!)

Heute ist es darum ruhiger geworden, aber die Notwendigkeit des Gemeinwohlbezuges der Reform wird von vielen auch heute noch nicht erkannt. Die Opposition redet immer wieder von einer „Ellenbogengesellschaft", bei der die Starken die Schwachen auf die Seite drängen; dabei gab es noch nie so viele Hilfsdienste und Hilfswerke in unserem Volke wie zu dieser Zeit.
Bei unseren Reformen hatten wir gerade die sozial Schwachen und die chronisch Kranken im Auge, die nicht überfordert werden durften. Unser Sozialsystem ist ein Hilfssystem für die Schwachen, aber keinesfalls ein Ausnutzsystem. So gab es bei manchen praktizierten Formen der Vollversorgung öfters ein Übermaß, und die Cleveren suchten ihren Vorteil.
Hier führt die Opposition oft den Begriff der Solidarität an. Solidarität kann aber nicht heißen: alles fordern und erhalten, was es gibt, und die anderen haben es zu bezahlen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Wer verschreibt es denn?)

Solidarität umfaßt Rechte, aber auch Pflichten. Eine davon ist, mit den Mitteln fürsorglich und wirtschaftlich umzugehen. Solidarität und Sozialpolitik kann nicht heißen: immer mehr Geld ausgeben und die Ausgaben immer weiter steigern. Dies läuft bei den begrenzten Mitteln unter Garantie in das Defizit.
Eine Umverteilungsillusion, bei der nur aus der rechten Tasche in die linke Tasche verteilt wird, hilft hier überhaupt nicht.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Also andere Ärzte!)

Deshalb gehört zur Solidarität auch die Eigenverantwortung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß nur Lohnzuwächse mehr Beitrag einbringen, während mehr Freizeit nichts in die Solidaritätskasse einzahlt. Das müssen sich die Tarifpartner in Zukunft merken und auch beachten.
Zu einem Schlagwort besonderer Art hat die SPD das sogenannte Abkassieren gemacht. Sie meint, den Kranken werde nur tiefer in die Tasche gegriffen; sie redet von einer „Liste der Gemeinheiten". Inzwischen müßte aber auch die Opposition gemerkt haben, daß dies nicht stimmt. Die vielen Beschwerden von Pharmaunternehmen, Apothekern, Zahnärzten, Gesundheitsheilberufen und sonstigen Leistungserbringern zeigen, daß auch diese massiv zur Finanzstabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen müssen. Dafür hat das im Sozialismus übliche kalte Abkassieren durch Beitragssatz- und Steuererhöhungen aufgehört.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Hören Sie auf mit dem Sozialismus, verdammt nochmal! — Bohl [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)

Auch die unter der Koalitionsregierung seit Jahren steigenden Realverdienste und die real wachsenden Renten sind sozialer Fortschritt. Das Abkassiergeschwätz zur Reform ist falsch und schürt letzlich nur den Sozialneid.
Bei dem Festbetragskonzept bei Arzneimitteln lag die SPD von Anfang an falsch. Sie behauptete alles mögliche, z. B. daß es viel länger dauern würde, daß nichts dabei herauskäme und daß die Aktionen der Pharmaindustrie die Reform zunichte machen würden.

(Reimann [SPD]: Das stimmt doch alles!)

— Ich komme darauf noch zurück. — Im Ergebnis müßten die Patienten zuzahlen, sagten Sie.

(Reimann [SPD]: Auch das stimmt!)

Das Ganze läuft aber so gut, daß die Opposition eigentlich völlig perplex ist, wenn sie richtig nachdenkt.

(Frau Karwatzki [CDU/CSU]: So ist es! — Egert [SPD]: Was?)

Bisher wurden Festbeträge in drei Tranchen mit zusammen 24 Wirkstoffen für fast 4 000 Präparate und Dosierungsgrößen festgelegt. Im Zeitplan liegt die vierte Tranche mit sechs weiteren Wirkstoffen im Mai/ Juni, die fünfte Tranche mit 30 Wirkstoffen im Juli. Die sechste Tranche mit 60 bis 70 Wirkstoffen ist für den 1. Januar 1991 vorgesehen. Damit wären alle fest-betragsfähigen wirkstoffgleichen Arzneimittel innerhalb von zwei Jahren in das Festbetragskonzept eingebracht.
Der Vorteil für die Krankenkassen: Dies bedeutet für sie ein Einsparvolumen von nahezu 1,3 Milliarden DM. Der Vorteil für die Kranken: Sie brauchen für diese Mittel keine Zuzahlung mehr zu leisten.
Entgegen der Annahme der SPD hat die Pharmaindustrie inzwischen bei fast allen Festbetragsmitteln die Preise auf den Festbetrag gesenkt. Entgegen der Behauptung der SPD brauchen die Patienten hier deshalb keine Zuzahlung zu leisten, auch wenn ihnen das



Dr. Becker (Frankfurt)

Originalpräparat weiter verordnet wird. Auch hier wirkt die Reform. So ist es bei der SPD um Positivlisten, Arzneimittelinstitut und um das, was sie sonst noch alles vor hatte, merklich stiller geworden.
Inzwischen haben auch die Ärzte ihr Verordnungsverhalten geändert. Es erfolgen immer mehr Verordnungen von gleichwertigen Generika zum Vorteil des Einsparvolumens. Der Markt wirkt. Zwar versuchten einzelne, vor allem größere Pharmafirmen, ihre Rückgänge durch Preisanhebungen von nicht der Festbetragsregelung unterliegenden Präparaten zu kompensieren; Herr Dreßler sprach davon. Nur muß man dazu sagen: Nach der neuesten Mitteilung des wissenschaftlichen Institutes der Ortskrankenkassen vom 15. Januar — siehe erster Absatz — ist der Effekt, den Herr Dreßler vorhergesagt hat, nicht eingetreten. Die Wirkung liegt wesentlich niedriger.
Auf Grund der Tatsache, daß es solche Kompensationsmöglichkeiten gibt, begrüßen wir, daß die Vorarbeiten für die Festbetragsgruppen 2 und 3 inzwischen gut vorankommen und auch hier demnächst Festbeträge zu erwarten sind.
Inzwischen rechnet selbst die SPD mit 50 % aller Medikamente im Festbetrag; vor einem Jahr waren es in ihren Aussagen noch 20 bis 30 %. Wir nehmen aber 70 % an. Wir bleiben bei dieser Aussage und werden diesen Prozentsatz wahrscheinlich auch erreichen.
Das Festbetragskonzept ist erst komplett, wenn zu den die Preise regulierenden Festbeträgen, auch die Mengenbegrenzungskomponente durch die Verträge über Richtgrößen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei Ärzten hinzutreten. Dabei müssen diese Vereinbarungen zwischen Ärzten und Krankenkassen baldmöglichst geschlossen werden. Nach Aussage der Krankenkassen sind die Vorarbeiten bereits gut im Gange.
Inzwischen sind auch für die Hörhilfen in fast allen Bundesländern Festbeträge beschlossen worden. Im Durchschnitt liegen sie 20 % unter den früheren Preisen, und die Patienten brauchen nichts zuzuzahlen.
Auch die Härtefall- und Überforderungsregelungen haben sich inzwischen eingespielt. Die Krankenkassen haben ihren Ermessungsrahmen genutzt und besonders für die chronisch Kranken schonende Verfahren eingeführt. Das Nachweisheft ist gang und gäbe. Patienten, Krankengymnasten, Ärzte und Apotheker kommen damit zurecht, ohne daß dies die behauptete Bürokratieinflation zur Folge hätte. Die sozial Schwachen zahlen heute oft weniger als früher. Übrigens melden die Krankenkassen, daß auch die Härtefallregulierung von den Kranken besser genutzt wird.
Worauf wir jahrelang gewartet haben: Wegen der Unwirtschaftlichkeit wurden die ersten vier Krankenhausverträge gekündigt. Bei 20 weiteren Krankenhäusern läuft das Prüfverfahren. Werden auch im Krankenhausbereich die Wirtschaftlichkeitsreserven genutzt — da sind noch sehr viele vorhanden; ich erinnere nur an die Fehlbelegungen —, dann sind die Tariferhöhungen besser zu verkraften.
Meine Damen und Herren, vieles bleibt noch zu tun. Zahlreiche Verträge zwischen den Kassen und Leistungserbringern sind noch zu schließen. Aber heute, schon ein Jahr nach der Reform, kann gesagt werden: Diese Reform läuft gut. Sie stabilisiert die Finanzierung der Krankenversicherung, und sie überfordert nicht die Kranken.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118800900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.

Heike Wilms-Kegel (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118801000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja wirklich unglaublich: Jetzt hat Herr Blüm schon wieder versucht, uns weiszumachen, seine sogenannte Gesundheitsreform sei ein Erfolg.

(Günther [CDU/CSU]: Ist sie auch!)

Das wird doch noch nicht einmal von seinen Parteifreunden geglaubt. Ich denke nur an die vielen kritischen Zuschriften, deren Absender sich als CDU-Mitglied zu erkennen geben.

(Louven [CDU/CSU]: Das hat sich inzwischen aber gewaltig geändert, Frau Kollegin!)

Ich weiß wirklich nicht, warum Sie diese Gesundheitsreform als Erfolg bezeichnen. Ich weiß allerdings, für wen sie kein Erfolg ist.
Da ist z. B. dieses magische Stichwort Beitragssenkung. Doch trotz allem verzweifelten Abrakadabra erweist sich dieser Zauberversuch als totaler Flop.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist kein Versuch! Das findet statt!)

Weniger als 30 % aller Ortskrankenkassen konnten ihren Beitrag, wenn auch nur gering, senken. Bei anderen Krankenkassen sieht es noch viel schlechter aus, und Beitragssenkung, Herr Blüm, war doch eines Ihrer wichtigsten Ziele. Das haben Sie doch hier von diesem Platz aus dem Deutschen Bundestag und der Bevölkerung versprochen. Das war wohl nichts. Wieder einmal erweist sich eine Aussage von Ihnen als leeres Versprechen.

(Günther [CDU/CSU]: Können Sie nicht lesen? Das sind Tatsachenverdrehungen erster Klasse!)

Die Bürgerinnen und Bürger sind dabei ganz schön übers Ohr gehauen worden. Was glauben Sie denn, was Ihnen, Herr Blüm, ein Patient oder eine Patientin erzählen würde? Die sprechen nicht von Beitragsstabilität oder von miesen 0,5 % Beitragssenkung, falls sie zu den wenigen Glücklichen gehören, die in diesen Genuß kommen. Die rechnen Ihnen ganz einfach vor: Ich verdiene 2 000 DM brutto. Ein halbes Prozent hat es Beitragssenkung gegeben.

(Louven [CDU/CSU]: Also doch Beitragssenkung!)

Das bedeutet: Ich muß 5 DM weniger zahlen, mein Chef auch. Wenn ich jetzt aber krank werde, kostet mich das Gesundwerden wegen der 2 %igen Selbstbeteiligung achtmal mehr, nämlich 40 DM im Monat.



Frau Wilms-Kegel
Unter dem Strich muß ich also 35 DM drauflegen. Dafür soll ich Herrn Blüm noch dankbar sein?

(Kolb [CDU/CSU]: Sonst zahlt es die Solidargemeinschaft!)

Herr Blüm, so billig kommen Sie mir heute morgen nicht davon. Wollen wir doch einmal die Liste durchgehen und sehen, wer noch alles unter Ihnen und Ihrer angeblich erfolgreichen Gesundheitsreform zu leiden hat, wen Sie diskriminiert und benachteiligt haben, wen Sie verunsichert haben, wen Sie kränker gemacht haben. Wenn es nicht so makaber wäre, würde ich hinzufügen: wer unter Ihrem GesundheitsReformgesetz gestorben ist, noch dazu mit deutlich reduziertem Sterbegeld.

(Oh-Rufe bei der CDU/CSU und der FDP — Günther [CDU/CSU]: Unglaubliche Frechheit!)

Sie haben das reduzierte Sterbegeld immer wie eine Nebensache behandelt. Ist Ihnen denn nicht klar, daß das Leben von zahlreichen alten Frauen und Männern jetzt dadurch bestimmt ist, daß sie täglich in der Sorge leben, ob ihr Erspartes schon reicht, um eine würdige Beerdigung zu ermöglichen?

(Frau Unruh [fraktionslos]: Ja, das ist doch so!)

Ist Ihnen nicht klar, daß gerade bei alten Menschen die Frage des eigenen Begräbnisses und die Würde des eigenen Begräbnisses einen wirklich so hohen Stellenwert einnehmen, daß sie verzweifelt versuchen, von ihrer meist kargen Rente einen Sparstrumpf anzulegen, um das mikrige Sterbegeld auszugleichen?

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Die höchste Sparquote gibt es bei den Rentnern, Frau Kollegin!)

Diese Sterbegeldregelung ist geradezu zynisch für Parteien, die die Zusätze „christlich" oder „sozial" im Titel führen. Das ist nicht christlich und nicht sozial; das ist unchristlich und unsozial.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Unruh [fraktionslos]: Sehr richtig!)

Das, Herr Blüm, ist auch keine Problematik, die auf die leichte Schulter genommen und die mit irgendwelchen Zahlenbeispielen als Nebensächlichkeit abgetan werden darf.
Vielleicht ist Ihnen das alles aber auch gar nicht klar; denn Angehörige von Abgeordneten des Deutschen Bundestages erhalten nach deren Tod ein Vielfaches der Summe, die den Rentner und Rentnerinnen in der gesetzlichen Krankenversicherung zugestanden wird.

(Louven [CDU/CSU]: Es ist doch falsch, was Sie sagen! — Gegenruf der Frau Unruh [fraktionslos] : Das stimmt! )

— Oh nein, mehr als 2 050 DM sind es für Abgeordnete allemal.
Abgeordnete und Minister wissen natürlich auch nicht, wie chronisch Kranke mit der neuen Härtefallregelung leben müssen. Den Betroffenen mit 1 400 DM monatlicher Rente nützt es überhaupt nichts, wenn am Ende des Jahres eine Rückerstattung der vorfinanzierten Selbstbeteiligung winkt. Die Frage ist doch, ob sie am Anfang des Jahres das Opfer bringen können, das die Zuzahlungen ihnen abverlangen.

(Seehofer [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht notwendig! Das stimmt doch nicht! Schauen Sie mal ins Gesetz hinein!)

— Ich werde Ihnen das gleich an einem Beispiel deutlich erläutern.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Viele chronisch Kranke und Behinderte sind durch Ihr Gesetz gezwungen, die Behandlung auszuwählen, die ihnen ihr Portemonnaie noch erlaubt.
Mit diesem Gesetz haben Sie leider vielen Behinderten und chronisch Kranken den Zugang zur modernen Therapie mit ihren vielfältigen und umfassenden Behandlungsmöglichkeiten verschlossen.

(Kolb [CDU/CSU]: Hier darf jeder Unsinn gesagt werden! — Günther [CDU/CSU]: Mit einer Gelassenheit lügt die hier rum, das ist unglaublich!)

Die Frage heißt für diese Menschen heute nicht mehr:
Woher bekomme ich die beste Hilfe? sondern: Welche
Hilfe kann ich noch bezahlen? Eine Rückzahlung der
2 % übersteigenden Selbstbeteiligung am Jahresende nützt den Kranken überhaupt nichts, die sich bereits im Januar entscheiden müssen, ob sie vorhandenes Geld zum Gesundwerden oder zum Sattessen ausgeben wollen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Genau so ist das!)

— Es ist tatsächlich so. Sie wollen das offenbar verdrängen.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

Erzählen Sie mir nicht, Herr Blüm, daß die Krankenkassen gegenüber den chronisch Kranken besonders entgegenkommend sind!

(Günther [CDU/CSU]: Sind sie wohl!)

Als ich nach der Beinamputation meines Mannes vor einem Vierteljahr mit seiner Krankenkasse sprach, um die Übernahme der Taxikosten für die notwendige ambulante Gehschule mit der Prothese zu klären, erhielt ich die Auskunft, daß er die Taxifahrten voll vorzufinanzieren habe und am Jahresende zurückbekomme. Sie haben sich nicht nach meinem Einkommen erkundigt. Sie wußten überhaupt nicht, wer ich war; ich habe ja einen anderen Namensbeginn als mein Mann.
Das bedeutet konkret: Von 1 300 DM Rente hätte er 1 000 DM monatlich für Taxifahrten aufwenden müssen, oder er hätte die Therapie nicht in Anspruch nehmen können. Ich weiß von anderen, die mein Mann dort getroffen hat, daß es ihnen mit ihren Krankenkassen ähnlich gegangen ist.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Genauso ist das! — Günther [CDU/CSU]: Da muß man mit der Frau Wilms-Kegel Können Sie sich eigentlich vorstellen, welche Einbuße an Lebensqualität es in diesem Fall für einen Beinamputierten bedeutet, finanziell nicht in der Lage zu sein, die angebotene Hoffnung wahrzunehmen und eines Tages wieder mit zwei Beinen auf der Erde zu stehen? Ich weiß, daß gerade hier zahllose Patienten und Patientinnen verunsichert sind. (Frau Unruh [fraktionslos]: Sehr richtig! — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Sie haben sie verunsichert! — Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Das kann man aufklären!)




Aus meinem Kreisgebiet haben die Eltern eines krebskranken Kindes zum 1. Januar 1989 die Strahlenbehandlung abbrechen müssen, weil die Krankenkasse die Taxikosten für die ambulante Behandlung des Kindes nicht mehr übernommen hat.

(Frau Unruh [fraktionslos]: So ist das!)

Wenn wir vom Erfolg der Gesundheitsreform sprechen, so hat in diesen beiden Fällen die Gesundheitsreform jedenfalls zu einem Erfolg der Automobilindustrie geführt, denn in beiden Fällen mußte ein den Kranken angemessenes Auto gekauft werden.
Weiteren Erfolg auf dieser Ebene verbuchen die Kreditinstitute.

(Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Das ist widersinnig!)

Hier, Herr Blüm, haben Sie zweifellos eine Marktlücke entdeckt, nämlich die Finanzierung neuer Zähne. Auch wenn der Patient dabei nie genau weiß, wie viele Zähne in seinem Mund schon ihm und wie viele noch der Bank gehören, so darf er gewiß sein, über eine verfehlte Gesundheitspolitik zum Aufschwung des deutschen Kreditgewerbes beizutragen
— ein allerdings zweifelhaftes Vergnügen.
Daß die Ausgaben der Krankenkassen im Bereich des Zahnersatzes zurückgegangen sind, liegt sicher nicht daran, daß die Mehrheit der Bevölkerung zahnärztlich besonders gut versorgt ist, sondern daran, daß die meisten jetzt Betroffenen aus bitterer Not den Mut zur Lücke aufbringen müssen.

(Zurufe von der FDP — Frau Unruh [fraktionslos]: Das ist die alberne FDP da hinten! Ihr könnt das ja alle selbst bezahlen!)

In einem mir bekannten Fall hat die Krankenkasse eine junge alleinstehende Frau mit einem Nettogehalt von 1 800 DM kompromißlos vor die Wahl gestellt, die Kosten für den anstehenden Zahnersatz in Höhe von 2 500 DM sofort vorzufinanzieren oder auf den Zahnersatz zu verzichten.

(Reimann [SPD]: Mut zur Lücke!)

Nicht einmal Ratenzahlung wurde ihr zugebilligt.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Zu einem anderen Zahnarzt gehen!)

— Die Krankenkasse war das, Herr Cronenberg, nicht der Zahnarzt.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Die hat damit nichts zu tun!)

— Die Krankenkasse hat ihr die Vorfinanzierung auferlegt. Denken Sie, Herr Blüm, diese junge Frau preist die Gesundheitsreform? Glauben Sie, Herr Blüm, daß
diese junge Frau der CDU ihre Stimme gibt? So züchten Sie Ihre Protestwähler heran.

(Günther [CDU/CSU]: Das kann Ihnen doch recht sein!)

Oder glauben Sie, daß diese junge Frau für 5 DM Beitragssenkung dankbar ist?
Ich möchte Ihnen einmal eine Rechenaufgabe mit auf den Weg geben: Wie lange muß diese junge Frau die beim Krankenkassenbeitrag eingesparten 5 DM auf die Seite legen, bis sie die Summe von 2 500 DM zusammenhat, um ihren Zahnersatz zu finanzieren? Sie können mich gern anrufen, wenn Sie das herausgefunden haben.

(Lachen bei der CDU/CSU — Kolb [CDU/ CSU]: Wenn Sie die Grundrechenarten nicht beherrschen, ist das Ihr Problem!)

Bei der Rechnung dürfen Sie natürlich auch nicht vergessen, zu berücksichtigen, wie sich Löhne, Krankenkassenbeiträge und Selbstbeteiligung im Laufe dieser 40 Jahre entwickeln werden. Und jetzt habe ich Ihnen doch einen Tip gegeben.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Er hat mich so beleidigt! Er kriegt keinen Tip!)

Und weiter zum Thema Zuzahlungen. Sind Sie, Herr Blüm, eigentlich einmal in der letzten Zeit in einer Apotheke gewesen und haben in Ruhe den Gesprächen zugehört, die der Apotheker mit seinen Kunden führen muß? Diesen Wirrwarr von Rezeptgebühren, Festbeträgen und Zuzahlungen begreifen doch 90 % der Bevölkerung nicht. Das Hohe Haus mit seinen Regeln verbietet mir, hier Ausdrücke zu wiederholen, mit denen Ihre so hoch gepriesene Gesundheitsreform von den Kunden in Apotheken belegt wird. Sie selbst haben die Festbeträge ja immer als Ihre genialste Idee bezeichnet. Noch heute morgen haben Sie die popeligen 100 Millionen Einsparung wieder aufgerechnet und versucht, uns dies als grandiose Leistung zu verkaufen.
Ich stelle fest, Herr Blüm: Sie haben das Funktionieren des freien Marktes offenbar nicht begriffen. Die Festbeträge und ihre Folgen sind ein Musterbeispiel sozialer Marktwirtschaft. Natürlich hat es Preissenkungen auf Festbetragsniveau gegeben, aber natürlich haben die Hersteller auch die absolut legalen Möglichkeiten der Marktwirtschaft genutzt und die restlichen Arzneimittel drastisch im Preis gehoben. Damit kommen diese Arzneimittel den Krankenkassen und den Patienten und Patientinnen im Weg des Selbstversorgungsmarkts wesentlich teurer zu stehen.
Aber auch einige kleinere und einige mittelständische Unternehmen werden auf der Strecke bleiben. Und sicher ist: Diese Festbetragsregelung wird die lebensnotwendige Forschung für neue Medikamente, z. B. gegen AIDS, Krebs oder ähnliches, drastisch behindern.
So weit zu Ihrer genialen Idee.
Ich komme zu einem weiteren sehr traurigen Kapitel Ihrer Gesundheitsreform. Sie beklagen die hohen Kosten für die Behandlung bereits vorhandener Krankheiten und übersehen dabei, daß Sie durch die
Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990 14491
Frau Wilms-Kegel
Maßnahmen Ihrer Reform jegliche Initiative für private Prävention im Keim ersticken.
1988 hatten noch 740 000 Personen die Möglichkeit genutzt, eine ambulante Badekur durchzuführen und damit ihre Gesundheit zu fördern oder Beschwerden zu lindern. Sie wissen, daß das gerade im Bereich der chronisch Kranken ein ganz wesentlicher Aspekt ist. Nach Inkrafttreten der Gesundheitsreform haben Sie eiskalt 340 000 Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit genommen, Vorsorge für ihre Gesundheit zu betreiben. Das ist ein Rückgang um über 40 %.
Dadurch, Herr Blüm, machen Sie aus Leichterkrankten Schwerkranke, aus akuten Krankheitsfällen chronische Krankheitsfälle, aus hoffnungsvollen Patienten hoffnungslose Patienten.

(Hoss [GRÜNE]: Der hört gar nicht zu!)

Aber Sie zerstören nicht nur Hoffnung und Gesundheit der Betroffenen. Sie akzeptieren die Vernichtung von Vorsorge- und Präventionsmöglichkeiten, Sie akzeptieren die Vernichtung von selbständigen Existenzen und Arbeitsstellen, Sie akzeptieren die Vernichtung von Kur-Standorten allgemein. Das, Herr Blüm, ist nicht nur ein Gesundheitsvernichtungsgesetz, sondern auch ein Existenzvernichtungsgesetz.

(Reimann [SPD]: Ja!)

Aber Sie haben damals ja ein weiteres überwältigendes Versprechen abgegeben, nämlich die Festschreibung von großartigen Leistungen für Pflegebedürftige.
Die Zeitung „Leben und Weg" bezeichnet die für Pflegebedürftige angekündigten Leistungen als „Luftschloß besonderer Art". Und sie hat recht, denn weder eine anerkannte Schwerstbehinderung noch die Zahlung von Pflegegeld reichen aus, um die milden Gaben des Gesundheits-Reformgesetzes in Anspruch nehmen zu dürfen.
Wissen Sie eigentlich, Herr Blüm, welche Voraussetzungen Behinderte erfüllen müssen, um täglich eine von 24 Stunden Pflege finanziert zu bekommen, eine Stunde täglich, jedoch nicht mehr als 25 Stunden im Monat? Wissen Sie, Herr Blüm, welche Voraussetzungen das sind? Jemand, der sich noch kämmen oder rasieren oder waschen, der sich im Bett noch alleine umdrehen und seine — wie heißt es so schön — Notdurft ohne fremde Hilfe verrichten kann, der wird nicht in den Genuß Ihrer Wohltat kommen.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Richtig! Und das weiß er alles!)

Es ist leichter, von den Sozialhilfeträgern eine Pflege rund um die Uhr mit drei Zivildienstleistenden bezahlt zu bekommen, als von Ihnen eine Stunde am Tag.
Wenn Sie schon diese diskriminierenden Leistungen für erwähnenswert halten — die Behinderten empfinden dies exakt als diskriminierend — , dann sollten Sie als Mitglied einer christlichen Partei das nicht wie der Pharisäer in der Öffentlichkeit im Deutschen Bundestag tun, sondern demütig wie der Zöllner am besten im stillen Kämmerlein.
In sich gehen sollten Sie auch, Herr Blüm, wenn Sie die Folgen der Gesundheitsreform für die Naturheilkunde bedenken. Wie konnten Sie, Herr Blüm, meine
Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, damals ohne rot zu werden, behaupten, daß Sie die Naturheilkunde im Gesundheits-Reformgesetz festgeschrieben hätten,

(Günther [CDU/CSU]: Wollen Sie das auch schon wieder bestreiten?)

wobei ich offen zugeben möchte, daß vereinzelte Abgeordnete der Koalitionsfraktionen offenbar Zweifel an dieser Zusicherung hatten? Sie erinnern sich: Es gab auch aus Ihren Reihen Zustimmung zu den Änderungsanträgen der GRÜNEN zur Naturheilkunde. Hätten doch nur mehr Kolleginnen und Kollegen Lernfähigkeit und Einsicht bewiesen!

(Günther [CDU/CSU]: Würde Ihnen das mal widerfahren! Das wäre gut!)

Heute stehen wir vor der Katastrophe. Zunehmend lehnen Krankenkassen die Finanzierung naturheilkundlicher Behandlungsmethoden ab.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Richtig! — Frau Karwatzki [CDU/CSU]: Ist doch gar nicht wahr!)

Naturheilkundlich ausgerichtete Krankenhäuser und Sanatorien werden nicht mehr belegt und müssen geschlossen werden. Ich kann Ihnen gern die Adressen von einem halben Dutzend dieser Kliniken auf der Stelle geben.

(Frau Karwatzki [CDU/CSU]: Ja, geben Sie die mal!)

Ich denke nur daran, wie der Vater eines mir bekannten krebskranken 21jährigen Mannes entwürdigend die Mitarbeiter der AOK Neckar-Odenwald anflehen mußte, damit nach dem Versagen aller schulmedizinischen Behandlungsmethoden Kostenübernahme für eine biologische Krebsklinik gewährt wurde. Ich muß Ihnen sagen, mir ist es richtig übel geworden, als der Vater mir seine Behandlung durch den Vertreter der Krankenkasse geschildert hat. Erst meine Visitenkarte veranlaßte ein Umdenken der Krankenkasse. Aber da war es für den jungen Mann leider bereits zu spät.
So, Herr Blüm, sind die Auswirkungen Ihrer Gesundheitsreform für die Naturheilkunde,

(Günther [CDU/CSU]: Schäbige Beispiele!)

naturheilkundliche Therapien und naturheilkundliche Kliniken und für die Menschen, die letztlich die Opfer sind. Der Titel dieser Tragödie heißt „Krankheitsförderungsgesetz". Und wer, Herr Blüm, ist hier der Drahtzieher, wer ist der Täter?

(Louven [CDU/CSU]: Sie sollten sich was schämen! — Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/ CSU]: Sie machen mit schweren Schicksalen Politik! Einer Ärztin unwürdig! — Dr. Hoffacker [CDU/CSU]: Als Ärztin müßten Sie es viel besser beurteilen können!)

— Ich weiß, daß Sie diese Beispiele, die ich in diesem Fall nicht durch Zuschriften erhalten habe, sondern die ich durch Dabeigewesensein kenne, die einfach da sind, für besonders schlimm und treffend halten. Deswegen kann ich mir auch Ihre Zwischenrufe erklären.



Frau Wilms-Kegel
Wes Geistes Kind Sie wirklich sind, haben Sie gezeigt, als Sie den Entwurf der Negativliste vorgelegt haben.

(Louven [CDU/CSU]: Das haben Sie gezeigt!)

Sie hätten offenbar, wenn das nicht noch rechtzeitig verhindert worden wäre, mit dieser Negativliste mit einem großen Schlag einen Großteil der Naturheilkunde vernichtet. Sie, Herr Blüm, sind kein Erhalter der Naturheilkunde, Sie sind ein Zerstörer. Aber das verspreche ich Ihnen, Herr Blüm: Für uns wird dies ein heißes Thema im Wahlkampf werden.
Nachdem ich all dies aufgezählt habe, ist es mir schleierhaft, woher Sie die Dreistigkeit nehmen, als Überschrift für die heutige Veranstaltung den Titel „zu den Erfolgen der Gesundheitsreform" zu wählen. Wo mögen bloß Ihre Kriterien für Erfolg sein?
Andererseits finde ich es natürlich auch gut, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, die tragischen Folgen Ihres Machwerkes, genannt Gesundheitsreform, an zahlreichen Einzelbeispielen belegen zu können.
Sie haben immer gesagt: „Auch in Zukunft wird jeder das bekommen, was er braucht." Nach einem Jahr können wir feststellen: Unsere Prophezeiungen haben sich erfüllt. Der Weg in die Zwei-Klassen-Medizin hat begonnen.

(Günther [CDU/CSU]: So ein Unfug!)

Und sagen Sie nicht: Ich konnte das nicht ahnen. — Wir haben Sie davor gewarnt. Die Bevölkerung hat es mittlerweile bitter gespürt. Sie hat Ihnen die Quittung auf dem Wahlzettel gegeben.

(Günther [CDU/CSU]: Sie hat gehört, daß Sie Blödsinn reden!)

Berlin, Baden-Württemberg, Europawahl sind die ersten Beispiele. Nordrhein-Westfalen und weitere Länder werden folgen.
Wir geben Ihnen aber eine Chance.

(Günther [CDU/CSU]: Tatsächlich?)

Wir vergessen nicht, welche schmerzlichen Folgen das Gesundheits-Reformgesetz bereits im vergangenen Jahr gehabt hat. Aber wir haben heute einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem das Gesundheits-Reformgesetz zurückgenommen und zunächst der alte Zustand wiederhergestellt werden soll. Dann sollten wir über eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens in aller Ruhe beraten.

(Louven [CDU/CSU]: Dreimal dürfen Sie raten, wie wir abstimmen!)

Wenn wir alle wollen, können wir statt zu einer Deformierung zu einer Reformierung des Gesundheitswesens kommen.
Ich kann jetzt, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nur alle einladen, unserem Antrag auf Rücknahme des Gesundheits-Reformgesetzes zuzustimmen.

(Louven [CDU/CSU]: Das werden wir nicht tun!)

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1118801100
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Cronenberg.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118801200
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mir, möchte ich Ihnen die Frage nach dem Sinn der heutigen Debatte stellen.

(Beifall des Abg. Heyenn [SPD])

Soll eine objektive Bestandsaufnahme mit kritischer Überprüfung vorgenommen werden, insbesondere dort, wo Neues gewagt, wo Strukturen im Gesundheitswesen verändert wurden, oder soll es eine Debatte werden wie bei der Verabschiedung des Gesetzes?
Wir hätten die Chance, ernsthaft zu erörtern, ob das Gesundheits-Reformgesetz den Erwartungen der Mehrheit des Hauses entspricht.

(Heyenn [SPD]: Nach dieser Regierungserklärung geht das nicht mehr!)

Wir hätten die Chance, unsere Erfahrungen ernsthaft auszutauschen,

(Egert [SPD]: Dann hättest du deine Rede vor dem Minister halten müssen!)

die wir in Diskussionen mit Patienten, Leistungserbringern und Angehörigen der Kassenverwaltung gewonnen haben.

(Egert [SPD]: Nun ist es zu spät!)

Wir können aber auch die uns von der Opposition aufgezwungene ungewöhnlich polemische und unsachliche

(Egert [SPD]: Wer hat hier den Anfang gemacht? Dazu hat dieser Minister die Vorlage geliefert!)

und, wie ich meine, überflüssige Auseinandersetzung wie in der Vergangenheit fortsetzen. Ich bedaure sehr, daß nicht nur der letzte Beitrag, sondern auch der Beitrag von Rudolf Dreßler nichts Gutes versprochen hat.

(Egert [SPD]: Und vom Minister kein Wort! — Heyenn [SPD]: Selektive Wahrnehmung!)

Wenn die Debatte so geführt werden soll, hätten wir uns — mit Verlaub — diese Debatte ersparen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Becker [Nienberge] [SPD]: Und der Minister? — Egert [SPD]: Dieser Vortrag ist doch peinlich!)

Erinnern wir uns! Tatsache ist, daß vor der Detaildiskussion über das Gesundheits-Reformgesetz alle Beteiligten — ich wiederhole: alle Beteiligten — über zwei Punkte einig waren. Es sollten der überproportionale Anstieg der Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherungen und damit der Beiträge gestoppt werden. „So geht es nicht weiter", war links und rechts im ganzen Hause zu hören. Das war übereinstimmende Meinung. Zweitens sollte nicht nur ein Kostendämpfungsgesetz verabschiedet werden, son-



Cronenberg (Arnsberg)

dern die Strukturen im Gesundheitswesen insgesamt sollten überprüft und da, wo notwendig, verändert werden.
Ich hoffe bei denjenigen im Hause Zustimmung zu erhalten, die sich um Objektivität bemühen, wenn ich jetzt feststelle, daß wir beide Forderungen im Gesetzgebungsverfahren nicht aus den Augen verloren haben und daß wir diesen Ansprüchen in weiten Teilbereichen gerecht geworden sind. Ich möchte das auch belegen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Verehrte Kollegen, insbesondere verehrte sozialdemokratische Kollegen, die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt belasten einen Arbeitnehmer bei einem Einkommen von rund 57 000 DM — das ist die Versicherungspflichtgrenze — im Jahr mit 10 000 DM. Der Arbeitgeber zahlt nochmals die gleiche Summe von 10 000 DM. Diese Zwangsbeiträge reduzieren das frei verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer auf unerträgliche Weise. Die Arbeitnehmer erhalten heute nur noch zirka ein Drittel von dem ausgezahlt, was sie im Arbeitsprozeß geleistet haben.
Rechnen Sie einmal nach: 1 000 DM Bruttolohn lösen fast 1 000 DM zusätzliche Kosten in Form von tariflichen Leistungen und gesetzlich vorgeschriebenen Abgaben für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ohne Berufsgenossenschaft aus. Der Arbeitnehmer selbst erhält von diesen 2 000 DM, die er erarbeitet hat, nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und Steuern 620 DM bis 650 DM ausgezahlt. Das ist meiner festen Überzeugung nach im Verhältnis zu seiner Leistung viel zu wenig. Der ungebremste Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge wäre ein weiterer Schritt zu dieser Taschengeldgesellschaft. Niemand kann bestreiten — auch Rudolf Dreßler nicht und auch nicht Sie, Frau Wilms-Kegel —, daß erstmals seit langer, langer Zeit Beitragsstabilität im Lande herrscht, daß die Beiträge nicht steigen, sondern teilweise in nicht unerheblichem Umfang gesunken sind. Wer ehrlich und fair rechnet, darf nicht nur die 3,50 DM oder die 10 DM Ersparnis einbeziehen, sondern auch die Steigerungen in überdurchschnittlicher Höhe, die vorprogrammiert waren. Dann kommen Sie auf Beträge von 40 DM bis 50 DM.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Das ist Statistik! Die Frage ist, was dahintersteckt!)

Ich meine, diese Entwicklung sollte den Beifall der Gewerkschaften und derjenigen finden, die sich angeblich oder tatsächlich besonders den Arbeitnehmerinteressen widmen. Diesen Beifall, meine Damen und Herren, vermisse ich bedauerlicherweise. — Sei's drum!

(Frau Unruh [fraktionslos] : Für was denn, wenn sie 2 000 DM ausgeben müssen?)

Die Beitragsstabilität ist unbestritten. Nun kann man sich fragen: Ist das Leistungsniveau unzulässig eingeschränkt, oder haben wir uns etwa falscher Instrumente bedient, um dieses Ziel zu erreichen? Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu der Ärztin Frau Wilms-Kegel stelle ich hier fest: Die medizinische Versorgung wird in diesem Lande nach wie vor auf einem weltweit hohen Niveau von ordentlichen Leistungserbringern vorbildlich erbracht.

(Frau Wilms-Kegel [GRÜNE]: Wer sich die Taxikosten leisten kann!)

Ich lasse das nicht durch Sie und andere kaputtreden.

(Beifall bei der FDP)

Das wissen die Menschen draußen. Wer sich in den Wartezimmern umhört, mit den Leuten vor Ort spricht, der spürt nach den düsteren Ankündigungen, die wir landauf, landab gehört haben, sehr viel Überraschung, und zwar im positiven Sinne. Meine Damen und Herren, wer behauptet, daß notwendige medizinische Leistungen nicht erbracht werden, ist beweispflichtig. Ordentliche Beweise aber sind auf meinem Schreibtisch und auch bei anderen von uns bisher nicht „gelandet" .

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich fühle mich verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß diejenigen — wie soeben Frau Wilms-Kegel — , die im Zusammenhang mit Krankheit aus wahltaktischen Gründen polemisieren und kranke Menschen bewußt verunsichern, den Patienten schaden. Ich halte das für bedauerlich und für unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist einer Ärztin unwürdig!)

Ich will es Ihnen an einem Beispiel klarmachen: Im Rehabilitationsbereich sind Anträge um ein Drittel, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zurückgegangen, obwohl wir an den bestehenden Vorschriften nicht ein Komma geändert haben, obwohl der Grundsatz „Rehabilitation geht vor Rente" völlig unangetastet geblieben ist. Nur auf Grund dieser Verunsicherungskampagnen hat man das heruntergedrückt — ein ungewünschter Einspareffekt in diesem Zusammenhang, für den Sie verantwortlich sind.

(Günther [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Niemand kann bestreiten, daß die notwendigen Leistungen nach wie vor erbracht werden, die Beiträge aber dennoch sinken und, vor allen Dingen, stabil geblieben sind.
Auch der Vorwurf, Menschen mit geringerem Einkommen würden durch das GRG zusätzlich belastet, ist unseriös und falsch. Denn es gibt — das ist auch der Opposition bekannt — eine wirksame, dynamische Härtefallregelung. Frau Wilms-Kegel, die Verunsicherung von chronisch Kranken, wie sie soeben vorgenommen worden ist, ist ungerechtfertigt und falsch. — Ich bedaure, daß Sie sich nicht der Mühe unterziehen, noch einmal zuzuhören. Vielleicht habe ich mich geirrt, wenn ich mir die Mühe gemacht habe, Ihnen zuzuhören. Aber mir tut es nachträglich trotzdem nicht leid; denn sonst könnte ich diese Widerlegung hier nicht vornehmen. — Entweder, Frau Wilms-Kegel, kennen Sie das Gesetz nicht — dann sind Sie Ihrer Aufgabe als Abgeordnete nicht gerecht geworden, wenn Sie hier zu der Sache sprechen wollen —,



Cronenberg (Arnsberg)

oder Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Ich möchte das mit dieser Deutlichkeit feststellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Heyenn [SPD]: Wie war denn das mit der Sachlichkeit?! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Auch die These, das GRG sei ein reines Kostendämpfungsgesetz, ist falsch.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Renger)

Sie ist auch dann, verehrte Kolleginnen und Kollegen, falsch, wenn ein so kluger und seriöser Mann wie Herr Forster dies in der „Süddeutschen Zeitung" behauptet. Niemand bestreitet, daß das GRG kostendämpfende Maßnahmen in erheblichem Umfang beinhaltet; das war auch gewollt.

(Günther [CDU/CSU]: Ja, war auch gewollt!)

Auch die strukturellen Veränderungen sollen letztlich der Beitragsstabilität und der Kostendämpfung dienen. Auch das wird überhaupt nicht bestritten; das steht sogar in der Zielvorstellung.

(Abg. Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Bitte sehr. — Aber nur, Frau Präsidentin, wenn es mir nicht angerechnet wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118801300
Aber selbstverständlich, es wird nicht angerechnet.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118801400
Herr Kollege Cronenberg, wenn Sie hier so ungeheuerliche Vorwürfe gegen die Kollegin Wilms-Kegel erheben — —

(Lebhafter Widerspruch bei der FDP und der CDU/CSU)

— Es ist ungeheuerlich, wenn er meint, beurteilen zu können, ob sie ihrer Abgeordnetentätigkeit gewachsen sei oder nicht. Ich glaube, das ist in diesem Haus üblich.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118801500
Ich kann kein Wort verstehen, die anderen wahrscheinlich auch nicht. Würden Sie es bitte wiederholen, Frau Kollegin.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118801600
Ja. — Wenn Sie hier solche ungeheuerlichen Vorwürfe gegen meine Kollegin Wilms-Kegel richten, dann möchte ich Sie bitten, sich mit den Beispielen, die sie dargelegt hat, im einzelnen auseinanderzusetzen und sie inhaltlich
— nicht allgemein — zu widerlegen. Sind Sie bereit, das zu tun?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118801700
Abgesehen davon, daß in der Fragestellung, Frau Kollegin, eine Unterstellung, nämlich „ungeheuerlich", steckt — ich bedaure, das ist nicht „ungeheuerlich", sondern wahr —, bin ich dazu selbstverständlich bereit. Ich werde in meinen weiteren Ausführungen auf viele der von ihr hier angesprochenen Punkte eingehen. Selbstverständlich, das ist meine Pflicht.
Also, niemand kann bestreiten, daß in dem Gesundheits-Reformgesetz kostendämpfende Maßnahmen enthalten sind. Und auch die strukturellen Veränderungen dienen, wie gesagt, der Beitragsstabilität. Nicht allen mögen diese strukturellen Veränderungen passen; das kann schon sein. Aber wer will denn bestreiten, daß sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen, die von Frau Wilms-Kegel soeben bestritten worden sind, eine strukturelle Veränderung sind, nach meiner Bewertung eine positive.
Wer will bestreiten, daß die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, verehrte Kollegen aus der sozialdemokratischen Fraktion, im Zusammenhang mit der Versicherungspflicht eine strukturelle Veränderung ist? Wer will bestreiten, daß die Einführung der Kostenerstattung bei Zahnersatz oder kieferorthopädischer Behandlung, ob sie einem paßt oder nicht, eine beachtliche strukturelle Veränderung ist? Ich sehe darin sogar eine bedeutsame Weichenstellung für die Zukunft im Sinne richtiger und vernünftiger Gesundheitspolitik.
Wer will bestreiten, daß der höhere Erstattungssatz der Kassen für Zahnersatz bei regelmäßiger Vorsorge eine strukturelle Veränderung ist? Wer will bestreiten, daß die Einführung von Festbeträgen für Medikamente und Hilfsmittel eine strukturelle Veränderung und, wie ich meine, eine ordnungspolitisch richtige Weichenstellung ist? Ich betone: die Einführung von Festbeträgen und nicht von Festpreisen. Die Preishoheit bleibt nach wie vor bei den Herstellern. Die Pharmaindustrie hält dies übrigens für ein teuflisch wirksames Instrument und hat uns zum Vorwurf gemacht, das dies eine unerträgliche, aber strukturelle Veränderung sei.
Die Alternativen der SPD-Fraktion sind da doch wohl folgende: Die Therapiemöglichkeiten der Kassenärzte sollen auf 2000 Medikamente beschränkt werden.

(Günther [CDU/CSU]: 4 000 mit Festbeträgen!)

Wie das wiederum mit den Ausführungen von Frau Wilms-Kegel über Therapiefreiheit im Zusammenhang mit Naturheilmitteln vereinbar ist, ist eine andere Frage.

(Heyenn [SPD]: Wo steht das?)

— Aber ihr tretet doch immer für eine Positivliste ein.

(Heyenn [SPD]: Aber wo steht das mit den 2 000?)

— Okay, sagen wir 2500; da bin ich ja nicht kleinlich.

(Heyenn [SPD]: Ich wollte nur mal testen, wie seriös Sie sind!)

Lieber Herr Kollege Heyenn, lesen Sie sich einmal durch, was die SPD in ihrem übrigens sehr ordentlichen und richtigen Bericht zur sozialpolitischen Lage in der DDR in diesem Zusammenhang sagt und wie sie sich da zu den Ergebnissen von Positivlisten in der DDR äußert.
Ich meine, die Festbeträge garantieren die auch von Ihnen, Frau Wilms-Kegel, gewünschte therapeutische Vielfalt. Die Grundlage dafür ist eine möglichst



Cronenberg (Arnsberg)

forschungsintensive und möglichst mittelständisch strukturierte Pharmaindustrie.

(Frau Wilms-Kegel [GRÜNE]: Aber genau die wollen das doch nicht!)

Hieran ist niemand mehr interessiert als die der Marktwirtschaft verpflichteten Liberalen. Aber deswegen ist es für uns ebenfalls selbstverständlich, daß wir uns immer und überall für eine ausreichende wirtschaftliche Nutzung von Forschungsergebnissen eingesetzt haben und dies auch in Zukunft tun werden. Beweis: Zweite AMG-Novelle 1986.
Ebenso richtig ist es meiner Meinung nach auch, daß, nachdem die Laufzeiten der Schutzrechte abgelaufen sind, sich die Hersteller dem harten Konkurrenzdruck von Nachahmern aussetzen müssen. Das ist in allen Bereichen der Wirtschaft der Fall, und davor soll auch die Pharmaindustrie nicht geschützt werden.
Die Weiterentwicklung der Festbeträge muß natürlich auch garantieren, daß sie letztendlich dem Wettbewerb dienen und nicht sozusagen ungewollt durch falsche Festsetzung eine Monopolisierung auf der Anbieterseite, wie dies im Hörgerätesektor jedenfalls regional zu befürchten ist, zur Folge haben.
Ich habe das deswegen so ausführlich dargestellt, weil wir ja besonders im Zusammenhang mit den Festbeträgen massiv angegriffen worden sind und weil dies auch heute wieder geschehen ist; ich meine, zu Unrecht.
Ich möchte das Kapitel, verehrte Kollegen aus der SPD-Fraktion, nicht abschließen, ohne die Gelegenheit wahrzunehmen, mich bei einer wachsenden Anzahl von Kollegen aus der SPD-Fraktion dafür zu bedanken, daß sie zumindest in persönlichen Gesprächen zu erkennen geben, daß diese ordnungspolitische Weichenstellung nicht so dumm und falsch ist, wie dies ursprünglich von ihnen angenommen worden ist. Daß das heute noch nicht öffentlich gesagt wird, sei ihnen großmütig verziehen.
Meine Damen und Herren, zurück zu den strukturellen Veränderungen. Es ist auch eine strukturelle Veränderung, wenn der Arzt auf gesetzlicher Grundlage das Recht hat, den Apotheker an der Arzneimittelauswahl zu beteiligen. Auch die Möglichkeit für die Kassen, ein Rückvergütungssystem zu erproben, beweist den Willen des Gesetzgebers, die Strukturen zu verändern. Ich meine daher schon, daß wichtige Teile des Gesetzes durchaus den Namen Strukturreform verdienen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

An dieser Stelle auch ein offenes Wort zu der unsinnigen These, wir hätten die kleinen Leute geschröpft.
Meine Damen und Herren, alle notwendigen Leistungen werden nach wie vor erbracht, und zwar auf einem Niveau, das sich weltweit sehen lassen kann; es ist nach meiner festen Überzeugung das höchste Niveau, das es überhaupt gibt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bis auf zusätzliche Pflegeleistungen, so unzureichend
sie Ihnen erscheinen mögen, und die sinnvollen Vorsorgemaßnahmen erhält niemand, der Leistungen im Gesundheitswesen erbringt, mehr. Das heißt, alle Einsparungen, von wem auch immer und in welcher Form sie auch immer erbracht worden sind, kommen ausschließlich den Beitragszahlern und den Patienten zugute.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch nicht bestreiten, daß wir, die Mehrheit, die Koalition, nicht alle unsere Hausaufgaben erledigt haben. Eine Strukturreform in den Krankenhäusern ist in der nächsten Legislaturperiode für mich unverzichtbar. Zwar haben wir auch in der stationären Versorgung einige strukturelle Veränderungen vorgenommen, deren Qualität unterschätzt wird. Zum Beispiel haben die Krankenkassen gegenüber unwirtschaftlichen Krankenhäusern ein Kündigungsrecht erhalten. Norbert Blüm hat soeben an konkreten Beispielen nachgewiesen, daß das — ich sage ganz offen, zu meiner Überraschung — im Einzelfall auch funktionieren kann. Aber das reicht mir nicht aus.
Der Arzt ist z. B. verpflichtet, in Zukunft bei der Einweisung in ein Krankenhaus einen Preisvergleich anzustellen. Wenn er das nicht tut bzw. wenn der Patient in ein anderes, teureres Haus will, dann soll das nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft der Beitragszahler geschehen, sondern dann soll er die Differenz selber zahlen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber all das reicht nicht aus, um einen wirksamen Wettbewerb der Krankenhäuser untereinander zu fördern.
Die Kürze der Redezeit erlaubt es mir nicht, Ihnen hier ein vollständiges Konzept vorzutragen. Ich möchte daher nur einige Stichworte nennen: degressive Pflegesätze, monistische Finanzierung, echte Vertragspartnerschaft Krankenkassen/Krankenhäuser, Rationalisierung der Nutzung der technischen Einrichtungen, Spezialisierung, Verweildauer. Dies alles muß auch in Zusammenarbeit mit den Ländern — leider geht es nicht ohne sie, Herr Kollege Seehofer, sonst wären wir schon einen Schritt weiter — angepackt werden.
Darüber hinaus sind sich alle Beteiligten darüber einig, daß wir eine Organisationsstrukturreform brauchen. Auch hierzu nur wenige kurze Bemerkungen. Das Ziel unserer Bemühungen im Zusammenhang mit der Organisationsstrukturreform muß es sein, auch in der heutigen Pflichtversicherung den Wettbewerb zwischen Krankenkassen und Kassenarten zu fördern. Dabei sollten die Versicherten nicht so sehr auf das Marketing der Kassen, sondern vor allen Dingen auf den Beitragssatz schauen. Ich bin überzeugt, daß der Wettbewerb um die Versicherten — um die Angestellten, um die Arbeiter — nur dann wirksam werden kann, wenn die Arbeiter und Angestellten viel größere Wahlmöglichkeiten haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen m. E. die Wahlmöglichkeiten für die Versicherten kräftig erweitern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aus dem geschlossenen System ein offenes machen!)




Cronenberg (Arnsberg)

Im Grunde geht es den Gesetzgeber doch verdammt wenig an, in welcher Kasse der einzelne versichert ist. Entscheidend ist doch nur, daß er in einer ordentlichen Kasse ausreichend versichert ist. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dabei ist es für mich unverzichtbar, daß das Prinzip der Familienmitversicherung nicht eingeschränkt wird; das ist ganz selbstverständlich.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nach diesen ungeheuer polemischen Auseinandersetzungen um das Gesundheits-Reformgesetz befürchte ich, daß es uns bei der Organisationsstrukturreform ähnlich gehen wird. Bei der Verkündung der allgemeinen Grundsätze — wie etwa mehr Wahlfreiheit für den einzelnen — ist der Beifall groß. Wenn man dann die Dinge im Detail konsequent realisieren will, dann ist der Krach groß. Aber ich bin überzeugt, daß der Ärger und der Krach, die damit verbunden sein werden, durchgestanden werden müssen. Sie müssen durchgestanden werden, um unser freiheitliches Gesundheitssystem — mit Therapiefreiheit und freier Arztwahl —, das, wie gesagt, in der Welt einmalig ist, zu erhalten und auszubauen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

All unsere Bemühungen müssen einem Ziel dienen: der Erhaltung und dem Ausbau dieses freiheitlichen und leistungsfähigen Gesundheitssystems mit optimaler Versorgung zu möglichst niedrigen Beiträgen. Dazu müssen auch die Versicherten ihren Beitrag leisten, auch durch materielle Anreize motiviert werden.

(Buschfort [SPD]: Je größer die Selbstbeteiligung, um so größer die Freiheit, nicht wahr?)

— Nein, Herr Kollege Buschfort, sondern eine zumutbare Selbstbeteiligung als Motivation, keinen Mißbrauch zu treiben und die Solidargemeinschaft vor unnützen Ausgaben zu bewahren, unter Berücksichtigung von Härtefall- und Überforderungsklauseln — dreimal ja!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD)

Dabei vertrauen wir auf marktwirtschaftliche Steuerungselemente, auf ökonomische Anreize und auf das Verantwortungsbewußtsein aller Beteiligten.
Mir, uns Liberalen, sind freiberuflich niedergelassene, eigenverantwortlich tätige Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Masseure, Krankengymnastinnen und selbständig arbeitende Optiker, Zahntechniker und Orthopäden dreimal lieber als eingesetzte Vollzieher eines wie auch immer ausgestalteten regionalen Bedarfsplans, wie er uns von der SPD angedient wird. Ich bin davon überzeugt, daß ein im SPD-Bedarfsplan vorgesehener quasi beamteter einkommens- und leistungsgedeckelter, in seiner Therapiefreiheit eingeschränkter Arzt uneffektiver und teurer, ein demotivierter Mann bzw. eine demotivierte Frau ist.
Meine Damen und Herren, ich habe das, was ich gerade gesagt habe, in den Debatten um das Gesundheits-Reformgesetz erklärt. Ich bin froh, daß ich es genauso und mit der gleichen Deutlichkeit heute hier wiederholen kann.
Zum Schluß: Wir haben Entschließungsanträge von der Opposition vorliegen, die selbst im Stil eigentlich nicht der Form des Hauses entsprechen: „Sogenannte Gesundheitsreform" ist einfach nicht der Stil des Hauses. Selbst wenn Sie nicht mit allem einverstanden sind, hätten Sie darauf verzichten können. Wir haben noch einen weiteren Entschließungsantrag vorliegen. — Aber trotz alledem plädiere ich dafür, die Entschließungsanträge zur Beratung in die Ausschüsse zu überweisen.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118801800
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118801900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer wie Herr Cronenberg über die angebliche Polemik der Opposition Krokodilstränen weint und den Bundesarbeitsminister nicht erwähnt, der hier immerhin an unsere Adresse von „Spitzenleistungen der Unverschämtheit" gesprochen hat, der kann noch so gutgemeinte Aussagen anschließen, ohne daß die Opposition dann bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen, Herr Cronenberg.

(Beifall bei der SPD)

Eine sachliche Debatte setzt auch einen sachlichen Einstieg Ihrerseits voraus. Sie haben Ihr Ziel mit diesen Ausführungen verfehlt.
Wir haben vor einem Jahr, genauer: am 25. November 1988, in der zweiten und dritten Lesung zum sogenannten Gesundheits-Reformgesetz gesagt: Dieses Gesetz geht an den eigentlichen Problemen des Gesundheitswesens vorbei. Wir haben zweitens ausgeführt: Das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz ist gesundheitspolitisch schädlich. Wir haben drittens gesagt: Das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz ist sozialpolitisch ein schwerwiegender Rückschritt.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist alles falsch!)

Wir haben viertens ausgeführt: Das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz schließt sich nahtlos an die unsoziale Steuerreform an: Den Kleinen wird genommen, und den Großen wird gegeben.

(Günther [CDU/CSU]: Auch das ist falsch!)

Wir haben von diesen Aussagen nichts, überhaupt nichts zurückzunehmen.

(Beifall bei der SPD)

Aber was sagt der Bundesarbeitsminister nach einem Jahr? Wir haben es hören müssen: Die heutige Regierungserklärung zu den angeblichen Erfolgen der sogenannten Gesundheitsreform ist doch gleich in mehrerlei Hinsicht merkwürdig gewesen.
Merkwürdig war zunächst die Überschrift, Herr Blüm: Sie sprechen von Erfolg. Nach meinem Empfinden hat jemand Erfolg, der sein Ziel erreicht. Wer die Zahlen dieser sogenannten Gesundheitsreform nach einem Jahr analysiert, wird feststellen, daß Sie mit Ihrem Gesetz das Ziel verfehlt haben, und zwar um Längen.
Kein noch so eilfertiges Selbstlob kann doch darüber hinwegtäuschen, daß die von Ihnen, von CDU/



Heyenn
CSU und FDP, bei den Gesetzesberatungen angekündigten Beitragssenkungen in der Krankenversicherung von durchschnittlich 0,7 Prozentpunkten zum 1. Januar 1990 bei weitem nicht eingetreten sind. Es sind allenfalls 0,15, wahrscheinlich eher 0,1 Prozentpunkte. Oder anders ausgedrückt: zu 80 % das Ziel verfehlt, zu 20 % das Ziel erreicht.
Der Bundesarbeitsminister, meine Damen und Herren, gleicht einem Hundertmeterläufer, der nach 20 Metern jubelnd die Arme hochreißt, der — —

(Zuruf des Abg. Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU])

— Herr Dr. Becker, stellen Sie eine Zwischenfrage, aber lassen Sie dieses lange Polemisieren von der Bank sein!

(Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Das ist kein Polemisieren! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich fange noch einmal an, ich fand das nämlich so gut. Sie gleichen einem Hundertmeterläufer, Herr Bundesarbeitsminister, der nach 20 Metern jubelnd die Arme hochreißt und laut verkündet, er habe gewonnen.

(Zuruf von der SPD: So ist das! Schönes Bild! — Zurufe von der CDU/CSU)

Merkwürdig ist doch, daß Sie geflissentlich um die Hauptursache des Beitragssatzrückganges, der — ich wiederhole — weit hinter Ihren Versprechungen zurückbleibt, herumreden. Die kräftig sprudelnden Beitragseinnahmen und die damit sprunghaft gestiegene Grundlohnsumme kommen in Ihrer Bilanz nur am Rande vor. Das ist kein Zufall; denn diese Entwicklung läßt sich ja selbst mit Tricks nicht als ein Erfolg der sogenannten Gesundheitsreform verkaufen.
Merkwürdig ist schließlich auch Ihr Verständnis von Erfolg, das hinter Ihrer Bewertung der wirklich kümmerlichen Einsparungen im abgelaufenen Jahr steckt. Eine Antwort auf die Frage, wie diese Einsparungen zustande gekommen sind, wer sie finanziert hat, gehört ja wohl dazu. Diese Antwort haben Sie nicht gegeben. Den sozialen Preis haben Sie nicht genannt. Sie haben auch allen Grund, sich vor der Beantwortung dieser Frage zu drücken. Die Einsparungen, die Sie heute mit stolz geschwellter Brust präsentieren, haben nämlich die Versicherten finanziert. Nicht Ärzte, nicht Zahnärzte, nicht Pharmaindustrie, nein, Millionen kranker Menschen, denen Sie die Selbstbeteiligung erhöht und die Leistungen gekürzt haben, haben mit ihrem sauer verdienten Geld diese Einsparungen ermöglicht. Das war der soziale Preis. Wie immer bei CDU/CSU, Herr Arbeitsminister, haben die Kleinen die Zeche gezahlt. Ihnen, Herr Blüm, sollte als Arbeitsminister die Wahrung der Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit in besonderer Weise anvertraut sein. Aber wer Ihnen vertraut, der hat sich falsch entschieden. Denn nennen Sie dieses Ergebnis sozial gerecht? Ist es ein sozialer Erfolg, wenn im abgelaufenen Jahr die Ärzte 1 Milliarde DM mehr verdienen, zugleich aber Kranke fast 4 Milliarden DM zusätzlich ausgeben müssen? Ich nenne dies einen sozialen Skandal und keinen Erfolg.

(Zustimmung des Abg. Urbaniak [SPD])

Schon während der Beratungen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes ist auch deutlich geworden, wie sehr Sie die soziale Funktion unserer Krankenversicherung überhaupt in Frage stellen. Sie haben ständig das Argument von den Lohnnebenkosten in den Vordergrund geschoben, so, als ob die Krankenversicherung ein Instrument zur Steuerung von Lohnnebenkosten ist. Natürlich ist sie das nicht. Die Krankenversicherung hat die Aufgabe, gegen das Risiko Krankheit abzusichern, und zwar unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Solidarität. Sie tun so, als hätte die Krankenversicherung in der betriebswirtschaftlichen Rechnung der einzelnen Unternehmen die Aufgabe, Unkosten zu minimieren. Dabei ist die Krankenversicherung für den Versicherten und nicht für den Unternehmer da. Was Sie uns heute als Erfolg vorgaukeln wollen, ist mehr als kümmerlich und ist unter sozial völlig unvertretbaren Bedingungen zustande gekommen.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Gesetz ist sozial ungerecht, weil es einseitig Patienten und Versicherte belastet und die Anbieter von Gesundheitsleistungen schont. Dieses Gesetz ist sozialpolitisch schädlich, weil es das Prinzip der Solidarität aushöhlt.

(Günther [CDU/CSU]: Auch das ist falsch!)

Ich will Ihnen ein besonders krasses Beispiel für die Entsolidarisierung nennen. Sie räumen den Krankenkassen mit Ihrem Gesetz die Möglichkeit ein, den Gesunden pro Jahr einen vollen Krankenversicherungsbeitrag zurückzuerstatten. Die ersten Kassen machen davon Gebrauch. Wissen Sie eigentlich, was das heißt? Das bedeutet, daß der Kranke im Jahr für seine Krankenversicherung zwölf Monatsbeiträge zu entrichten hat, der Gesunde aber nur zehn. Das bedeutet, daß der Kranke mit seinen Beitragszahlungen die Beitragsrückerstattungen für den Gesunden auch noch mitfinanzieren darf.
Sie haben im übrigen am 1. Juli vergangenen Jahres die Krankenversicherungsbeiträge der Rentnerinnen und Rentner in der Bundesrepublik erhöht, die Rentenerhöhungen gekürzt. Was hat es eigentlich mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, wenn durch Ihr Gesetz die Alten und die Kranken höhere Beiträge zu zahlen haben, während Sie den Gesunden eine Beitragsrückerstattung nachwerfen?

(Egert [SPD]: Der vom Schicksal Begünstigte profitiert auch noch!)

Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, alles das, was an Einsparungen erreicht werde, werde ihnen durch Beitragssatzsenkungen oder durch zusätzliche Leistungen zurückgegeben. Die Tatsachen legen offen, daß das eines der zahlreichen Versprechen ist, die Sie nicht gehalten haben.

(Dreßler [SPD]: Wohl wahr!)

Herr Dreßler hat auf die durchschnittliche Beitragssenkung von 0,15 % hingewiesen. Für einen Durchschnittsverdiener mit 3 500 DM brutto — ich wiederhole das — sinkt der monatliche Krankenversicherungsbeitrag von 451,50 DM auf 446,25 DM. Das sind im Monat 5,25 DM. Davon entfallen 2,62 DM auf den



Heyenn
Arbeitgeber, nur 2,62 DM entfallen auf den Arbeitnehmer. Soll das etwa ein Erfolg sein?

(Dreßler [SPD]: So ist das!)

Sie müssen demgegenüber sehen, daß Sie die Rezeptblattgebühr auf 3 DM erhöht haben. Sie haben das Sterbegeld zusammengestrichen, die Selbstbeteiligung für Zahnersatz verdoppelt, die Selbstbeteiligung für Krankenhausunterbringung verdoppelt usw. usw.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118802000
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Dr. Becker.

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1118802100
Herr Heyenn, ich möchte noch einmal auf die vorhergehende Behauptung zurückkommen, auf die rund 5 DM, die das nur ausmacht. Wie schätzen Sie die zweimal nicht eingetretene Beitragssatzerhöhung von je 0,5 % ein, die dazugerechnet werden muß? Sie ist nicht eingetreten. Das ist eine Folge der Reform.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118802200
Herr Dr. Becker, Sie haben versprochen, mit dem sogenannten GRG die Beiträge um 0,7 % zu senken. Die tatsächliche Senkung — und mit Ihrem Versprechen habe ich zu vergleichen —

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

beträgt eben 0,15 %. Das sind 2,62 DM. Versuchen Sie mit Ihrer Frage nicht, an den Tatsachen vorbeizutäuschen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118802300
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege? — Bitte.

Dr. Karl Becker (CDU):
Rede ID: ID1118802400
Ich weiß nicht, Herr Kollege Heyenn, ob Ihnen entgangen ist, daß sich das Versprechen, die Beiträge würden um 0,6 % bis 0,7 % gesenkt, auf einen Zeitraum von vier Jahren bezogen hat.

(Lachen bei der SPD)

Das erste Ziel war, die Beitragssatzstabilität zu erreichen, die auch erreicht worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dreßler [SPD]: Wie wollen Sie denn die Pflege finanzieren? Jetzt kommt die Wahrheit an den Tag!)


Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118802500
Herr Dr. Becker, es gibt eindeutige Aussagen der Regierungskoalition und des Bundesarbeitsministers: Ab 1. Januar 1990 macht das sogenannte GRG ein Minus von 0,7 % bei den Beiträgen aus.

(Zurufe von der CDU/CSU: Falsch!) Sie gehen jetzt an dieser Tatsache vorbei,


(Zuruf von der SPD: Richtig!)

weil Ihnen das natürlich peinlich ist, weil Sie nicht mehr von Erfolgen reden können.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118802600
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Egert? — Bitte.

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1118802700
Herr Kollege Heyenn, würden Sie mir bestätigen, daß in die Reihen der Kronzeugen auch der Bundeskanzler aufgenommen werden muß, der das versprochen hat? Ich weiß nicht, ob er ganz genau wußte, was er sagte; aber er hat es versprochen.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118802800
Ich kann Ihre Frage nur bejahend beantworten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wo steht das eigentlich? — Wo sind die Quellen?)

Ich muß dem Bundeskanzler im übrigen in dieser Sache hohes Lob zollen. Er hätte den Bundesarbeitsminister beim GRG viel häufiger zurückpfeifen sollen. Einmal hat er es ja getan, nämlich als der Bundesarbeitsminister bei der Negativliste in Sachen Naturheilmittel seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

(Dreßler [SPD]: Da hat Herr Kohl eine gute Tat vollbracht!)

Der Bundeskanzler hat diesem Bundesarbeitsminister viel zuviel freie Hand gelassen.

(Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Auf eine gestellte Frage schwach geantwortet! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Sie können noch so viele Zwischenfragen stellen, der Bundesarbeitsminister kann auf noch so vielen Pressekonferenzen von Erfolgen reden, jede Beitragssenkung einzeln abfeiern,

(Reimann [SPD]: 1 Million Arbeitslose hat er versprochen!)

die Bürgerinnen und Bürger haben begriffen, was dieses Gesetz bedeutet: Abkassieren im Krankheitsfall.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Lassen Sie mich noch kurz auf ein konkretes Beispiel eingehen. Wie ist es mit dem Kostenzuschuß für ambulante Badekuren? Da senken Sie die tägliche Erstattung von 25 auf 15 DM. Hinzu kommen neu runde 100 DM Kurtaxe; hinzu kommt eine erhöhte Beteiligung bei den Anwendungen während der Kur. Sie wissen, hiervon sind insbesondere Rentner betroffen; sie können 400 DM zusätzlich für eine solche offene Badekur nicht zahlen. Das Ergebnis: Man verzichtet. Bei mir in Schleswig-Holstein sind die offenen Badekuren um 51 % zurückgegangen.

(Günther [CDU/CSU]: Ihr habt doch zugestimmt!)

Dies stellt insbesondere einen Witz dar, wenn man bedenkt, daß unsere Kurmitteleinrichtungen in den vergangenen Jahren überwiegend aus Mitteln des Bundes finanziert worden sind,

(Kolb [CDU/CSU]: Warum haben Sie dann zugestimmt?)

Einrichtungen, die jetzt leerstehen.

(Seehofer [CDU/CSU]: Das haben Sie doch für richtig befunden!)

— Darüber können wir reden, Herr Seehofer, über
Sinn und Zweck der offenen Badekuren hätten wir
diskutieren können, aber wir hätten uns um Alterna-



Heyenn
liven bemühen müssen. Aber was haben Sie getan? Sie haben gestrichen.

(Günther [CDU/CSU]: Und Sie haben zugestimmt!)

Und das ist das Ergebnis. Über Alternativen hätten wir mit Ihnen gerne geredet.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118802900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hoffacker?

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118803000
Aber gerne.

Dr. Paul Hoffacker (CDU):
Rede ID: ID1118803100
Herr Kollege Heyenn, hier wird gerade gesagt, Sie hätten dem zugestimmt. Können Sie das bestätigen? Ich möchte die Antwort gern von Ihnen selbst haben.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118803200
Ich habe dem nicht zugestimmt. Meine Fraktion hat dem auch nicht zugestimmt. Sie haben sich etwas Falsches einflüstern lassen.

(Dreßler [SPD]: Ja, Herr Hoffacker, so ist das!)


Dr. Paul Hoffacker (CDU):
Rede ID: ID1118803300
Dann werden wir im Protokoll nachschauen.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118803400
Tun Sie das! Ich würde mich allerdings etwas intensiver informieren, Herr Kollege Dr. Hoffacker, bevor ich hier zu solchen Zwischenfragen aufstehe.
Meine Damen und Herren, ich verstehe, daß der Bundesarbeitsminister, dem dieses Gesetz wie ein Mühlstein am Halse hängen muß, die Folgen seiner Politik der sozialen Ungerechtigkeit und der Entsolidarisierung vergessen machen möchte. Nur diesem Zweck diente die heutige Regierungserklärung. Da werden soziale Ungerechtigkeiten zu Erfolgsmeldungen umfrisiert. Die Tatsachen werden verbogen. Halbwahrheiten und Unwahrheiten werden aufgetischt. Das alles sind durchsichtige Manöver und, wie ich meine, unwürdige Manöver, die Norbert Blüm vor dem 13. Mai in Nordrhein-Westfalen in einem besseren Licht erscheinen lassen sollen.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Ist das Polemik, oder was ist das?)

Wie kann man den Mut haben, dieses sogenannte GRG als Erfolg feiern zu wollen? Ich glaube, das muß schon der Mut der Verzweiflung sein.
Lassen Sie mich nur einmal einige Fakten aus dem Ablauf dieses Jahres noch kurz Revue passieren lassen. Das Gesundheits-Reformgesetz hatte kaum im Bundesgesetzblatt gestanden, da mußte der Staatssekretär Jagoda den Krankenkassen, die mit vielen Paragraphen nichts anfangen konnten, weil es keine ausreichende Beratungszeit gegeben hat, erst einmal erklären, was denn die Regierung mit diesem Gesetz eigentlich gemeint habe. Da gab es dann Bürger, die mußten sich, weil Krankengeldzahlungen eingestellt waren, überlegen, ihre Häuser zu verkaufen. Vier Wochen später gab es dann beim wiederaufgelegten Krankengeld wieder eine andere Meinung aus dem Arbeitsministerium. Ja, der Bundesarbeitsminister selbst soll sogar Krankenkassen gebeten haben, sein Gesetz doch nun bitte schön sozial auszulegen.

(Dreßler [SPD]: Donnerwetter! Sowas macht der!)

Davon, daß der Bundeskanzler ihn zurückgepfiffen hat, weil er die Übersicht verloren oder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, habe ich schon gesprochen.
Dann gibt es da den Parlamentarischen Staatssekretär Seehofer. Der hat wegen seiner Schwierigkeiten im Wahlkreis mit der Betriebskrankenkasse Audi monatelang Verbündete gesucht, um in Sachen Betriebskrankenkassen-Stopp etwas zu unternehmen. Dann hat er im Gesetz nachgeschlagen und versucht, etwas zu finden, aber er hat nichts gefunden, weil es in Sachen Organisations- und Strukturreform im Gesetz nichts gibt.

(Dreßler [SPD]: Leider wahr!)

Und dann ist selbst Herrn CDU-Abgeordneten Günther aufgefallen, daß dieses Gesetz ja wohl ein schlechtes Gesetz sei,

(Günther [CDU/CSU]: Ist mir nie aufgefallen!)

und er hat, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nicht den Bundesarbeitsminister kritisiert und nicht das GRG kritisiert, sondern — nicht wahr, Herr Jung? — einen Rundumschlag gegen Beamte des Arbeitsministeriums begonnen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118803500
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1118803600
Ich möchte zum letzten Satz kommen. Ich bitte um Verständnis, Herr Seehofer.
Dies zeigt wenig von Souveränität; all dies zeigt, daß Sie mit Ihrem eigenen Produkt nicht mehr zufrieden sein können. So schön, Herr Blüm, wie Sie sich selbst machen, sind weder Sie noch das Gesetz. Das Gesundheits-Reformgesetz bleibt eine einzige soziale Ungerechtigkeit. Auch hier gilt, daß Unwahrheiten kurze Beine haben.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118803700
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Louven.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1118803800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesundheits-Reformgesetz brachte besonders große strukturelle Veränderungen im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung. Warum? — Kein Land der Welt verfügt über ein so breites zahnmedizinisches Leistungsspektrum wie die Bundesrepublik Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Deshalb wollen Sie es einschränken?)

Dennoch war oder ist der Mundgesundheitszustand bei uns absolut unbefriedigend. Die Schuld hierfür ist im wesentlichen darin zu suchen, daß vor Jahren eine falsche Weichenstellung vorgenommen wurde. Pro Kopf gaben wir in der zahnmedizinischen Versorgung

(Andres [SPD]: Prophylaxe, Herr Kollege!)

14500 Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990
Louven
in der gesetzlichen Krankenversicherung 1986 318 DM aus. Damit sind wir einsame Spitze.

(Zuruf von der SPD: Am Alter haben Sie noch rumgeschnippelt, Herr Kollege!)

Am niedrigsten in den westlichen Staaten liegen Großbritannien mit 60 DM und Belgien mit 71 DM. Das bedeutet, die Ausgaben waren bei uns fünfmal höher als in England, knapp dreimal höher als in Holland und doppelt so hoch wie in Schweden.

(Andres [SPD]: Prophylaxe, Herr Kollege! Schulzahnarzt!)

— Ich komme darauf! Bleiben Sie ruhig!
Worin bestand nun die falsche Weichenstellung? — Wir leisteten uns als einziges westliches Land den Luxus, für Zahnersatz mehr auszugeben als für Zahnerhaltung. Vergleichen wir unser Land einmal mit den in Europa zahnmedizinisch am weitesten fortgeschrittenen Ländern, der Schweiz und Schweden, so stellen wir fest, daß dort bei weitaus niedrigeren Ausgaben der Zahngesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen nahezu doppelt so gut ist wie bei uns.
Bei uns fehlten 1986 im Durchschnitt dem 18jährigen schon 2,7 Zähne, in Finnland beispielsweise 0,2. Bei uns kommen auf einen Zahnarzt 1,2 Zahntechniker, in den meisten anderen westlichen Ländern liegt diese Zahl bei unter 0,3.
Zahnerhaltung statt Zahnersatz mußte daher unsere Devise sein.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Darin unterstützte uns der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, der 1986 feststellte, mit 30 % geringeren Ausgaben müßten erhebliche Verbesserungen der Zahngesundheit der deutschen Bevölkerung immer noch erreichbar sein.
Gemäß der Zielsetzung, daß die Prävention mindestens so wichtig ist wie die Therapie, haben wir dann die Neuregelungen in das GRG geschrieben: Einführung wirksamer zahnmedizinischer Prophylaxe, Abbau der Überversorgung bei Zahnersatz und Kieferorthopädie, Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Zahngesundheit und schließlich — auch ein wichtiger Punkt — Verbesserung der Qualitätssicherung.
Mit einem Bonussystem sollen darüber hinaus Anreize für mehr Zahnpflege geschaffen werden. Die Selbstverwaltung hat im GRG erhebliche Spielräume für die entsprechenden Maßnahmen bekommen. Uns bereitet es allerdings große Sorge, daß die entsprechenden Vereinbarungen im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen auf sich warten lassen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Hier muß ich einmal besonders kritisch das Verhalten insbesondere des Freien Verbandes der Zahnärzte ansprechen. In praktisch allen Fragen, die die Zahnärzte und Krankenkassen regeln sollen, gibt es offensichtlich seit längerem keine Möglichkeiten des Konsenses. Uns kann diese Entwicklung nicht gleichgültig sein. Auf das schärfste verurteile ich, daß auch jetzt
wieder verbands- und honorarpolitische Auseinandersetzungen in die Wartezimmer getragen werden.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Schlimm!)

Dabei ist der Vorwurf der Zahnärzteschaft, die Krankenkassen wollten eine Billigmedizin, absurd.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun hat sich die Politik — wenigstens zunächst — aus den Verhandlungen der Selbstverwaltung herauszuhalten. Da uns aber der Freie Verband der Zahnärzte seine Stellungnahmen immer wieder ins Haus schickt, dazu einige Anmerkungen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118803900
Kann ich vorher fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Haack zulassen wollen?

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1118804000
Ich lasse keine Zwischenfragen zu.

(Dreßler [SPD]: Das haben wir uns gedacht!)

— Sie haben doch zum Schluß auch keine mehr zugelassen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist eine aufklärende Rede!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118804100
Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1118804200
In der Stellungnahme des Verbands heißt es:
Hand in Hand betreiben Gewerkschaften und Arbeitgeber als sogenannte Interessenvertreter in der GKV eine beispiellose frühkapitalistische Normenschinderei gegen Ärzte und Zahnärzte.
Ganz abgesehen davon, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß sich die deutsche Ärzteschaft in dieser Weise von den Zahnärzten mit vereinnahmen läßt, verrät diese Sprache, worum es geht, nämlich um Geld. Zum Beispiel fordert der Freie Verband der Zahnärzte 68 DM für eine zahnärztliche Vorsorgeuntersuchung. Im Vergleich dazu: Ein Arzt bekommt 78 DM für eine Komplettuntersuchung, bei der bis zum EKG fast alle Bereiche eingeschlossen sind.
Wenn dieser Streit, meine Damen und Herren, so fortgeführt wird, stellt sich uns die Frage, wie es im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung weitergehen soll und ob nicht der Sicherstellungsauftrag neu überdacht werden muß. Ich bitte daher die Zahnärztefunktionäre, ihre berufsverbandspolitischen Pflichtübungen hintanzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir liegen trotz dieser Schwierigkeiten im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung mit den Neuregelungen im Gesetz richtig. Die 89er Zahlen beweisen dies. Dabei sind die Neuregelungen ja langfristig angelegt.
Wir liegen auch in den anderen Bereichen wie Kuren, Massagen, Brillen, Hörgeräte, Sterbegeld, so meine ich, richtig.



Louven
Bei den Kuren hatten Sie von der Opposition mit Ihrer Desinformation bewirkt, daß die Zahlen bei den stationären Kuren deutlich zurückgingen, obwohl diesbezüglich im GRG überhaupt keine Änderungen vorgenommen worden sind. Ähnlich verhält es sich bei Massagen, wo Ihre Hetze die Bürger verunsichert hat, die hinterher feststellen mußten, daß die Wirklichkeit eine völlig andere ist.
Beim Sterbegeld war es für mich hochinteressant, im letzten Jahr in einer Krefelder Zeitung eine Anzeige zu entdecken, in der neun Bestattungsunternehmer eine würdevolle Bestattung für 995 DM anbieten. Ich bedaure, daß Frau Wilms-Kegel nun nicht mehr hier ist.
Ich frage mich, meine Damen und Herren von der Opposition, was noch alles geschehen muß, bis Sie einsehen, daß diese Reform ein Erfolg ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Kollege Dreßler hat im vorigen oder vorvorigen Jahr gesagt: Wir werden keine Ruhe geben. Das ist sein gutes Recht. Nur: Mit der Ehrlichkeit sollte er es etwas genauer nehmen. Gerade Sie als diejenige Partei, die die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu verantworten hatte, hätten besonnener handeln müssen. Allein von 1970 bis 1976 stiegen die Durchschnittsbeiträge von 8,5 auf 11,6 %. Die Kraft zu einer Strukturreform haben Sie in der Vergangenheit nicht aufbringen können.
Mit Reformen haben Sie es ja ohnehin schwer. Schon 1979 hat sich Ihr Kollege Dr. Scheer in seinem Buch „Parteien kontra Bürger?" mit den reformpolitischen Schwierigkeiten der SPD auseinandergesetzt. Die zwangsläufige Diskrepanz, so schrieb er, zwischen Erwartetem und Realisiertem sei zur Quelle enttäuschter Kritik geworden. Weiter schrieb er: „Die Reformpolitik der Regierung" — damals war es die Regierung Helmut Schmidt — „geriet in Legitimationsschwierigkeiten, weil es nicht gelang, die Komplexität und die Langfristigkeit reformpolitischer Veränderungen in der Öffentlichkeit zu vermitteln."
„Die SPD" — so Scheer — „hatte ihre Offensivposition verloren, verkörperte nicht mehr die Dimension Zukunft. "
Statt weiter zu polemisieren sollten Sie sich, meine Damen und Herren von der Opposition, einmal mit diesen Aussagen beschäftigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In Ihrem Grundsatzprogramm, das Sie neulich in Berlin verabschiedeten, gibt es nun auch Aussagen, zum Gesundheitswesen, die mit dem kritischen Satz eingeleitet werden: In unserem Gesundheitswesen dominieren die Interessenvertretungen der Ärzte und Zahnärzte, der Pharmaindustrie und der Krankenhäuser. Meine Damen und Herren von der SPD, da drängt sich mir die Frage auf — damit will ich meine Rede beschließen — : Seit wann wissen Sie dies?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118804300
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.

Gertrud Unruh (GRÜNE):
Rede ID: ID1118804400
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreterinnen, werte Volksvertreter! Herr Minister Blüm! Ich habe nur fünf Minuten, habe aber gemerkt, daß auch mein Kollege alles abliest, obwohl in Paragraph X der Geschäftsordnung steht, Abgeordnete haben frei zu reden. Genau das haben wir bei der Gesundheitsreform heute wieder erlebt. Beim Minister angefangen, alles liest vom Blatt ab, und vom Blatt hört sich auch alles sehr gut an, wenn man es nachliest.
Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, Herr Minister. Ich habe hier ständig gehört: Was wäre passiert, wenn die Reform nicht gekommen wäre? Den Patienten wäre es erst einmal besser gegangen, den kleinen Leuten sowieso. Die Sache mit dem Beerdigungsgeld ist wirklich die frommste Lüge, die Sie mir gerade aufgetischt haben. Neun Beerdigungsunternehmen hätten eine würdevolle Beerdigung für 995 DM angeboten. Wer hat denn die Annonce gelenkt, verdammt nochmal? Reden Sie hier doch einmal zur Sache! Das ist wie bei den Arbeitslosen. Da steht dann die Annonce in der Zeitung: Jeder kann Arbeit bekommen, ihr müßt sie nur suchen. — Jetzt hören Sie auf mit Ihren verdammten Lügereien,

(Louven [CDU/CSU]: Sie reden frei, aber Blödsinn!)

nein, ich entschuldige mich, mit Ihren verdammten Unwahrheiten!
Was wäre ohne Reform passiert? Wir hätten keinen Medizinischen Dienst. Was wir, was Patienten und Parteien wollen, ist doch letztlich, daß der Patient das Beste vom Besten bekommt. Die Monopolpreise der Pharmaindustrie hätten natürlich im ersten Ansatz gesprengt werden müssen. Ein Rollstuhl, der 4 000 DM kostet, kann genauso behindertengerecht sein wie ein Rollstuhl, der 5 000 DM kostet. Das sind die Monopolpreise, die letztlich alles kaputt machen. Damit hätten Sie doch anfangen können.

(Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Warum schreien Sie denn so?)

— Dann soll man es leiser stellen, wenn Sie es nicht ertragen können. Ich muß hier Ihre ganze Politik ertragen. — Daß diese Monopolpreise gebrochen werden mußten, ist doch selbstverständlich. Auch daß die Ärzte ein anderes Bewußtsein entwickeln müssen, ist selbstverständlich.
Sie wagen es, 50 % der kranken Menschen organisch zu behandeln, obwohl sie seelisch krank sind. Herr Minister, das wissen Sie doch auch alles. Sehen Sie sich doch einmal an, wie gerade die Kosten bei den alten Menschen in die Höhe schießen, wo es gar nicht nötig ist! Warum verbieten Sie nicht drastisch Arzneimittel, die wahnsinnige Nebenwirkungen haben? Das hätten wir Patienten gewollt. Wir müssen uns einen Medizinischen Dienst gefallen lassen — das ist doch das Schlimmste vom Schlimmen — , der klüger, der schlauer, der wissenschaftlich stärker vorgebildet, nachgebildet, übergebildet ist als jeder Hausarzt. — Lachen Sie nicht so dumm! Denken Sie einmal an Ihr christliches Gewissen! Jeder Hausarzt weiß es natürlich nicht, obwohl er seinen Patienten vielleicht schon 20 oder 30 Jahre kennt, jeder Chefarzt im Krankenhaus kann das nicht beurteilen. Dann schicken Sie einen Medizinischen Dienst unter die Bettdecken.



Frau Unruh
Dann gehen Sie hin, klingeln bimmelbimmelbim: Kranke, Patienten, bei euch gibt es eine Einsparung von 4 Milliarden DM, und dafür schicke ich euch den Pflegedienst, eventuell für eine Urlaubsvertretung nach Hause.
Ich frage mich: Darf so etwas eigentlich noch Minister sein?

(Louven [CDU/CSU]: Ich frage mich, ob Sie Abgeordnete sein dürfen!)

Ich frage mich wirklich: Wie können Sie sich erdreisten, einen Medizinischen Dienst an die Hausbetten der Kranken und Pflegebedürftigen zu schicken sowie Ärzte und sonst alle dermaßen zu verunsichern? Wie der Medizinische Dienst urteilt, dazu haben Sie vielleicht wie ich jeden Tag 50 Briefe auf dem Tisch.
Dieser Medizinische Dienst ist in meinen Augen
— hören Sie gut zu — DDR-Methode. Auch das habe ich hier heute zur Kenntnis nehmen müssen: immer der kleine Schlag in Richtung DDR. Ihnen, Herr Minister, hätte ich nie zugetraut, daß Sie sich getrauten, solch einen Medizinischen Dienst gegen die Patienten, gegen die Kranken, gegen die Ärzte, gegen alle einzusetzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Für!)

— Nein.
Sie desavouieren in der Bundesrepublik Deutschland alle, die mit Ihnen eine Reform machen wollten, aber eine Reform in Freiheit und nicht in den Medizinischen Dienst hinein.

(Frau Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Was haben Sie jetzt eigentlich sagen wollen? — Frau Unruh [fraktionslos]: Wenn Sie die Gesundheitsreform kennen würden, dann wüßten Sie es! Das sind Stasi-Methoden, die Sie eingeführt haben!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118804500
Als nächster Redner hat Herr Dr. Hoffacker das Wort.

Dr. Paul Hoffacker (CDU):
Rede ID: ID1118804600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem die SPD hier ständig von der „sogenannten Gesundheitsreform" spricht, müßte ich nach den Ausführungen der SPD-Vertreter von der sogenannten SPD sprechen; denn aus den Ausführungen klang eigentlich nicht die Stimme des demokratischen Sozialismus. Wie ich meine, waren das die Elemente eines real existierenden Sozialismus, von dem wir glaubten, er sei längst überwunden.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Den haben Sie eingeführt!)

Ich denke, daß sich auch die SPD von den Fossilien ihrer Vergangenheit längst hätte befreien können.

(Zuruf des Abg. Heyenn [SPD])

— Herr Heyenn, Sie kommen gleich noch dran.
Zu dem Antrag Stellung zu nehmen fällt mir natürlich schwer; denn er hat nichts Neues, nichts anderes enthalten als das, war wir bereits in den Eckdaten einer sogenannten, darf ich jetzt sagen, Gesundheitsreform der SPD lesen konnten.

(Dreßler [SPD]: Sehr gut!)

Dieser Antrag, Herr Kollege Dreßler, zeigt, wes Geistes Kind Sie sind. Nicht vor kommen in diesem Antrag die behinderten Menschen, die kranken Menschen, die alten Menschen oder die schwerpflegebedürftigen Menschen.

(Heinrich [FDP]: Worüber hat er überhaupt geschrieben? — Frau Unruh [fraktionslos]: Lassen Sie die Hände weg von den alten Menschen!)

Statt dessen kommen in Ihrem Antrag Nettospareffekte, Planungsstrukturen, Gesundheitskonferenz und allerhand wirres Zeug vor, daß sich mit Strukturen in dieser Gesellschaft befaßt. Sie haben seit 1988 nichts dazugelernt, sondern wiederholen im Grunde das, was wir längst kennen. Deshalb fällt es so schwer, sich mit diesem Antrag zu befassen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Die wollen ja nur begründen, warum sie in der Opposition bleiben!)

Dagegen hat die Gesundheitsreform des Bundesministers Blüm weiter Erfolg. Sie hat deshalb Erfolg, weil sie einen ganzheitlichen Ansatz von Gesundheitsfürsorge, Vorsorge, Krankheitsverhütung, Krankheitsbekämpfung, Rehabilitation und Pflege zur Grundlage aller Überlegungen gemacht hat. Hier steht nicht die Struktur im Mittelpunkt, sondern der Mensch, dem geholfen werden soll.

(Frau Unruh [fraktionslos]: Der Medizinische Dienst steht im Mittelpunkt!)

Das, was Sie dauernd als Ihr Modell bezeichnen, zeigt eigentlich die eingeengte Blickweite Ihrer Ausführungen, Ihrer Denkvorstellungen und Ihrer Fantasie und macht deutlich, daß Sie über das, was mit „Struktur" benannt ist, nicht hinauskommen. Dies ist Ihr Problem.
Die Behauptungen, die Sie in dem Antrag aufstellen, sind falsch, Ihre Vorschläge, die Sie machen, wirklichkeitsfremd und überholt. Dafür einige Beispiele:
Das Planungsfurioso Ihrer Bevormundungsbesessenheit soll praktiziert und mit alten Theorien wiederum ins Leben zurückgeführt werden. Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, daß unsere Bürger unter dem Deckmantel einer von der SPD vorgetäuschten und als Selbstverwaltung bezeichneten Verplanung stillschweigend vereinnahmt werden;

(Frau Unruh [fraktionslos]: Das machen Sie doch!)

denn das ist der Inhalt des Antrags, den wir ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die SPD will nicht nur die Bürger als Patienten vereinnahmen, sie will dies auch mit Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Kassen tun.
Beginnen wir bei den Ärzten. Bei den Ärzten will sie die Einzelvergütung durch Fallpauschalen abschaffen



Dr. Hoffacker
oder, wie es in Ihrem Antrag heißt, „durch andere Honorarforderungen ersetzen, die zu einem angemessenen Behandlungsaufwand führen und die den Gefahren einer Maximal- oder Minimalversorgung begegnen" . Was „angemessen" ist, wird nicht erklärt, bleibt Geheimnis der SPD. Man muß davon ausgehen, daß die SPD die Angemessenheit eines Arzthonorars und auch den angemessenen Behandlungsaufwand bestimmen will.
Meine Damen und Herren, hier darf spekuliert werden, was diese Einheitspackung nach einem McDonald-Rezept enthält.

(Dreßler [SPD]: McDonald war auf dem CDU-Parteitag gut vertreten!)

Wir wollen diese Einheitspackung als Mogelpackung nicht. Wir wollen weiterhin freie Arztwahl. Wir wollen die Anerkennung ärztlicher Leistungen, so wie es das Sozialgesetzbuch V und ebenfalls die bestehenden Regelungen vorsehen.
Auch den Apothekern geht es an den Kragen. So will die SPD nach dem Wortlaut ihres Antrags am öffentlichen Versorgungsauftrag der Apotheken festhalten sowie an dem sich daraus als Konsequenz ergebenden, so heißt es, einheitlichen ApothekenAbgabepreis mit administrativ fixierter Handelsspanne, der Arzneitaxe.
Was ist gestern geschehen, meine Damen und Herren? Gestern haben wir bei der Vierten Novelle zum Arzneimittelgesetz genau diesen einheitlichen Abgabepreis auf Antrag der Koalition beschlossen. Was hat die SPD gemacht? Sie hat sich enthalten. Dies ist ein großartiges Beispiel dafür, was von diesen Aussichten, die wir in dem Antrag lesen können, zu halten ist, nämlich nichts.

(Günther [CDU/CSU]: Richtig!)

Die SPD verspricht und hält nicht, hält aber große Reden. Ich meine, daß wir und daß auch die Apotheker und die Arzneimittelhersteller endlich wissen müssen, was von den Versprechungen und von den Schwüren zum einheitlichen Apotheken-Abgabepreis, die hier im Parlament und — was mir sehr gut im Ohr ist — bei den Grußworten der verschiedenen Veranstaltungen zum Gesundheitswesen immer wieder vorgetragen werden, zu halten ist.

(Zuruf von der SPD: Daran haben Sie aber Mitschuld!)

Ich weiß, daß davon nichts zu halten ist. Ich werde alles tun, damit das Verhalten der SPD, wonach sie sich messen lassen muß, der Öffentlichkeit und auch den bestimmten Gruppen, die an dem Gesundheitswesen beteiligt sind, bekannt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Und dies geht weiter mit den Arzneimittelherstellern. Diese und auch die Apotheker sollen nämlich die Positivliste verordnet bekommen. Bei der Negativliste hat sich einer Ihrer Vertreter soeben etwas zynisch ausgelassen. Ich kann nur folgendes sagen: Diese Negativliste aus dem Hause Blüm war eine gut überlegte
Liste, die die Einsparung überflüssiger Medikamente bringt — um dies ganz klar zu sagen.

(Dreßler [SPD]: Weil sie so gut war, hat Herr Kohl sie gestoppt, oder wie?)

Daß dies nicht unbestritten war, mögen Sie dem demokratischen Verfahren unserer eigenen Fraktion zugute halten. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung weiß, daß er sich auf diese Fraktion verlassen kann, während er der keifenden Besserwisserei der SPD Gott sei Dank keinen Glauben schenkt.

(Dreßler [SPD]: Herr Hoffacker, nehmen Sie doch einmal dazu Stellung!)

— Herr Dreßler, das ärgert Sie. Ich muß das aber sagen, weil ich die Aufgabe habe, mich mit diesen Ausführungen zu beschäftigen.

(Dreßler [SPD]: Das ärgert mich überhaupt nicht! Das belustigt mich!)

Nun, meine Damen und Herren, was die unterschiedlichen Therapierichtungen betrifft, so haben wir wieder ein großartiges Beispiel in dem Antrag.
Sie sollen nämlich nach dem Wortlaut angemessen berücksichtigt werden. Das ist unsere Sprachregelung.
Was macht die SPD in der Öffentlichkeit? Sie spielt sich mit den GRÜNEN zum Vorreiter für homöopathische , anthroposophische und phytotherapeutische Medizin auf.
Was macht sie in Wirklichkeit? Ich sage dies, damit es wirklich alle Naturheilkundler wissen. Diese SPD schraubt sie zurück auf die angemessene Berücksichtigung. Welch ein Hohn für die Naturheilkunde, kann ich hier nur sagen.

(Dreßler [SPD]: Quatsch mit Soße!)

Wir wollen das nicht, meine Damen und Herren. Für uns ist der Patient, der Bürger, nicht ein Objekt oder ein Gegenstand einer bürokratischen Verplanungsprozedur, sondern für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wollen wir? Wir wollen den Ausbau der Prävention und der Vorsorge über § 20 des Sozialgesetzbuchs V hinaus. Wir haben in der Enquete-Kommission zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung — es sind ja einige Kollegen da, beispielsweise der Vorsitzende — Gedanken entwickelt und sie festgehalten. Ich danke allen Einrichtungen, den Kassen und den Betrieben — hier sind soeben die Betriebskrankenkassen genannt worden; an sie wende ich mich besonders — , daß sie sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und nicht auf dem blickverengten, ideologisch geprägten Belehrungseifer auf diesem Gebiet verharren.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Pflege der alten Menschen. Frau Wilms-Kegel hat hier in einer Art vorgetragen, die natürlich auch Aufschlüsse hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit in anderen Bereichen zuläßt. Sie ist die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ich bin Sprecher für meine Fraktion in diesem Ausschuß. Nach diesem Vortrag — leider ist sie weg —



Dr. Hoffacker
muß ich sagen: sie selbst hat sich ihre Glaubwürdigkeit derartig angeknackst, daß dieses schlechte Beispiel auch auf andere Bereiche übertragen werden muß.

(Zurufe von den GRÜNEN und der SPD)

Der Beitrag der SPD-Fraktion zu diesen Ausführungen zeigt genau, welche Geisteshaltung Sie haben, denn Sie haben laut geklatscht, als sich Frau Wilms-Kegel nach ihren Ausführungen hier verabschiedet hat.

(Dreßler [SPD]: Setzen, Fünf, Thema verfehlt!)

Meine Damen und Herren, wir wollen die Dynamisierung der Kräfte der Pflege, wir wollen eine Altenpflegeausbildung, wir wollen das Heimgesetz mit mehr Demokratie, und wir wollen eine Phase intensiver Zusammenarbeit und nicht eines fruchtlosen Streits.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Der Antrag der SPD ist für eine solche zuversichtliche Ermunterung völlig ungeeignet; wir lehnen ihn ab.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118804700
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1118804800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erfolge der Gesundheitsreform als Anlaß für diese Regierungserklärung zu nehmen, ist in der Tat abenteuerlich.
Meine Frage: Warum wird darüber im eng gedrängten Bundestagsterminplan drei Stunden lang debattiert? Die Erfolge des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes könnte man in einem Satz abhandeln: Sie gibt es nicht. Das Gesetzeswerk ist nach wie vor abzulehnen, und dem Antrag der SPD-Fraktion ist zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, es ist eine große Unverfrorenheit, bei einem solchen Gesetzeswerk den Menschen auch noch einreden zu wollen, daß es für sie und nicht für die Interessengruppen gemacht wurde, die im wesentlichen dahinterstehen. Auch das könnte man sehr kurz darstellen: Das ist die Pharmaindustrie, das sind die Krankenhausträger, und das sind die Ärzte, die mit dem Gesundheits-Check stillgestellt wurden, der mal eben zusätzliche 2 Milliarden DM kostet.

(Bundesminister Dr. Blüm: Was? Wie bitte?)

Wieso reden wir hier eigentlich über Kosten und nur über Kosten bei einer sogenannten Gesundheitsstrukturreform?

(Kolb [CDU/CSU]: Weil sie irgend jemand bezahlen muß!)

Wieso reden wir nicht über den eigentlichen Gegenstand eines solchen Gesetzeswerkes, den Gesundheits- oder den Krankheitszustand in der Bevölkerung? Darüber ist heute wirklich so gut wie nichts gekommen, und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich bei diesem verkommenen Diskussionsstil
auch auf diese materialistische Ebene hinabzubegeben und einige Ausführungen zu dem Posten „Geld" zu machen.
Nicht die Gesundheits- bzw. Krankenkosten an sich sind gesunken, wie es sich eigentlich bei einer solchen Reform gehören würde, sondern die Kosten, Herr Blüm, sind zu Lasten der Patienten umverteilt, und hier zuallererst zu Lasten der chronisch kranken, der behinderten, der alten und sozial schwachen Patienten. Die Einsparungen beruhen auf Leistungskürzungen und Zuzahlungsregelungen; von daher ist der Begriff „Einsparung" auch völlig unzutreffend.
Die eigentlich wirklich wichtigen Punkte — ich hatte sie eben kurz skizziert — , die innerhalb einer Reform hätten geändert werden müssen, blieben praktisch unverändert:
Erstens. Die Pharmaindustrie hat trotz der Festbetragsregelung keinerlei Schaden genommen und verdient weiterhin ungehindert. Sie hat sogar Zuwächse wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Von einem Solidarbeitrag ist dort nichts zu spüren.
Zweitens. Die dringend erforderliche Organisationsstrukturreform der gesetzlichen Kassen wurde ausgespart und läßt auch nach wie vor auf sich warten. Das gesamte Krankenhauswesen, inklusive der Notwendigkeit des radikalen Betten- und Kapazitätsabbaus, blieb ohne große Veränderungen. Auch dort eine ganz gegenteilige Entwicklung: Die Kosten im Krankenhausbereich explodieren geradezu.
Drittens. Nach wie vor haben die Betriebskrankenkassen z. B. die Möglichkeit, sich relativ beliebig neu zu gründen, wenn es ihnen im Hinblick auf die Versichertenstruktur lukrativ erscheint. Selten sind die Fälle, in denen, wie jüngst in Hamburg, die arg gebeutelte AOK Hamburg vor dem Ruin gerettet wurde, weil einer großen Firma die Gründung einer Betriebskrankenkasse untersagt wurde, um die AOK nicht noch mehr zu schädigen.
Viertens. Wo bleibt der erforderliche Bettenabbau in den Krankenhäusern? Jeder weiß, daß die Kosten für das Krankenhauswesen einen großen Teil der Gesamtkosten ausmachen. Ein Drittel der Kosten entsteht nach wie vor dort.

(Louven [CDU/CSU]: Wissen Sie denn auch, daß die Länder zuständig sind?)

— Das Krankenhausfinanzierungsgesetz machen wir hier in Bonn.

(Louven [CDU/CSU]: Die Länder machen die Durchführung!)

Die Verweildauer in den Krankenhäusern ist immer noch zu hoch; die Überkapazitäten führen zu nicht notwendigen oder zu langen stationären Aufenthalten. Auch geht es nicht an, daß alte Menschen, die im Krankenhaus sind, aber eigentlich nicht mehr dorthin gehören, weil sie schwerstpflegebedürftig sind, nur deshalb im teuren Krankenhaus bleiben und kostenintensive Betten besetzen, weil andere Pflegestellen, seien es Pflegeheimplätze oder ambulante Hauspflegestellen, nicht vorhanden sind; abgesehen davon hätten in diesem Bereich die Pflegeberufe längst als anerkannte Ausbildungsberufe entwickelt werden müssen. Da nützt es auch nichts, daß Herr Blüm die



Wüppesahl
Anerkennung häuslicher Pflege unterstützt hat, weil nicht jeder alte Mensch die Möglichkeit hat, durch Verwandte gepflegt zu werden. Die getroffenen Maßnahmen reichen außerdem nicht aus. Das hat Frau Heike Wilms-Kegel in ihrer brillanten Rede sehr deutlich dargestellt.

(Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Um Gottes willen!)

Die durch das Gesundheits-Reformgesetz geschaffene Entlastung für pflegende Familienangehörige ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wirkliche Organisationsreformen oder Ausgleichsmechanismen sind — das kann man zusammenfassend sagen — nicht geschaffen worden. Das aber sind die wirklich kostenintensiven und daher reformbedürftigen Teile des Gesundheitswesens, nicht jedoch die Zuzahlungen, Rezeptgebühren und Eigenleistungen der Patienten.
Ihre Gesundheitsreform ist ein voller Schlag ins Wasser. Mit welchem Impetus das heute debattiert wird, ist mir trotzdem nicht ganz klar, weil natürlich auch dem Ministerpräsidenten-Kandidaten in Nordrhein-Westfalen, also dem amtierenden Bundesarbeitsminister, eine Debatte mit solchen Fakten nur schaden kann. Vielleicht gibt es irgendwelche Hekkenschützen in Ihrer Fraktion, Herr Blüm, die dafür sorgen möchten, daß Sie ein besonders schlechtes Ergebnis in Nordrhein-Westfalen einfahren.

(Louven [CDU/CSU]: Kümmern Sie sich doch um Ihre „Fraktion" ! — Kolb [CDU/ CSU]: Er hat doch keine mehr! Er ist doch eine Ein-Mann-Fraktion!)

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118804900
Das Wort hat der Abgeordnete Egert.

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1118805000
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den vielfältigen Appellen und der Regierungserklärung des Bundesarbeitsministers sorgfältig gelauscht.
Herr Kollege Cronenberg hat gesagt, wir sollten uns um Objektivität in der Bilanz der Erfolge des Gesundheits-Reformgesetzes bemühen. Die Empfindlichkeit hier ist ja schon groß, wenn man es ein sogenanntes Gesundheits-Reformgesetz nennt. Aber aus der Sicht zumindest dieser beiden Fraktionen ist es nun einmal kein Reformgesetz. Ja, wie soll man denn so etwas nennen, wenn man es nicht für ein Reformgesetz hält, als ein sogenanntes Reformgesetz? Das ist keine Polemik. Das ist die Auffassung der beiden Oppositionsfraktionen.
Nun zur Objektivität in der Bilanz. Das Problem ist: Wenn die Vorlage so ist, wie sie der Bundesarbeitsminister hier in den Raum zu geben beliebt hat,

(Heinrich [FDP]: Der war sehr sachlich!)

dann darf man sich nicht wundern, daß ein gedeihliches Spielen nicht zustande kommen kann. Dies war keine sehr vernünftige Vorlage, Herr Kollege Heinrich. Ich will Ihnen das an einigen Punkten deutlich machen.
Der Minister hat beliebt — und der Kollege Hoffakker ist ihm dabei gefolgt; wie der Herr, so das Gescherr — , in einigen Bemerkungen politische Aussagen der SPD — die zu schelten das gute Recht des Ministers ist — in die Nähe zu Schlagzeilen im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" zu rücken. Herr Hoffacker hat gesagt: Das war heute der real existierende Sozialismus, der sich hier Wort verliehen hat. — Ja, es ist wahr, Herr Kollege Hoffacker: Hier haben sich die real existierenden demokratischen Sozialisten zu Wort gemeldet. Das wird so bleiben. Sie haben Dinge genannt, die Ihnen politisch nicht gefallen. Damit darf man sich auseinandersetzen. Aber es gehört zur Objektivität, Herr Kollege Cronenberg, daß man die Ebene der Auseinandersetzung sucht und nicht nach der alten, überlebten Adenauer-Moral versucht, zu plakatieren: Alle Wege der SPD führen nach Moskau. Das ist ein Ablenken von dem eigentlichen Gegenstand, den wir heute zu diskutieren haben, nämlich von der Bilanz über ein Jahr des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes.
Herr Minister, Sie haben einen zweiten Versuch gemacht. Sie haben gesagt: Der kleine David kämpft gegen Goliath. Norbert Blüm: ein Mann sucht seinen Weg; ein Mann geht seinen Weg; er hat sich gegen die Pharmaindustrie durchgesetzt; der kleine Norbert hat sie in die Knie gezwungen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Gut, Herr Minister; jeder sucht sich die Bilder, die. er braucht. Ich glaube mehr, Sie haben den Versuch unternommen, einen Mißerfolg in einen Erfolg umzubiegen. Ich wähle diesen Ausdruck, obwohl es kräftigere Worte gibt, die aber unparlamentarisch wären. Auch das ist legitim. Das darf man. Aber man darf sich nicht wundern, daß andere dies merken und das hier im Plenum des Deutschen Bundestages zur Sprache bringen, Herr Minister.

(Beifall bei der SPD)

Daß Sie das im Blick auf die Wahlen in NordrheinWestfalen tun müssen, kann ich verstehen. Ich fürchte nur, Sie werden nicht erfolgreich sein.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: „Ich hoffe"?)

Nun sagen Sie, Herr Dr. Hoffacker: Diese Reform haben wir im Interesse der Menschen gemacht.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: Einiger weniger gut verdienender Menschen! Ist ja richtig!)

Ich sage: Sie haben „im Interesse der Menschen" in einem Jahr die Summe der Belastungen für kranke Menschen — und dies, Herr Kollege Cronenberg, ist objektiv wahr — vermehrt. Die Belastungen für Menschen, die krank sind, sind vermehrt worden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Denn jede Maßnahme zusätzlicher Zuzahlung wird aus dem Portemonnaie kranker Menschen geholt und nicht aus dem Portemonnaie der Solidargemeinschaft. Das kann man politisch für richtig halten. Nur, man kann sich nicht gegen den Vorwurf wehren, daß hier — aus der Sicht der SPD-Fraktion und der anderen Oppositionsfraktion — eine einseitige Belastung der Patienten erfolgt ist.



Egert
Nun haben Sie gesagt: Das kommt ja den Beitragszahlern zugute. 2,62 DM, hat der Kollege Heyenn gesagt. 0,1 % im Durchschnitt, hat der Minister gesagt — wegen der Objektivität. Aber zur Objektivität gehört dann auch, sich die Profiteure dieser Entlastungsmaßnahme anzugucken. Da, wo es die Versicherten, die Beitragszahler, sind, mag das noch in Ordnung sein. Aber Arbeitgeber, die sozusagen kein Risiko haben, krank zu werden, sind die Profiteure einer geringeren Beitragszahlung zur Solidargemeinschaft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die können doch auch krank werden!)

Also, dies ist doch eine Umverteilung aus den Portemonnaies der kranken Menschen in die Portemonnaies der Arbeitgeber. Ist das sozial? frage ich. Ist das im Interesse der Menschen? Ich sage: Nein, das ist nicht im Interesse der Menschen.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das ist falsch!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118805100
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1118805200
Nein, ich will das jetzt im Zusammenhang ausführen. Auch der Kollege Louven hat gesagt, er lasse keine zu. Auch ich lasse jetzt keine mehr zu.
Dann hat der Kollege Cronenberg gesagt: Es ist nicht nur ein Kostendämpfungsgesetz, es ist ein Strukturgesetz.

(Günther [CDU/CSU]: Ist auch richtig!)

Aus der Sicht des Kollegen Cronenberg muß ich sagen
— wegen der Objektivität — : Es ist richtig, aus der Sicht der FDP ist dies ein Strukturgesetz. Aber es führt aus unserer Sicht in die politisch falsche Richtung. Die Struktur der Krankenversicherung, der solidarischen Krankenversicherung, wird verbogen im Interesse der Vorstellung der Freien Demokraten. Die haben einen strukturellen Einbruch erzielt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das ist wahr — wegen der Objektivität, die der Kollege Cronenberg zu Recht für diese Debatte reklamiert hat.
Nun zur Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Das Limbach-Papier ist da noch in meinem Kopf.

(Andres [SPD]: Wer ist das?)

— Frau Kollegin Limbach aus dem Deutschen Bundestag, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, hat ein Papier gemacht, bei dem wahrscheinlich, wenn Sie es denn hier im Bundestag zur Abstimmung gestellt hätten, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion in weiten Teilen mitgestimmt hätte, weil vieles davon vernünftig, richtig war und geholfen hätte, die solidarische Krankenversicherung zu stärken.
Und wegen der Objektivität die nächste Bemerkung. Wenn denn die Krankenversicherten belastet sind, dann stellt sich die Frage: Wer ist nicht belastet worden? Nicht belastet worden sind, wenn ich mir die Zahlen angucke, die ärztlichen Einkommen — sie steigen um 3,6 % — , die zahnärztlichen Einkommen
— sie steigen. Die Ausgaben für Zahnersatz steigen nicht. Kollege Louven hat gesagt, das sei notwendig. Nur, wer ist davon betroffen? Wer zahlt die Eigenleistung, die in diesem Einsparungspotential steckt? Doch wohl die Krankenversicherten, die Zahnersatz brauchen. Die müssen es doch wohl sein. Also, aus den Portemonnaies der Krankenversicherten wird umverteilt, Herr Minister.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Dies kann man so machen. Das kann man für richtig halten. Nur, man darf sich nicht wundern, daß andere immer wieder die Wählerinnen und Wähler auf die unsozialen Folgen Ihrer Umverteilungspolitik hinweisen werden. Und das machen wir. Das ist unser Part. Wir stellen uns damit schon dem Urteil der Wählerinnen und Wähler.
Dann lese ich weiter: Die Arzneimittelausgaben sind um einen Prozentpunkt gestiegen — trotz der Festbeträge. Daß die Festbeträge ein Stück Einsparpotential sind, hat niemand bestritten.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Doch, doch! — Bundesminister Dr. Blüm, doch!)

— Entschuldigung, ich habe es nicht bestritten. Ich habe nicht bestritten, daß das ein Einsparpotential ist.

(Reimann [SPD]: Aber zu wessen Lasten?)

Ich will auf zwei andere Tatbestände aufmerksam machen. Daß es offensichtlich Möglichkeiten gibt, die Arzneimittelgewinne weiter zu steigern, zeigen die Zahlen der gesetzlichen Krankenversicherung — wegen der Objektivität. Daß in der Pharmaindustrie lebhaft an Strategien zur Umgehung dieses Festbetragsmodells nachgedacht wird, steht dahinter.
Ein weiterer Punkt, Herr Kollege Cronenberg. Das ist unser Problem. Das Solidaropfer, von dem der Kollege Dreßler gesagt hat, daß es der Minister Blüm nicht erbracht hat — ich trete dieser Aussage bei —, kann man nicht nachträglich zum Solidaropfer, das durch das Festbetragskonzept ausgefüllt worden ist, umdeuten, weil uns der Minister neben dem Festbetragskonzept ein Solidaropfer der Pharmaindustrie versprochen hat, ausweislich der Protokolle des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])

Diesen Wortbruch dieses Ministers werden wir nicht müde werden anzuprangern — wegen der Objektivität und wegen der Geschichtsschreibung,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

die eben nicht nach sowjetischem Muster von dieser Regierung und den sie tragenden Fraktionen neu geschrieben werden darf wegen des real existierenden Sozialismus. In der einen Gesellschaft, in der Sowjetunion, schaffen wir das ab. Hier soll es eingeführt werden. Das kann doch nicht sein. Am Ende sind wir wieder schuld, wenn dort Wortbruch begangen wird. Das ist eine Form von Arbeitsteilung, die wir nicht mitmachen werden.

(Dreßler [SPD]: Sehr richtig!)





Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118805300
Herr Abgeordneter, der Herr Cronenberg ist so hartnäckig und versucht noch einmal, eine Zwischenfrage zu stellen.

Jürgen Egert (SPD):
Rede ID: ID1118805400
Herr Kollege Cronenberg muß sich heute gedulden. Ich habe gesagt: Der Kollege Louven hat den Stil versaut; nun bleibt es dabei.

(Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich könnte antworten. Aber ich will noch ein bißchen mit dem Minister Blüm weitermachen.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Solidarische Haftung oder was?)

Der tapfere Norbert Blüm hat mit seiner Tapferkeit die Krankenversicherten in die Schranken gefordert. Denen hat er wirklich gezeigt, was eine Harke ist. Der Pharmaindustrie wollte er zeigen, was eine Harke ist. Ich sage das einmal zu seinen Gunsten. Aber wie auch immer, es ist ihm einer in den Arm gefallen. Die Armkraft hat nicht ausgereicht. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. Was ihm aber vorzuwerfen ist, ist, daß er uns nun weismachen will, daß das alles nicht so gewesen sei. Dieses Spiel machen wir nicht mit.
Nun sagen Sie: Die SPD hat gar kein Konzept. Wir haben Konzepte.

(Zuruf von der — Hören Sie mit dem albernen Zwischenruf „Positivliste"auf. Wir haben gesagt, wir wollen eine vertragliche Beziehung zwischen denen, die für Arzneimittel bezahlen, und der Pharmaindustrie herstellen. Das Ergebnis davon wäre tatsächlich eine Positivliste. Ich habe zwischenzeitlich bei vielen Diskussionen mit Vertretern der Pharmaindustrie verstanden, daß die gesagt haben, das wäre ein marktwirtschaftliches Konzept. Da wird man als demokratischer Sozialist schon richtig betroffen. Dieses marktwirtschaftliche Konzept war die Alternative, der Sie hätten zustimmen können, wenn Sie wirklich gewollt hätten, daß — wie hat der Minister gesagt? — die Marktmacht der Krankenkassen zur Geltung kommt. Es wäre ein wirksamer Beitrag gewesen, die Marktmacht zur Geltung zu bringen, Herr Minister. (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Daß die großen Pharmabetriebe da begeistert sind, ist doch ganz klar!)

Das haben Sie versäumt.
In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl haben Sie uns eine Strukturreform versprochen. Heute sagen Sie: Da sind noch einige Aufgaben. Herr Cronenberg sagt — er will ja objektiv sein — : Das haben Wir noch nicht geschafft. Das finde ich in Ordnung. Nur können Sie der Opposition nicht verargen, daß sie auf die nicht erledigten Schulaufgaben dieser Regierungsfraktionen und dieser Regierung hinweist. Sie haben uns vollmundig eine Strukturreform aus einem Guß versprochen, der Bundeskanzler allen voran, dann der Bundesarbeitsminister. Daraus ist immer weniger geworden. Übrig geblieben ist ein Kostendämpfungsgesetz mit einigen in die falsche Richtung laufenden strukturellen Elementen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Hoffacker [CDU/ CSU]: Das ist eine Verfälschung! Schon bei der Einbringung hieß es: drei Schritte!)

Nun komme ich zu der Beitragsrückerstattung. Hier ist über die Selbstbeteiligung geredet worden. Wir Sozialdemokraten haben gesagt: Die einzige Form der Selbstbeteiligung, zu der wir stehen, ist die über die Beitragszahlung, und damit ist es genug. Nun höhlen Sie mit der Beitragsrückgewähr die Solidargemeinschaft wirklich aus. Wenn es denn so wäre, daß ein Ergebnis der Beitragsrückgewähr wäre — ich mache einmal ein solches Modell — , daß diejenigen, die ja dann auch davon profitieren, daß ein Mensch gesund bleibt, zur Kasse gebeten werden, daß also von Versicherten nicht in Anspruch genommene Leistungen zur Folge hätten, daß auf die ärztlichen Honorare ein Abschlag von einem Monatslohn vorgenommen würde — zugegeben, ein schwieriges Modell, das Sie sich nicht vorstellen können — , dann wäre die Belastung für die Krankenversicherten ausgleichbar. Dieses Modell wollen Sie nicht. Und ich weiß, warum die FDP das nicht will. Die christdemokratischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen halten das jetzt für toll, obwohl sie dieses Modell der Beitragsrückgewähr eigentlich nicht wollen können, weil es die solidarische Krankenversicherung tatsächlich zerstört.
Nun noch eine letzte Bemerkung zum Minister: Wissen Sie, Herr Bundesarbeitsminister, als jemand, der Ihren Reden immer wieder zuhören muß und zuhört,

(Heiterkeit bei der SPD)

bin ich immer wieder verwirrt — und Sie schaffen es langsam, meine Gehirnzellen zu irritieren — , daß Sie der tagesaktuellen Politik zunehmend dadurch entfliehen, daß Sie sich zu philosophischen Ausflügen hinreißen lassen. Letztens war es Kolakowski. Ich erinnere: Kolakowski mußte für das nichtssagende Sonstige herhalten, damit das Ganze philosophische Weihen kriegt.

(Heiterkeit bei der SPD)

Heute sagt der Minister — ich will damit schließen — : Die Kritik am Gesundheits-Reformgesetz trägt die Züge der Ratlosigkeit einer nihilistischen Politik.

(Heiterkeit bei der SPD)

Ihr Kritiker der sogenannten Gesundheitsreform, macht daraus, was ihr könnt. Ich sage: Wir müssen weiterkämpfen gegen ein unsoziales GesundheitsReformgesetz. Und, Herr Minister Blüm: Wir werden jede Gelegenheit nutzen, Ihnen die Wahrheit über die wirkliche Bilanz Ihres Gesundheits-Reformgesetzes zu sagen. An Bilanzfälschereien beteiligen wir uns nicht.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Such [GRÜNE] sowie des Abg. Wüppesahl [fraktionslos])


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118805500
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, alle drei Entschließungsanträge zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Es handelt sich dabei um den



Vizepräsidentin Renger
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6240, um den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/6260 sowie um den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6248. Erhebt sich Widerspruch gegen die Überweisung dieser Anträge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir machen jetzt eine Mittagspause bis 13 Uhr und fahren dann mit den Zusatztagesordnungspunkten 4 bis 8 fort. Als erster wird Herr Bundesminister Seiters das Wort erhalten.
Ich unterbreche die Sitzung bis 13 Uhr.

(Unterbrechung von 12.23 bis 13.00 Uhr)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118805600
Meine Damen und Herren, wir fahren in den Beratungen fort.
Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 4 bis 8 auf:
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Bericht der Bundesregierung über die Verhandlungen mit der DDR
— Drucksache 11/6214 —
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Deutschlandpolitik der Bundesregierung
— Drucksache 11/6231 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten
— Drucksache 11/6236 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Garantie der polnischen Westgrenze
— Drucksache 11/6237 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Endgültige Anerkennung der Oder-NeißeGrenze als Westgrenze Polens
— Drucksache 11/6250 —
Überweisungsvorschlag :
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ich rufe ferner die heute morgen auf die Tagesordnung gesetzten Vorlagen auf den Drucksachen 11/6242 bis 11/6244 und 11/4249 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Modernisierungsstopp für Waffensysteme, insbesondere sofortiger Stopp der Entwicklung des Jagdflugzeugs 90
— Drucksache 11/6242 —
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verkürzung des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes auf 12 Monate
— Drucksache 11/6243 —
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Reduzierung der Präsenzstärke der Bundeswehr
— Drucksache 11/6244 —
Beratung des Antrags der Abgeordneten Such, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz
— Drucksache 11/6249 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte dreieinhalb Stunden vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen. Ich danke Ihnen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Bundesminister Seiters.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1118805700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in Deutschland in den vergangenen Monaten viel erreicht.

(Conradi [SPD]: Wir? Das Volk der DDR!)

Mauer und Grenze sind geöffnet; Visumzwang und Zwangsumtausch sind aufgehoben; wir haben endlich einen freien Reiseverkehr von West nach Ost und von Ost nach West; das Brandenburger Tor ist offen. Ich denke, man kann schon sagen: An diesen elementaren Ergebnissen hat auch die Bundesregierung ihren Anteil durch eine standfeste und behutsame Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich erinnere an den erfolgreichen Besuch des Bundeskanzlers in Dresden, an seine Gespräche mit Ministerpräsident Modrow und Vertretern der Opposition, vor allem aber auch an seine Rede an die Menschen vor der Ruine der Frauenkirche und an die überwältigenden Reaktionen der Bevölkerung. Der ganze Ablauf dieses Besuchs — das sage ich auch als einen ganz persönlichen Eindruck — hat den Willen und die Bereitschaft der Bundesregierung unterstrichen, un-



Bundesminister Seiters
Seren Landsleuten in der DDR zur Seite zu stehen, und er hat gleichzeitig deutlich gemacht: Wir gehören zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich erinnere an die Öffnung des Brandenburger Tores zwei Tage vor Weihnachten mit Bildern, die um die Welt gegangen sind, und an die Silvesternacht in Berlin, die viele Stunden lang von der Hochstimmung der Menschen geprägt war, die damals bei der Jahreswende von 1989 auf 1990 ihren Höhepunkt erreichte. Ich denke, wir stimmen auch darin überein, daß in diesen Stunden die Menschen die Teilung der Stadt aufgehoben haben.
Heute, meine Damen und Herren, stehen wir wieder an einem kritischen Punkt. Das Klima in der DDR hat sich verändert; neues Mißtrauen gegenüber der Staatsführung ist entstanden.
Auch wir haben mit großer Sorge verfolgt, wie die SED ganz offensichtlich versuchte, ihre Machtposition neu zu zementieren.
So strebte sie kaum verhüllt und mit fadenscheiniger Begründung an, den restlos diskreditierten Staatssicherheitsdienst unter anderem Etikett weiter agieren zu lassen.
Der erste Entwurf für ein Wahlgesetz hätte den Oppositionsparteien bei den Wahlen keine faire Chance gegeben.
Die ersten Schritte zu Wirtschaftsreformen kann man allenfalls halbherzig nennen. Ganz allgemein gilt, daß jeder Schritt nach vorn, daß jede Verbesserung der Staatsführung von den Oppositionsgruppen und von der Bevölkerung abgetrotzt werden mußte.
So sind wir heute noch weit davon entfernt, daß der juristischen Beseitigung des Machtmonopols der SED endlich auch dessen tatsächliche Beseitigung folgt.
Die Folge von alledem, meine Damen und Herren, ist eine tiefe Unsicherheit bei den Menschen in der DDR über ihre Zukunftsperspektiven. Das führt dazu, daß der Übersiedlerstrom nicht abreißt. Seit dem 1. Januar sind über 25 000 Landsleute aus der DDR zu uns in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Mit jedem Tag verschlechtern sich damit die Chancen zu einer nachhaltigen Gesundung der Wirtschaft in der DDR. Denn die oft hochqualifizierten Arbeitskräfte, die weggegangen sind, werden in ihrer angestammten Heimat dringend gebraucht. Das letzte, was die DDR sich jetzt leisten kann, ist ein weiterer Aderlaß.
Die Schuld an dieser Entwicklung tragen nicht die Menschen, die keine Perspektive für sich sehen, sondern trägt ausschließlich und allein die SED mit ihrem bislang fehlenden Willen zu einem grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung appelliert an die gegenwärtige DDR-Führung, jetzt endlich zu begreifen, daß die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen keinen Aufschub dulden. Zugleich versichert sie unseren Landsleuten, daß sie auf den entschiedenen Willen der Bundesregierung vertrauen können, einen grundlegenden Wandel nach Kräften zu fördern und zu unterstützen. Die Bundesregierung bekräftigt deshalb erneut das Ziel ihrer Politik, auf freiheitliche und demokratische Verhältnisse und bessere materielle Lebensbedingungen in der DDR hinzuwirken, die den Wünschen der Menschen dort entsprechen. Nur so werden diejenigen, die eine Übersiedlung in die Bundesrepublik in Erwägung ziehen, dazu bewogen, in ihrer Heimat zu bleiben und dort beim Aufbau einer freiheitlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnung mitzuhelfen.
Vergessen wir aber auch nicht, daß die Hoffnung auf Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit für immer mehr Menschen in der DDR die entscheidende Perspektive für ihre Zukunft ist. Deshalb sage ich: Wer diese Hoffnung schmälert, fördert Resignation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In zahlreichen Gesprächen und Vereinbarungen mit den Verantwortlichen in der DDR sind während der vergangenen Wochen Entscheidungen getroffen oder Maßnahmen eingeleitet worden, die dem Prozeß der Reformen und der wirtschaftlichen Gesundung in der DDR Impulse geben sollen. Wir haben vereinbart, eine Reihe von Kommissionen neu einzurichten oder die Aufgabe bestehender Kommissionen zu erweitern. Neue Kommissionen, die ihre Arbeit bereits aufgenommen haben, gibt es zum Beispiel in den Bereichen Wirtschaft, Post, Umwelt, Verkehr, Tourismus und Bauwesen.
Besondere Bedeutung kommt in der vor uns liegenden Zeit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu. Der Bundeskanzler hat bei seinen Gesprächen in Dresden deutlich gemacht, daß staatliche Hilfe private Initiativen nicht ersetzen kann. Einen wirtschaftlichen Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die DDR unverzüglich für westliche Investitionen, das heißt für privates Kapital öffnet, wenn sie die notwendigen Schritte zur Stabilisierung ihrer Währung unternimmt und wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigungen ermöglicht. Ohne Gewerbefreiheit im weitesten Sinne des Wortes werden sich die wirtschaftlichen Kräfte nicht entfalten können,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und gerade hierauf ist die DDR heute mehr denn je angewiesen.
Wir erwarten von den Gesprächen in der gemeinsamen Wirtschaftskommission am kommenden Dienstag wichtige Hinweise darauf, mit welchen konkreten Schritten in den nächsten Wochen gerechnet werden kann. Auf unserer Seite ist die Bereitschaft zu fachlichem Rat und tatkräftiger Unterstützung vorhanden. Es kommt aber entscheidend darauf an, daß die Verantwortlichen in der DDR Abschied nehmen von staatlicher Bevormundung und zentralistischer Planung. Es kommt darauf an, daß sie die überfälligen Entscheidungen für eine leistungsfähige freiheitliche



Bundesminister Seiters
und soziale, marktwirtschaftliche Ordnung treffen, und zwar jetzt und schnell.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die jüngsten Äußerungen der stellvertretenden Ministerpräsidentin Luft sprechen dafür, daß die Gebote der Stunde inzwischen deutlicher gesehen werden und daß aus dieser Erkenntnis auch praktische Konsequenzen gezogen werden sollen. Wir hoffen, daß das sehr bald geschieht, denn die Zeit drängt, und sie läuft der DDR davon.
Meine Damen und Herren, am 19. Dezember 1989 ist zur Förderung der wirtschaftlichen und industriellen Zusammenarbeit ein Kooperationsabkommen ab - geschlossen worden. Für den dringend notwendigen Schutz von Direktinvestitionen und Joint-ventures muß die DDR möglichst bald in befriedigender Weise die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. Wir sind bereit, die Verhandlungen über das dann notwendige Investitionsschutzabkommen sofort aufzunehmen.
Die Bundesregierung hat ihrerseits bereits folgende konkrete Schritte unternommen oder zugesagt: die Vereinbarung eines gemeinsamen Reisedevisenfonds für die nächsten beiden Jahre mit einem Beitrag der Bundesrepublik Deutschland von jährlich über 2 Mil-harden DM, die Aufstockung der ERP-Kreditprogramme um 2 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt zur Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von Unternehmen und Betrieben aus beiden Staaten, die Erhöhung des Kreditrahmens für Lieferungen in die DDR um 1,5 Milliarden DM auf insgesamt 6 Milliarden DM, die Erhöhung der Postpauschale um 100 Millionen DM jährlich auf 300 Millionen DM, wobei der Gesamtbetrag sofort für den dringend notwendigen Ausbau der Post- und Fernmeldeinfrastruktur in der DDR verwendet wird. Die Verbesserung der Kommunikation ist für eine leistungsfähige Wirtschaft von mindestens ebenso großer Bedeutung wie für den Kontakt zwischen den Menschen.
Die Bundesregierung hat außerdem schon über 300 Millionen DM für bereits vereinbarte Pilotprojekte im Umweltschutz bereitgestellt; weitere Projekte sind in Vorbereitung.
Über Fragen der polizeilichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten, insbesondere der Rauschgiftkriminalität und des Terrorismus, hat ein erstes Expertengespräch beider Seiten stattgefunden. Als weiteres Feld der bilateralen Zusammenarbeit kommt der Katastrophenschutz in Betracht.
Auch über Fragen der Sozial- und Rentenversicherung, des Arbeitsmarktes und des Arbeitsschutzes haben intensive Gespräche auf Staatssekretärsebene stattgefunden, die fortgesetzt werden.
Ich will in diesem Zusammenhang ein kurzes Wort zur aktuellen Diskussion über unsere Leistungsgesetze sagen: Die Bundesregierung tritt unverändert für offene Grenzen und Freizügigkeit für alle Deutschen ein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Dies ist eine grundsätzliche Frage, und an dieser Haltung wird sich auch nichts ändern.
Dennoch kennt die Bundesregierung genau die Herausforderung, die sich vor allem kurzfristig aus der sozialen und beruflichen Eingliederung der großen Zahl von Aus- und Übersiedlern ergibt. So erhalten Aus- und Übersiedler seit dem 1. Januar 1990 Eingliederungsgeld an Stelle von Arbeitslosengeld, das Fremdrentenrecht wurde durch das Rentenreformgesetz grundlegend geändert, und zur Verhinderung illegaler Beschäftigung wurde die Einführung eines Sozialversicherungsausweises beschlossen.
Entscheidungen über das hinaus, was von der Bundesregierung bereits veranlaßt ist, bedürfen jedoch einer sorgfältigen Prüfung. Dazu wird der Kollege Blüm im einzelnen in dieser Debatte Stellung nehmen.
Ich möchte aber auch persönlich dringend appellieren, die Diskussion über diese Fragen in einer verantwortungsbewußten Weise zu führen

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

und dabei immer auch die Wirkungen auf die Menschen in der DDR, aber auch auf die bei uns zu bedenken.
Bei allen Gesprächen und Vereinbarungen ist Berlin voll einbezogen. Die Bundesregierung steht in einem engen Kontakt mit dem Berliner Senat und wird das am Ende des Jahres geführte Gespräch in Kürze fortsetzen. Ähnliches gilt für die Bundesländer insgesamt, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten an allen Überlegungen voll beteiligt werden.
Der Bundeskanzler hat am 21. Dezember vergangenen Jahres vor dem Bundesrat besonders darauf hingewiesen, es entspreche einem vernünftigen föderalen Denken, daß in der jetzt anstehenden Entwicklung die Bundesländer aufgerufen sind, in direkten Kontakten, aber auch in anderer Weise gemeinsam mit der Bundesregierung gesamtdeutsche Verantwortung zu übernehmen. Die Bundesregierung hat die Initiativen verschiedener Bundesländer zur Zusammenarbeit und zur Partnerschaft auf regionaler Ebene nachdrücklich begrüßt.
In unseren Gesprächen mit den Verantwortlichen in der DDR, über die die Bundesregierung selbstverständlich den Deutschen Bundestag wie bisher fortlaufend unterrichten wird, nehmen wir unsere Möglichkeiten wahr, auf die Fortsetzung der Reformprozesse in allen Bereichen zu drängen und auf die Einhaltung demokratischer Regeln hinzuwirken. Wer nicht will, daß die Menschen in der DDR entmutigt werden und in wachsender Zahl hierher übersiedeln, der darf jetzt keine Denk- und Gesprächspause bis zum 6. Mai einlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei einzelnen Abgeordneten der SPD)

Von unserer Seite darf nichts geschehen, was die Menschen in der DDR verunsichern könnte.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: Und auch nicht manipulieren!)




Bundesminister Seiters
Es wird deshalb auch bei dem für Mitte Februar vorgesehenen Besuch von Ministerpräsident Modrow bleiben. Eine Absage wäre ein falsches Signal. Stagnation kann nur Resignation fördern. Dies können wir nicht wollen, und dies können wir nicht verantworten.
Das Treffen wird Gelegenheit bieten, gerade auch die jetzt auftretenden und von mir bereits angesprochenen Probleme im Verhältnis der DDR-Regierung zur Opposition mit aller Deutlichkeit anzusprechen. Ein wesentlicher Punkt werden dabei das Wahlgesetz und die Frage der tatsächlichen Chancengleichheit für alle politischen Parteien und Vereinigungen im Hinblick auf die für den 6. Mai vorgesehene erste freie Wahl sein.
Maßgeblich für das Urteil der Bundesregierung ist, daß das neue Wahlrecht die Zustimmung der Opposition findet. Alle politischen Parteien müssen gleiche Chancen bei ihrer Betätigung und für den Wahlkampf erhalten. Dies gilt insbesondere auch für die Präsenz der Oppositionsgruppen im Fernsehen, im Rundfunk und in den Zeitungen der DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Der gegenwärtigen Regierung in der DDR fehlt die demokratische Legitimation. Sie kann sich nicht auf das Votum der Wähler in freien, gleichen und geheimen Wahlen stützen. Deshalb ist es ihre selbstverständliche Pflicht, sich um einen möglichst breiten Konsens mit der Opposition zu bemühen. Das setzt voraus, daß die Opposition über die Vorhaben der Regierung rechtzeitig unterrichtet und am runden Tisch in den Prozeß der Entscheidungsfindung voll einbezogen wird.
Was die Bundesregierung anbetrifft, so werden wir gerade auch in den kommenden Wochen jede sich bietende Gelegenheit zu einem intensiven Gespräch mit den Vertretern von Oppositionsparteien und -gruppen in der DDR nutzen. Das gilt für den Bundeskanzler, das gilt für die Mitglieder des Bundeskabinetts, und das gilt selbstverständlich auch für mich selbst bei meinem Besuch heute in einer Woche in der DDR.
Für die Bundesregierung bleibt maßgebend, was der Bundeskanzler bereits am 28. November 1989 bei der Vorstellung seines deutschlandpolitischen ZehnPunkte-Programms erklärt hat. Wir halten es für geboten, bei allem, was wir jetzt tun und entscheiden, die Auffassungen, Meinungen und Empfehlungen der oppositionellen Gruppen in der DDR zu berücksichtigen. Auf diesen Kontakt legen wir weiterhin größten Wert.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, dies gilt selbstverständlich auch für die Vorbereitung der angestrebten Vertragsgemeinschaft. Alle von mir aufgeführten Vereinbarungen, Entscheidungen, Verhandlungen oder Gespräche sind darauf gerichtet, die von beiden Seiten beabsichtigte Vertragsgemeinschaft zu entwickeln. Der Bundeskanzler hat dazu in seinem Zehn-PunkteProgramm erläutert, daß die Nähe und der besondere Charakter der Beziehung zwischen den beiden Staaten in Deutschland ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen, auf allen Ebenen und zunehmend gemeinsame Institutionen erfordern.
Meine Damen und Herren, nach unseren Vorstellungen muß die Vertragsgemeinschaft über den Grundlagenvertrag hinausgehen. Ein Vertragswerk dieser Art werden wir erst zum Abschluß bringen, wenn es in der DDR ein Parlament gibt, das aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.
Andererseits lassen sich schon angesichts des nicht abreißenden Zustroms von Übersiedlern bestimmte Maßnahmen nicht bis zu der Zeit nach dem 6. Mai hinausschieben. Was vor diesem Termin geregelt werden kann und geregelt werden muß, sollte auch schon davor geregelt werden. Wir wollen den bereits laufenden Prozeß zunehmender Vernetzung soweit wie möglich voranbringen. Wir werden deshalb mit der DDR Gespräche führen über die Intensivierung der Zusammenarbeit auf verschiedenden Gebieten und über die weitere Ausgestaltung und Koordinierung der bereits geschaffenen oder noch zu bildenden Kommissionen.
Der bevorstehende Besuch von Ministerpräsident Modrow wird Gelegenheit geben, die in Dresden getroffenen Absprachen zu bekräftigen, eine Zwischenbilanz der seitdem erreichten Ergebnisse zu ziehen und auf dieser Grundlage Orientierungspunkte für die Zusammenarbeit in der nächsten Zeit zu setzen. Ein Schwerpunkt der Gespräche werden auch die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sein, die den Menschen in der DDR verläßliche und ermutigende Zukunftsperspektiven eröffnen. Hierzu sind eindeutige Festlegungen seitens der DDR erforderlich, und zwar in erster Linie im Interesse der DDR selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Vertragsgemeinschaft wird es zunächst einmal darum gehen, einen Rahmen für die Entwicklung gemeinsamer Institutionen zu schaffen. Ausgangspunkt dafür können die gemeinsamen Kommissionen sein, wie sie teilweise schon bestehen und teilweise noch eingerichtet werden sollen. Auf diese Weise soll die Vertragsgemeinschaft zu jenen konföderativen Strukturen hinführen, von denen der Bundeskanzler in seinem Zehn-Punkte-Programm gesprochen hat. Dabei wird es natürlich auch darum gehen, grundsätzliche Fragen zu regeln; dies auch in Abstimmung mit den Mächten, die Verantwortung in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes tragen.
Nach unserem Verständnis ist die Vertragsgemeinschaft der erste Schritt auf dem Wege zu konföderativen Strukturen, die schließlich in eine Föderation, d. h. eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland einmünden sollen. Diese Perspektive muß auch in dem zu vereinbarenden Vertragswerk deutlich formuliert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wünschen uns, daß ein frei gewähltes Parlament
in der DDR eine solche Perspektive für die Lösung der



Bundesminister Seiters
nationalen Frage und damit das Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands bekräftigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Vertragsgemeinschaft darf nach unserem Verständnis also nicht als Festschreibung eines bestimmten Zustandes, namentlich der Teilung, verstanden werden. Sie ist Durchgangsstation im Rahmen eines organischen Prozesses, der im Sinne des ZehnPunkte-Programms des Bundeskanzlers vom geregelten Nebeneinander über ein wirkliches Miteinander in Deutschland zur Einheit führen soll.
Ich füge hinzu, daß es nach freien Wahlen in der DDR auch sinnvoll erscheint, bald ein gemeinsames parlamentarisches Gremium anzustreben.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Maßstab der Politik der Bundesregierung sind Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung. In diesem Sinne sind wir in den vergangenen Wochen und Monaten ein gutes Stück vorangekommen. Wir alle wissen — niemand täuscht sich darüber —, daß wir am Anfang eines schwierigen Weges stehen. Wir haben auch in der Hochstimmung der letzten Wochen immer gesagt, wir sind noch lange nicht über den Berg. Gewaltige Probleme stehen noch vor uns. Aber wir wissen auch und sind überzeugt, daß die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-Ost-Beziehungen, wie der Bundeskanzler das erläutert hat, eine organische Entwicklung ermöglicht, die den legitimen Interessen aller Beteiligten im Sinne der von uns angestrebten europäischen Friedens- und Freiheitsordnung Rechnung trägt.
Im Rahmen dieser Entwicklung bleibt das politische Ziel der Bundesrepublik Deutschland die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands durch freie Selbstbestimmung. Für dieses Ziel werden wir mit Entschlossenheit, mit Behutsamkeit und mit Augenmaß eintreten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118805800
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID1118805900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Jahresrückblick 1989 hat uns noch einmal vor Augen geführt, welch ein erstaunliches Jahr hinter uns liegt. In ihm hat sich mehr verändert als früher in Jahrzehnten.
Vorherrschend für uns Deutsche bei dem Jahreswechsel war sicher das Gefühl des Glücks und auch ein wenig des Stolzes über die deutsche Revolution in der DDR. Sie hat tiefe europäische Wurzeln, was nicht nur in den Jahreszahlen 1789/1989 symbolisch zum Ausdruck kommt. Die Freude über dieses Ereignis kann uns niemand verübeln.
Umgekehrt müssen wir uns vor einem nationalen Rausch hüten. Den unglücklichen Ausgang der Silvesternacht am Brandenburger Tor sollten wir insofern als Mahnung verstehen.
Es geht darum, mit Herz und Verstand die Chance zu nutzen, die sich uns als Deutsche und als Europäer bietet. Auch beim Herrn Bundeskanzler scheint ja die erste vorschnelle Euphorie verflogen zu sein. Sein Auftritt in Dresden war von Umsicht und Besonnenheit gekennzeichnet. Das war notwendig und gut zugleich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war immer so!)

Eine neue staatliche Einheit der Deutschen wartet nicht um die nächste Ecke. Es geht für unser Volk darum — ein Volk waren wir ja schon immer — , unser politisches Zusammenleben in Europa neu, demokratisch zu gestalten. Insofern, Herr Seiters, haben Sie recht: Da liegt noch viel Arbeit vor uns.
Zu der Ernüchterung der Union mag auch die harte Reaktion Gorbatschows auf den anfänglichen Alleingang des Bundeskanzlers beigetragen haben.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten insofern nicht vergessen, daß ohne Michail Gorbatschow diese Entwicklung überhaupt nicht möglich gewesen wäre.

(Beifall bei der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Auch darum wünschen jedenfalls wir Sozialdemokraten ihm Glück bei der Bewältigung der schweren Probleme,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) vor denen sein Land heute steht.


(Beifall bei allen Fraktionen)

— Ich freue mich darüber, daß das für das ganze Haus gilt.

(Feilcke [CDU/CSU]: Übrigens, wie geht es Ihrem Freund Axen?)

Aber auch die Reaktion unserer westlichen Nachbarn hat noch einmal gezeigt: Selbst in unserer ureigensten, der deutschen Frage kann es keinen deutschen Alleingang geben.
Doch nun zu der nüchternen Arbeit, die vor uns liegt. Wir haben die heutige Debatte verlangt, weil wir zwei Monate nach dem Fall der Mauer von der Bundesregierung gern etwas Genaueres und Verbindlicheres dazu gehört hätten, was sie denn nun mit der Übergangsregierung dort weiter verhandelt; denn die Dresdener Erklärung vom Bundeskanzler und von Herrn Modrow war ja — notwendigerweise — mehr durch allgemeine Ankündigungen gekennzeichnet. Welche Kommissionen haben schon Ergebnisse erreicht, vor allen Dingen aber: Was sind die Ziele dieser Arbeit, und in welchen Schritten sollen sie erreicht werden?
Ich muß Ihnen sagen: Unsere Information darüber ist nicht sehr beglückend. Das liegt u. a. daran, daß der Bundeskanzler unseren Vorschlag, wir sollten uns zusammensetzen, seinerzeit abgelehnt hat. In der DDR lachen die Leute schon darüber und sagen: Komischerweise sprecht ihr hier mit uns allen, aber untereinander findet das bei euch offenbar nicht statt. — Ich halte das für sehr töricht!

(Beifall bei der SPD)




Dr. Ehmke (Bonn)

Ich halte es für sehr töricht, daß wir in Fragen, die uns alle betreffen und die so schwierig sind, wie sie sind — und die Debatte der letzten Tage hat ja auch bei Ihnen gezeigt, wie schwierig sie sind —, ein Verfahren praktizieren,

(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist doch bestens gelaufen!)

in dem mehr gegeneinander geredet wird als miteinander. Ich bin nicht der Meinung, daß das klug ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind weiter zur Zusammenarbeit bereit. Meine Kollegen werden dazu noch sprechen. Ich muß feststellen: Sie, Herr Seiters, haben uns heute eigentlich nicht sehr viel weitergeholfen. Es gibt eine berühmte englische Geschichte, die besagt: Eine Regierungsauskunft muß kurz und wahr sein, und sie darf keine Informationen preisgeben, die nicht schon vorher bekannt waren. Nach diesem Motto sind Sie heute verfahren. Das, was Sie gesagt haben, wußten wir alles. Wir hätten gerne gehört, wie es weitergehen soll. Sie sagen: Es soll Rahmenbedingungen geben. Gut, aber Sie sagen leider nicht, welche. Mit welchen Zielvorstellungen gehen Sie in die Verhandlungen hinein?

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Zehn-PunktePlan! Da steht alles drin!)

— Nein, das steht da nicht drin!
Ich bin der Meinung, daß es für die Diskussion hier im Lande — die Sie, wenn ich Ihre Reaktionen hier sehe, offenbar nur für albern halten — sehr hilfreich wäre, wenn wir zu einem viel engeren Informationsaustausch kämen. Dies heute war, so muß ich sagen, nur ein sehr bescheidener Anfang auch an Informationen.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind der Meinung, so können wir das nicht weitermachen, sondern die Dinge sind eilig. Das sagt jetzt auch die Regierung. Es muß zu einem viel engeren Austausch, zu einer viel engeren Zusammenarbeit kommen. Es hat doch keinen Zweck, sich über etwas zu streiten, über das man offenbar — jedenfalls in bestimmten Grundsätzen — einig ist.
Wir haben auch — und das beunruhigt natürlich alle — ernsthafte Prognosen, daß die Zahl der Übersiedler und der Aussiedler noch entscheidend anwachsen wird. Darum sagt nun auch die Bundesregierung — und dem stimmen wir zu — , am wichtigsten sei es, den Übersiedlerstrom einzudämmen.

(Conradi [SPD]: Da hat sie aber lange gebraucht!)

Das Nächstwichtige ist dann, daß das Geld, das wir für diesen Zweck aufwenden, nach drüben gegeben wird und eben nicht hier für die Übersiedler ausgegeben wird. Das haben wir von Anfang an gesagt, und wir sind froh darüber, daß das nun auch die Meinung der Bundesregierung ist.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sie sind der Entwicklung immer hinterher gelaufen! Sie sind immer zehn Jahre zu spät gekommen!)

Herr Bundeskanzler, Sie werden ja noch sprechen. Da Herr Seiters es nicht gesagt hat, frage ich Sie: Welche konkreten Schritte wollen Sie denn unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen? Denn das, was bisher gemacht worden ist, reicht ja ganz sicher nicht aus. Es kann ja auch nicht nur heißen, die DDR müsse dafür Voraussetzungen schaffen. Das muß sie auch, aber wir wollen die Debatte gerade darüber, welche Schritte mit welchen Zielsetzungen wir jetzt tun, um das entscheidende Ziel zu erreichen, daß die Menschen dort bleiben, daß sie nicht die DDR schwächen, indem sie hierher kommen — mit all den Problemen, die sich dadurch auch in der Bundesrepublik ergeben und auf die ich gleich noch zurückkomme. Also, Herr Bundeskanzler: Welche Schritte soll es geben, und welche Finanzmittel wollen Sie dafür demnächst in den Nachtragshaushalt einstellen?
Dann kommt die Frage, was hier in der Bundesrepublik getan werden muß, um den Zuzug einzudämmen. Wir sind der Meinung: Man darf die Übersiedlung nicht auch noch materiell begünstigen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wer tut das denn?)

Wir sind weiter der Meinung: Von der Entwicklung in der DDR und in Osteuropa überholte Leistungen und Regelungen müssen abgeschafft werden.

(Beifall bei der SPD)

Das gleiche gilt für Aussiedler.
Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung und die Koalitionsparteien haben erst so getan, als bestünden diese Probleme gar nicht oder als ob man sie ignorieren oder aussitzen könnte. Dann haben Sie angefangen, auf Oskar Lafontaine zu schimpfen, der die Dinge beim Namen genannt und damit den Menschen in unserem Land aus dem Herzen gesprochen hat.

(Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ CSU]: Schämt euch doch dieses Mannes!)

— Herr Dregger, weil Sie gerade dazwischenrufen, sage ich Ihnen folgendes. Ich habe diese Ausfälle sowohl von Ihrer Seite

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Ausfälle? Das ist die Wahrheit!)

als auch von Graf Lambsdorff gegenüber Oskar Lafontaine sehr wohl gehört. Ich freue mich darüber, weil das zeigt, daß er schon jetzt für Sie ein Angstgegner ist.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP)

Jetzt kommt zum Schaden auch noch der Spott, denn jetzt müssen Sie tröpfchenweise zugeben, daß er recht hat. Nur trauen Sie sich noch nicht ganz, das zu sagen. Sie haben nun tagelang innerhalb der Koalition diskutiert, weil wir diese Debatte verlangt haben. Was hat Herr Seiters uns heute erzählt? — Daß Sie im Grundsatz beim Grundsatz bleiben. Ja, das wissen wir auch. Wir möchten aber auch noch wissen, was Sie tun wollen. Das haben wir bisher nicht gehört.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind der Meinung: Es wird höchste Zeit, daß die Bundesregierung in Abstimmung mit den Ländern und den Gemeinden handelt. Die Außerungen von Herrn Späth und Herrn Rommel sind ja sicherlich



Dr. Ehmke (Bonn)

auch von Ihnen zur Kenntnis genommen worden, auch wenn sie nicht auf der Linie des Kanzlers liegen. Wir sagen: Auch in diesem Bereich sollte es so sein, daß wir miteinander reden, mehr miteinander als gegeneinander.
Meine Damen und Herren, ich habe die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme in der DDR und in der Bundesrepublik zuerst genannt, weil auf diesen Gebieten jetzt die wichtigsten Entscheidungen fallen müssen. Darüber sind wir uns sicherlich einig. Wir sind aber auch froh, Herr Seiters, daß nun endlich Klarheit bezüglich der Vertragsgemeinschaft geschaffen worden ist. Der Bundeskanzler hatte ja in Dresden unterschrieben, daß er sie noch vor dem 6. Mai abschließen will. Er hatte als Datum dann sogar April genannt. Nun hat sich unsere Position durchgesetzt, nämlich, daß man dies — da man die Vertragsgemeinschaft als konstitutiven Akt ansehen muß — mit der Übergangsregierung nicht tun kann. Wir sind froh, daß die Bundesregierung, anders als in Dresden gesagt wurde, jetzt auf unsere Position eingeschwenkt ist.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von den GRÜNEN: Es scheint sich um ein Schwarzer-Peter-Spiel zu handeln!)

Ich glaube übrigens nicht, daß wir dabei viel Zeit verlieren. Es gibt ja Anzeichen dafür, daß die Regierung, die aus den freien Wahlen hervorgehen wird, auf dem Weg zur deutschen Einheit etwas gelenkiger sein wird als die Übergangsregierung. Wir finden es gut, daß insofern Übereinstimmung besteht.
Weil wir draußen gefragt werden, will ich noch ein Wort der Erklärung dazu sagen, daß wir in bezug auf solche konstitutiven Akte die freien Wahlen abwarten wollen. Das steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß man im Interesse der Stabilisierung der DDR unverzüglich handeln und verhandeln muß. Es hat bei uns nie einen Zweifel daran gegeben, daß diese Wochen genutzt werden müssen. Herr Seiters, darüber gibt es keinen Streit.

(Zuruf von den GRÜNEN: Macht doch die DDR-Debatte nicht zum Wahlkampfthema!)

Der Streit im Zusammenhang mit der Frage, ob man mit der Übergangsregierung eine Vertragsgemeinschaft vereinbaren soll, ging darum, daß man nicht durch die Art, in der man mit der Übergangsregierung umgeht, die SED durch vermeidbare politische Akte aufwertet.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mit der SED haben wir noch nie etwas zu tun gehabt!)

— Ich weiß, Herr Dregger — wenn ich das recht verstanden habe — : Sie haben nie mit Honecker gesprochen, nur wir. Honecker war als Staatsgast nicht vom Bundeskanzler eingeladen, sondern von der SPD.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich schlage Ihnen vor, diese idiotische Diskussion zu begraben.

(Beifall bei der SPD)

Es war völlig richtig von dieser Regierung und von unserer Regierung, mit den Machthabern dort im Interesse des Friedens und der Menschen drüben zu sprechen.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sie hatten Parteikontakte!)

Inzwischen hat es dort drüben eine deutsche Revolution gegeben, auf die wir uns gern und oft berufen. Darum bin ich der Meinung: Nachdem sie stattgefunden hat, muß man natürlich mit den demokratischen Kräften sprechen und nicht mit denen, die sie fast 40 Jahre lang verhindert haben. Was daran zu verstehen so schwer sein soll, verstehe ich nicht. Daß Sie so tun, als ob Sie das nicht verstünden — das ist eine lächerliche Diskussion in einer der zentralen Fragen dieser Wochen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Wendehals!)

— Wir werden ja gleich sehen, ob Sie mir in dem zustimmen, was ich jetzt sage. Wir sind der Meinung: Die SED muß als Hauptverantwortliche für das, was dort 40 Jahre lang geschehen ist, durch freie Wahlen schon am 6. Mai von der Macht abgelöst werden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Bohl [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich weiß nicht, ob es überhaupt eine Reform dieser Partei geben kann; wenn, dann jedenfalls nur in der Opposition.
Wenn wir uns darin einig sind, sind wir uns ganz sicher auch darin einig, daß wir alles vermeiden müssen, was in den Augen der Wähler oder der Demokratiebewegung drüben wie eine direkte oder indirekte Begünstigung der SED aussehen könnte.

(Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Ihr habt doch noch euer Papier mit denen, das Strategiepapier!)

Es ist eine andere Problematik, daß, wenn die Reformkräfte gewinnen, sie noch jahrelang mit einem Teil der alten Kader werden arbeiten müssen. Das ist in Polen so, das ist in Ungarn so, das wird auch in der DDR so sein. Da mache ich mir nichts vor.
Ich sage nur: Für die Wahlen muß klar sein, daß wir nicht direkt oder indirekt irgend etwas machen, was einen falschen Anschein hervorrufen kann.

(Bohl [CDU/CSU]: Wie ist das eigentlich mit Salzgitter?)

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein Wort zu unseren Landsleuten in der DDR und besonders in Leipzig sagen. Ich habe eine herzliche Bitte an sie: Lassen Sie Ihr Eintreten für Freiheit und Einheit, für Einheit in Freiheit nicht von sogenannten „Republikanern" mißbrauchen, weder von solchen aus der Bundesrepublik noch von solchen aus der DDR. Für den Aufbau eines demokratischen Deutschland — darin sollten wir uns einig sein — können wir Rechtsradikale so wenig brauchen wie Stalinisten. Diese schaukeln sich doch schon jetzt aneinander hoch.

(Beifall bei der SPD)

Nun komme ich zur Gretchenfrage, zu den Blockparteien. Sie sind zwar, mit der SED verglichen, differenziert zu behandeln, aber im Grundsatz nicht an-



Dr. Ehmke (Bonn)

ders. Sie sind 40 Jahre mit der SED mitgelaufen. Viele Menschen in der DDR sagen: Teilweise waren sie schlimmer als die SED. Sie müssen ihre Verantwortung tragen, genauso wie die SED.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr eure auch!)

— Ich verstehe, daß dies für die FDP und für die Union Schwierigkeiten schafft, die sie nicht zu verantworten haben. Aber auch für diese Parteien gilt: Sie werden sich um so eher reformieren, wenn überhaupt, je eher sie in der Opposition sind.

(Beifall bei der SPD)

Darum ist klar: Auch eine Unterstützung der Blockparteien liefe auf einen Akt gegen die Demokratiebewegung hinaus. Ich war sehr froh, als ich heute morgen der Zeitung entnehmen konnte, daß jedenfalls der CSU-Vorsitzende, Herr Waigel, sich im gleichen Sinne geäußert hat.
Die wirkliche Scheidelinie verläuft zwischen alt und neu. Das ist keine Frage der Taktik. Es geht um die geistige und politische Wirkkraft eines Ereignisses, das wir nicht herbeigeführt haben, sondern mit dem wir beschenkt worden sind. Wir müssen die Wirkkraft der deutschen Revolution in der DDR erhalten und unbeschadet mit herübernehmen in das gemeinsame europäische Haus und in die gemeinsame deutsche Wohnung in diesem europäischen Haus.
Ich weiß aus persönlichen Gesprächen, daß viele Menschen in der Demokratiebewegung drüben lieber in einer Bürgerinitiative arbeiten wollen, um Macht zu kontrollieren, als in einer Partei, um Macht auszuüben. Diesen Ansatz des „Neuen Forums" verstehe ich. Beides schließt sich nicht aus. Ich fände es schade, wenn diese Idee der Bürgerkontrolle — das ist vor allen Dingen die Idee des „Neuen Forums" — verlorenginge.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Dann müßte man aber ein großes Wahlbündnis schließen!)

Wir müssen als politische Partei aber daran interessiert sein, der Macht der alten Parteien eine neue politische Gestaltungskraft gegenüberzustellen. Das ist für uns unsere sozialdemokratische Schwesterpartei in der DDR.

(Feilcke [CDU/CSU]: Nicht mehr die SED?)

Dafür sprechen eine Menge Gründe. Zunächst einmal spricht dafür, daß fast alle Reformgruppen im weiteren Sinne im Spektrum des demokratischen Sozialismus beheimatet sind,

(Lachen bei der CDU/CSU)

also der ökologischen und sozialen Erneuerung.

(Zuruf des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])

— Sie sind offenbar nicht viel drüben, Herr Dregger.
Für die Wiedergründung der SPD in der DDR und für die Zusammenarbeit mit ihr spricht aber auch die deutsche Geschichte. Leipzig und Dresden, Erfurt und Chemnitz, Ost-Berlin und Magdeburg waren Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung. Hitler und Stalin haben die Sozialdemokratie blutig unterdrückt, aber sie haben sie nicht vernichten können, auch nicht in der DDR.

(Beifall bei der SPD)

Für uns gehört diese Gewißheit zu den beglückendsten Erlebnissen dieser Wochen. Ich muß Ihnen auch ganz ehrlich sagen: Wir sind stolz darauf, mit welchem Mut und mit welchem Elan die Sozialdemokraten in der DDR darangegangen sind, diese Partei wiederzugründen und sie aus ihrem eigenen Erlebnis- und Erfahrungsschatz neu zu gestalten.

(Beifall bei der SPD)

Die Sozialdemokraten in der DDR wollen im Wahlbündnis mit anderen Reformkräften zur bestimmenden politischen Kraft nach den Wahlen werden. Sie haben darin unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der SPD)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Themen ansprechen, die eng mit diesen Fragen zusammenhängen. Das erste ist die polnische Westgrenze. Herr Bundeskanzler, ich habe aufmerksam gelesen, was Sie in Paris gesagt haben. Aber das, was wir hören wollten, haben wir nicht gehört, daß nämlich wir Deutsche generell sagen: Wir haben keine Gebietsansprüche. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß in der „International Herald Tribune " vom 16. Januar einer der Hauptkommentatoren dieser Zeitung einen Vergleich zwischen den neuen Führern des freien Osteuropas und dem Bundeskanzler angestellt und das Verhalten des Bundeskanzlers in dieser Frage „unverantwortlich" genannt hat.

(Zurufe von der CDU)

— Wenn Sie das für Quatsch halten, dann verstehen Sie nichts von deutscher Außenpolitik meine Herren.

(Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ CSU]: Wer war das? — Bohl [CDU/CSU]: Wie hieß der Herr noch mal?)

Der Kanzler hat doch der Bundestagserklärung vom 8. November letzten Jahres zugestimmt. Ich weiß nicht, warum es dann nachher so schwer ist, zu sagen: Wir werden auch, wenn die beiden deutschen Staaten wieder zusammen sind, keine Gebietsansprüche stellen. — Vielleicht ist das Wahltaktik. Herr Bundeskanzler, ich bin der Meinung, so wie die Debatte mit dem Hickhack zwischen Außenminister und Bundeskanzler jetzt geführt wird, treiben Sie den sogenannten „Republikanern" die Wähler in die Scheuern.
Die Frau Bundestagspräsidentin, die Ihrer Partei angehört, wie Ihnen sicher noch in Erinnerung sein wird, hat, weil sie das genauso sieht wie wir, einen sehr vernünftigen Vorschlag gemacht. Diesen Vorschlag hätten wir heute gerne zur Abstimmung gestellt. Durch die Art der Debatte, die Sie gewählt haben, geht das heute nicht. Aber Sie können sicher sein, wir werden das im Auswärtigen Ausschuß behandeln. Dann kommen wir mit diesem Antrag zurück ins Plenum. Das wird dann auch der FDP Gelegenheit geben, ihre Meinung noch einmal deutlich zu machen. Meine Damen und Herren von der FDP: Es ist



Dr. Ehmke (Bonn)

natürlich schön, zu sagen, Sie seien unserer Meinung.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Nein, überhaupt nicht!)

Auf der anderen Seite tragen Sie diese unklare Politik in der Koalition immer noch mit. Ich finde es auch für die Glaubwürdigkeit des deutschen Außenministers nicht gut, daß er vor den Vereinten Nationen eine Erklärung abgibt, es dann aber, wenn er nach Hause kommt, heißt,

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Der ist auf Sie nicht angewiesen, Herr Ehmke!)

daß die Bundesregierung nicht hinter dieser Erklärung stehe. Was ist das für eine Regierung, wenn der Außenminister vor einem internationalen Gremium eine Erklärung abgibt, die er selbst als völkerrechtlich verbindlich bezeichnet hat, dann aber gesagt wird: Nein, sie gilt nicht.
Wir sind der Meinung, das muß aus der Welt, so schnell wie möglich. Darum unser Antrag. Über ihn kann heute nicht abgestimmt werden; wir kommen auf ihn zurück.

(Bohl [CDU/CSU]: Herr Axen ist immer noch in Moskau! — Pfeffermann [CDU/CSU]: So gestottert haben Sie schon lange nicht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die zweite Frage betrifft die Rüstungs- und die Abrüstungspolitik.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Immer draufsatteln!)

— Herr Dregger, ich will Ihnen gerade ein Kompliment machen. — Im Grunde ist die Union dabei, mit dem gebührenden 10jährigen Abstand — wie in der Ostpolitik — langsam auf unsere sicherheitspolitische Linie einzuschwenken.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Wir begrüßen das. Die Gemeinsamkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen kann gar nicht groß genug sein. Wir erkennen auch gerne an, daß die Bundesregierung wichtige Beiträge zu den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Wien geleistet hat. Wir hoffen, daß noch in diesem Jahr ein erstes Abkommen zustande kommt. Nur, Herr Bundeskanzler und meine Damen und Herren von der Union, da nun auch Sie wissen, daß die alte Bedrohungsanalyse nicht stimmt, da nun auch Sie wissen, daß es um gemeinsame Sicherheit und strukturelle Angriffsunfähigkeit geht, ziehen Sie daraus doch endlich die Konsequenzen für unsere eigene sicherheitspolitische Planung, statt noch weitere Jahre zu vergeuden, wie das schon Herr Wörner getan hat. Auch Herr Stoltenberg versucht ja nur mit kleinen Schritten Versäumtes nachzuholen.
Unserer Meinung nach ist es ein Skandal, daß die Bundesregierung in dieser Situation in Europa wieder an einer Wintex/Cimex-Übung teilnehmen will, deren Szenario hirnrissig ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hirsch [FDP])

Es ist ein Trauerspiel, daß Sie in dieser Situation den höchsten Wehretat in unserer Geschichte verabschiedet haben. Es ist unverantwortlich, auch gegenüber den jungen Wehrpflichtigen, daß Sie in der Frage der Wehrpflicht — 12, 15, 18, wieder 15, 12 Monate — so herumpfuschen. Daß Sie ein milliardenschweres Rüstungsprojekt wie den Jäger 90 weiter durchziehen, ist ebenfalls unverantwortlich und hat auch Folgen; denn selbst, wenn Sie abbrechen, müssen Sie berücksichtigen: Je länger Sie den Abbruch hinauszögern, um so höher werden die Abbruchkosten. Vergessen Sie das bitte nicht.

(Beifall bei der SPD — Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Völlig falsch!)

— Das ist nicht falsch.
Es ist schließlich schizophren, wenn Sie noch heute atomare Kurzstreckenraketen fordern und aufstellen wollen, die das freie Polen, das freie Ungarn, Magdeburg, Leipzig, Dresden und Rostock erreichen. Das ist doch schizophren!

(Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ CSU]: Das wollen wir doch gar nicht!)

Nachdem die FDP in fast allen Punkten, die ich genannt habe, auf SPD-Position umgeschwenkt ist, kann man ja wohl sagen, Herr Bundeskanzler, daß die amtierende Bundesregierung heute sicherheitspolitisch blockiert ist.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wir sprechen über Deutschland und nicht über Raketen!)

Darum wünschen wir uns Sozialdemokraten, Herr Dregger, daß wir bei einem Jahresrückblick 1990 werden sagen können: Die Regierungen in Bonn und in Ost-Berlin haben mit kräftiger Unterstützung der Opposition in beiden Staaten in der Übergangszeit recht ordentliche Arbeit geleistet; die Ausgestaltung der deutschen demokratischen Einheit in einem demokratischen Europa haben die Wähler in der DDR wie in der Bundesrepublik aber den Sozialdemokraten anvertraut.

(Beifall bei der SPD — Dr. Bötsch [CDU/ CSU]: So hättet ihr das wohl gerne!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118806000
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lintner.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1118806100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ehmke, wir haben Ihnen aufmerksam zugehört. Aber man muß zu Ihrer Rede natürlich schon sagen, daß es außerordentlich schwierig ist, beispielsweise mit der SPD deutschlandpolitisch vernünftig ins Gespräch zu kommen.

(Dr. Vogel [SPD]: Na!)

Ich will Ihnen nur einmal kurz aufzählen, was Sie uns so alles empfohlen haben. Sie haben uns etwa empfohlen, uns nicht mit Modrow zu treffen, Herr Büchler. Das zweite war, der Herr Bundeskanzler sollte sich doch mit Modrow zusammensetzen. Das nächste war, wir sollten keine Verträge vor dem 6. Mai abschlieBen. Heute höre ich, es gehe nur um die Optik.

(Dr. Vogel [SPD]: Nein! Zuhören! — Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD])




Lintner
— Herr Ehmke, Sie haben hier auf die Optik abgestellt.
In Ihrem Antrag, den Sie vorgelegt haben, heißt es wörtlich: „Sofortmaßnahmen" und „schnelles Handeln" . Bringen Sie Ihre eigene Argumentation bitte zunächst einmal in eine logische Reihenfolge.
Im übrigen müßte man sagen: Das Jahr 1989 hat für die SPD z. B. das Faktum gebracht, daß Sie die Kurve von ihrer Gemeinsamkeit mit der SED hin zur SPD gekratzt haben. Meine Damen und Herren, diesen empörenden Vorgang, den wir ja noch immer gut in Erinnerung haben, sollte die deutsche Öffentlichkeit nicht so schnell vergessen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Ich bin auch darüber etwas empört, wie Sie ohne zusätzliche Erläuterung und Differenzierung von den Blockparteien drüben sprechen.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie wollen damit hoffentlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß natürlich viele von denen, die sich heute aus durchaus lobenswerten Motiven etwa in der SPD drüben engagieren, früher in der SED Mitglied waren. Man sollte doch nicht so tun, als hätte diese Vergangenheit etwa nur die Ost-CDU aufzuarbeiten. Das ist ein generelles Problem für den Bereich der DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Wer regiert denn dort? — Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist aber defensiv!)

— Frau Kollegin, Sie wissen, daß z. B. der Vorsitzende, Herr Böhme, früher Mitglied der anderen Partei war. Was soll also der Vorwurf? Was soll das, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen?

(Dr. Vogel [SPD]: Eingesperrt war er! Unglaublich!)

Es ist wichtig, meine Damen und Herren, an der Gemeinsamkeit in den grundsätzlichen Positionen dennoch keinen Zweifel zu lassen; denn die SED und die Regierung Modrow dürfen wirklich keine Chance haben, uns gegeneinander auszuspielen. Dieser Zusammenhalt ist notwendig; denn im Verlaufe der letzten Wochen hat sich ja bereits gezeigt, wie trickreich die SED und leider auch die Regierung der DDR agieren, wenn es darum geht, der SED soviel Macht wie möglich zu erhalten.
Man schreckt noch nicht einmal davor zurück — das ist leider zu konstatieren — , die eigene Bevölkerung einzuschüchtern und ihr Angst vor den notwendigen, unumgänglichen Veränderungen zu machen. Selbst auf die Gefahr hin, meine Damen und Herren, mit solchen Kampagnen die Leute geradezu in die Bundesrepublik zu treiben, wird in der DDR leider noch von amtlicher Stelle Desinformation betrieben. Es werden unnötig Ängste geschürt.
Schon das Eintreten für staatliche Einheit wird dort als „rechtsradikal" verunglimpft. Jeder Zentimeter Macht wird geradezu mit Tricks, Zähnen und Klauen verteidigt.
Echte Abhilfe für die Bevölkerung in der DDR brächte eigentlich nur die Auflösung der SED/PDS, ein Schritt, der eigentlich überfällig ist, wie ich meine, der aber leider noch nicht zustande gekommen ist.
Der Spuk, meine Damen und Herren — da sind wir uns einig — , ist hoffentlich spätestens am 6. Mai zu Ende, wenn die Wähler in der DDR die SED mit dem Stimmzettel in die Wüste schicken können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Der Schulterschluß hier in der Bundesrepublik und der Schulterschluß mit den oppositionellen Kräften in der DDR sind die beste Gewähr dafür, daß alle Restaurationsversuche erfolglos bleiben.
Ausdrücklich begrüßen will ich auch, das klare und unumkehrbare Nein ehemaliger Blockparteien, zur Zusammenarbeit mit der SED/PDS in der Zeit nach dem 6. Mai und vielleicht sogar schon vorher.
Erfreulich ist, daß sich praktisch alle bedeutsamen politischen Kräfte, außer der SED, mittlerweile dafür ausgesprochen haben, die alten Länder wiederherzustellen;

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Bravo!)

denn auf diese Weise können auch wichtige Teile der so langlebigen und undemokratischen Machtstrukturen der SED aufgebrochen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erfreulich ist aus unserer Sicht natürlich auch, daß sich, wiederum außer der SED, alle wichtigen Parteien und Gruppen in der DDR voll zum Ziel der staatlichen Wiedervereinigung bekennen. Damit kommt zugleich der Wille der überwiegenden Mehrheit der Landsleute in der DDR zum Ausdruck, einen deutschen Staat herbeizuführen.
Unsere Sorge gilt allerdings in diesem Punkt — es kann nicht verschwiegen werden — mehr der SPD hier in der Bundesrepublik.

(Büchler [Hof] [SPD]: Was haben Sie denn für Sorgen?)

— Herr Büchler, Sie wissen das noch besser als ich, weil Sie Akteur in dieser Sache sind.
Noch immer stehen Ihrer Glaubwürdigkeit in diesem Punkt viele Worte und viele Äußerungen aus der letzten Zeit entgegen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Büchler [Hof] [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas!)

— Ich darf Prominentere als Sie zitieren.
Nehmen Sie z. B. Ihren Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, der im Zusammenhang mit der Bezeichnung „Wiedervereinigung" noch vor einiger Zeit von der „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik" gesprochen hat.

(Jahn [Marburg] [SPD] und Dr. Vogel [SPD]: Zu Recht!)

— Sie nicken, Herr Dr. Vogel; ich bedanke mich.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Armer Mensch! Er hat es nicht begriffen!)




Lintner
Ich kann auch Sätze von Egon Bahr zitieren: „Die Wiedervereinigung ist kein Thema".

(Dr. Vogel [SPD]: Fragen Sie doch die Magdeburger und die Rostocker nach Willy Brandt!)

— Hören Sie ruhig zu. Es sind wörtliche Zitate; Sie können meiner Rede durchaus vertrauen.

(Dr. Vogel [SPD]: Sie müssen sie richtig lesen!)

Auch der Satz vom „leichtfertigen und illusionären Wiedervereinigungsgerede" stammt von einem von Ihnen, nämlich vom Regierenden Bürgermeister Momper.
Besonders attraktiv sind in dem Zusammenhang die Sprüche der SPD-Genossen aus Bayern. Herr Glotz und Herr Schöfberger haben sich dort im Dezember letzten Jahres geäußert. Der eine hat die Wiedervereinigung noch als „opportunistisches", gar „widerwärtiges Wort" bezeichnet, und der andere hat von der „stereotypen Formel" gesprochen, die „außer ein paar Rückwärtsgewandten", wie es hier heißt, „niemanden mehr befriedigen" könne. Soviel an Zitaten aus Ihrer jüngsten Vergangenheit.
Aber ich kann Ihnen auch nicht den Hinweis auf die jetzt wörtlich zitierte Feststellung in Ihrem gemeinsamen Papier mit der SED ersparen:
„Sozialdemokraten und Kommunisten — hier war die SED gemeint —
berufen sich beide auf das humanistische Erbe Europas. "

(Dr. Vogel [SPD]: Dann kommt die Widerlegung! — Zuruf von der SPD: Sie berufen sich auf die Soziale Marktwirtschaft!)

Herr Ehmke, das steht hier alles noch im Raum. Wir und die deutsche Öffentlichkeit warten immer noch auf klarstellende, den Irrtum ehrlich bekennende Worte der hiesigen SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Mehr fällt euch nicht ein, das ist das Problem!)

Es ist schade, daß Sie sich dazu bis heute nicht bereit gefunden haben. Ich glaube, Sie sollten diesen Mut um der großen Sache willen, um die es geht, tatsächlich auch aufbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1118806200
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118806300
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, das Wahlkampfniveau und Hickhack dieser Diskussion zu verlassen und auf den europäischen Rahmen hinzuweisen, in dem diese Debatte stattfindet.
Auch ein Kalter Krieg ist ja ein Krieg. Wir sollten die Ereignisse, die derzeit die Sowjetunion und alle ost- und mitteleuropäischen Länder erschüttern, einmal unter dem Aspekt betrachten, daß es sich um Erosionen und Wirren am Ende eines Krieges handelt, nur eben eines Kalten Krieges, und diesen Krieg hat die Sowjetunion verloren. Sie hat ihn infolge der Hochrüstung verloren, mit der sie sich zu Tode gerüstet hat und mit der sie auch zu Tode gerüstet wurde. Sie hat ihn auf Grund der technologischen Unterlegenheit verloren, wofür die Cocom-Liste der symbolische Ausdruck auch eines Mauerbaus, allerdings von westlicher Seite aus, war. Sie hat ihn infolge der inneren Widersprüche verloren, die in einem Weltreich, das so viele Nationalitäten zusammenzwingt, unvermeidlich sind, und sie hat ihn infolge der eigenen unerträglichen demokratischen Unfreiheit in einem System verloren, das sich selbst stolz „Diktatur des Proletariats" genannt hat und das das Volk und seine Interessen verachtet und vergessen hat.
Irgendwann werden die Historiker wissen, wann der genaue Zeitpunkt war, an dem sich auch im Zentralkommitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Erkenntnis durchsetzte, dieser Krieg sei verloren. Ohne diese Erkenntnis ist der Aufstieg Gorbatschows aber nicht denkbar. Hans Magnus Enzensberger hat neulich gesagt: „Die wahren Helden unserer Zeit sind nicht die, die die Kriege gewinnen, sondern es sind die, die den Rückzug organisieren, es sind die Helden des Rückzugs. "
Seit der Erkenntnis, daß der Kalte Krieg verloren ist, organisiert Michail Gorbatschow den Rückzug, den Rückzug aus Afghanistan, den Rückzug der sowjetischen Raketen und Truppen aus den befreundeten Ländern, den Rückzug vor allen Dingen aus den gigantischen Bürokratien, mit denen diese Länder übersät waren, die längst bei weitem mehr Kosten als Nutzen verursacht hatten, und auch den Rückzug aus manchem Projekt der Unterwerfung der Natur in den weiten Ebenen Rußlands — und vielleicht sogar auch den Rückzug aus dem Baltikum. Daß so ein Rückzug eine wirkliche Sisyphusarbeit unserer Zeit ist, haben die Menschen weltweit begriffen, und deshalb stellt die Figur Michail Gorbatschows alles in den Schatten, was der Westen an Staatsmännern und Staatsfrauen zu bieten hat, und deshalb sieht auch George Bush, der offensichtlich wohl nur die Blitzattacke beherrscht, neben ihm immer ein bißchen wie ein Pennäler aus.
Die Völker in dem riesigen sowjetischen Weltreich merken dieses Blasen zum Rückzug. Die Ränder dieses Weltreiches drängen nach Autonomie, die alten Konflikte brechen auf, blutig und auch anarchisch.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Daß auf dem Weg von und nach Moskau Armeen aufgerieben werden, das war schon eine Erkenntnis von Feldherren früherer Jahrhunderte. Jetzt reibt dieser Rückzug nach Moskau die sowjetische Armee auf. Sie hatte sich selbst zu weit von Moskau entfernt.
Und wie reagiert nun der Westen, wie reagiert die NATO auf diese besondere historische Situation? Sie reagieren, wie sie es in den Kriegsstrategien des 18. und 19. Jahrhunderts gelernt haben: Wer einen Krieg gewonnen hat, sei es auch einen kalten Krieg, der rückt eben vor. Merkwürdigerweise ist es immer der Sieger, der sich schutzbedürftig fühlt. Er schickt seine



Frau Dr. Vollmer
Armeen nicht nach Hause. Er schickt Berater an die Front, Unterhändler, Kommissäre, Wirtschaftsfachleute mit sehr viel Begleitmusik, wie es der Westen jetzt tut. Er vergißt auch nicht die begleitende Truppe von Predigern und Ideologen, die den demoralisierten Geschlagenen der anderen Seite auf neue Zielrichtungen und neue Gesellschaftsordnungen vorbereiten sollen.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Eine schöne Vokabel!)

Solche Prediger der Überlegenheit des westlichen Systems sehe ich derzeit sehr viele in allen Städten der DDR und auch auf allen Parteitagen in der DDR.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

In diesem Zusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns jetzt die politischen Vorstöße von Helmut Kohl diskutieren.
In der Kategorie des kalten Krieges hatte die Bundesrepublik eine besondere Rolle. Sie war so etwas wie ein westlicher Frontstaat. Nun, wo der kalte Krieg gewonnen ist, sieht sie in dieser Situation, in der ersten Reihe zu sein, auch die Chance, die erste in der Reihe der ökonomischen Vorwärtsstrategen zu sein. Das macht einen ungeheuren Standortvorteil gegenüber all unseren Partnern in der EG aus, die das sensibel und sehr nervös registrieren, wie man auch aus den französischen Reaktionen sehen kann.
Dazu kommt auf Grund der deutschen Geschichte etwas Besonderes — ich glaube, von da bezieht Helmut Kohl seine besondere Motivation, wenn ich ihn richtig interpretiere — : Die Generation der Gründerväter der Bundesrepublik war davon geprägt, daß der Drang der deutschen Politik des „Dritten Reiches" nach Osten mit dem Verlust der deutschen Einheit bezahlt werden mußte. Davon hat sie sich fortdauernd beschämt gefühlt. Der gewonnene kalte Krieg macht uns plötzlich einen ökonomischen Weg nach Osten frei und verspricht gleichzeitig die Wiederherstellung der Einheit quasi zum Nulltarif. Er verspricht also die Umkehr der Ergebnisse des Hitler-Kriegs, den Ausstieg aus seiner Geschichte und aus seinen historischen Folgen. Das erscheint natürlich äußerst reizvoll. Das ist aber eine Veränderung der europäischen Welt, wie sie sonst nur durch gewaltige, gewalttätige und heiße Kriege möglich wurde.
Gerade weil dieser Geist der Vorwärtsstrategie, der Augenblickschance und des nationalen Vorteils das Handeln und Denken Helmut Kohls bestimmt, kommt der Diskussion über die Grenzfrage eine so große symbolische Bedeutung zu. Man fragt sich ja schon lange: Warum eigentlich immer dieses Theater um die Grenzfrage? Nach den Gesetzen der Realpolitik, nach dem Geist bestehender Verträge, auch in Anrechnung des Lebensschicksals von mindestens zwei Generationen von Menschen, die dort gelebt haben, steht die polnische Westgrenze längst definitiv fest.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Warum eigentlich will Helmut Kohl sie nicht anerkennen?

(Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Das tut er doch!)

Der Grund, den er angibt, nämlich daß er als Repräsentant der Republik sich nicht gegen die Verfassung stellen könne, ist doppelt falsch: zum einen wegen der Verfassungsinterpretation und zum anderen, weil der Kanzler, also der dritte führende Repräsentant der Bundesrepublik, damit die beiden ersten Repräsentanten, nämlich den Bundespräsidenten und die Bundestagspräsidentin, des Verfassungsbruchs zeihen würde.
Seine tatsächlichen Gründe sind andere: Erstens. Die Anerkennung der Grenze ist ihm ein Faustpfand für das Aushandeln der deutschen Einheit mit den europäischen Nachbarn, das er vorhat. Etwas, was historisch entschieden ist, die polnische Westgrenze, soll eingetauscht werden gegen etwas, das keineswegs historisch feststeht, nämlich die deutsche Einheit. Damit das gelingt, muß das, was feststeht — nämlich die polnische Westgrenze — , so lange diskutiert werden, bis sie als unsicher erscheint. Auf der anderen Seite muß das, was nicht feststeht — die deutsche Einheit —, so lange herbeigeredet werden, bis alle fest daran glauben.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Blödsinn redet die!)

Der zweite Grund für die Grenzdebatte liegt darin, daß mit der fortdauernden Diskussion um die polnische Westgrenze etwas anderes gerade nicht mehr diskutiert werden soll. Die reiche Bundesrepublik hat bis heute die NS-Opfer in Polen und in den anderen osteuropäischen Staaten nicht entschädigt und auch nicht die Zwangsarbeiter, durch die diese Industrie groß geworden ist. Die Bundesrepublik hat — anders als die DDR — nur äußerst bescheidene Reparationszahlungen geleistet. Käme es aber zu einer deutschen Einheit, müßte es verfassungsgemäß einen Friedensvertrag geben,

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wieso denn?)

der die Grenze und alle Entschädigungsforderungen definitiv regelte.

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Nein!)

Das weiß auch Helmut Kohl. Und für diesen Fall, auf den er hinarbeitet, sollen schon durch diese Debatte heute die Kosten gesenkt werden. Das ist der eigentliche Grund.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat das bereits gemerkt. Diese Zeitung, die man inzwischen mit Fug und Recht neben dem „Spiegel" als das „Zentralorgan" der „großen nationalen deutschen Wiedervereinigungspartei" bezeichnen kann,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Stuß, was Sie erzählen!)

hat es deutlich gesagt: „Die Anerkennung der Grenze ist auszuhandeln mit Verzicht auf alle möglichen Entschädigungsforderungen. " Auch die „FAZ" weiß natürlich, daß diese Forderungen im Augenblick in Polen sehr nachdrücklich erhoben werden.
Das Motto der Kanzlerpolitik ist eigentlich einfach. Jeder kann es sehr schnell begreifen. Darin liegt auch ihre eigenartige Macht. Dieses Motto lautet — übrigens nicht nur in diesem Fall — : „Man kann immer



Frau Dr. Vollmer
nur eines, entweder gewinnen oder verlieren. " — Und er will gewinnen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist auch richtig! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind Verlierer!)

— Ich komme darauf.
Deswegen ist diese Politik so maßlos und so gefährlich, deswegen paßt sie trotz ihrer Einfachheit so ganz und gar nicht in die ökologische komplizierte Architektur des neuen Europa, das eben so einfach nicht herzustellen ist und das den historischen Erblasten eben nicht ausweichen darf. Sie paßt nicht zu dem Faktum, auf das Eduard Schewardnadse hingewiesen hat, daß die Sowjetunion 20 Millionen Tote im Kampf gegen die Kriegsziele des Hitlerfaschismus zu beklagen hatte. Sie paßt auch nicht zur entstehenden besonderen politischen Kultur der Kompromisse des runden Tisches in Europa und der ehrenvollen Auswege für die Unterlegenen.
Was wäre die Alternative? Es gab bei der politischen Linken einmal einen historisch dummen Spruch. Der hieß: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen".

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen Sie heute!)

Der Spruch müßte heute heißen: Von der Sowjetunion lernen heißt Rückzüge lernen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie in Armenien!)

Michail Gorbatschow macht den Rückzug aus einer Niederlagenposition heraus. Aber er macht ihn sehr konsequent und sehr vorsichtig.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Für wen sprechen Sie hier eigentlich, Frau Vollmer?)

Die westliche Politik muß etwas leisten, das es noch nie gegeben hat. Noch nie hat es das in der Geschichte gegeben: eine Politik des Rückzugs aus einer Siegerposition heraus. Ihre Antwort auf das neue Denken im Osten müßte dann heißen: solidarische Hilfe bei den Umwandlungsprozessen ohne eigene Invasionsabsichten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Was soll denn dieser Unfug? — Blödsinn!)

Sie müßte heißen: Garantien für den Kräfteausgleich dieses Prozesses. Und sie müßte heißen, besonders keine starken Zentralmachten ausgerechnet in der Mitte dieses neuen Europa herzustellen. Das klingt idealistisch. — Ihre Reaktionen zeigen, daß Sie etwas anderes wollen.

(Kraus [CDU/CSU]: Es wäre falsch, wenn man nicht reagierte!)

Ich aber behaupte: Heutzutage wäre eine solche Politik für das neu entstehende Europa reinste Realpolitik. Wenn das Siegen und Kriegeführen in Europa aufhören soll, wird es diese Rückzüge geben müssen. Der erste, dringendste und notwendigste Rückzug

(Zurufe von der CDU/CSU: Ist der der GRÜNEN! — Abzug der GRÜNEN!)

ist dabei der militärische. Deswegen ist auch der jüngste Vorschlag des FDP-Bundesvorstandes im Ansatz richtig. Deswegen muß dieses Parlament sofort und jetzt erklären, wie es die grünen Anträge fordern: keine Kurzstreckenraketen, keinen Jäger 90, sofortige Reduzierung der Wehrdienstzeit, sofortige Reduzierung der Bundeswehr, und zwar, Herr Stoltenberg, um mehr als nur einen Flottillenadmiral,

(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

sofortige und drastische Reduzierung des Rüstungshaushalts.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Noch ein Gedanke. Die Helden des Rückzugs aus der Niederlage eröffneten den Weg für gewaltfreie Revolutionen und demokratische Veränderungen in Osteuropa, wie es sie so noch nicht gegeben hat, so gewaltfrei. Wenn aber — das ist unsere Verantwortung — die Sieger die Kunst des Rückzugs nicht erlernen, sondern meinen, die Gunst der Stunde durch Vorrücken und einseitige Vorteilsnahme und Demütigung der Unterlegenen ausnützen zu können —

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Wer wird denn gedemütigt da drüben? So was Dummes! — Gegenruf von den GRÜNEN: Sie haben nichts verstanden!)

diese Gefahr besteht mit dem Zehn-Punkte-Plan —, dann steigt die Gefahr, daß die Revolutionen gewalttätig werden.

(Zurufe von der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Hier kann man reden, was man will! — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Hier darf jeder alles sagen!)

Die Situation in der DDR ist keinesfalls stabil. Sie ist auch nicht stabil gewaltfrei. Das hat mit der bundesdeutschen Politik außerordentlich viel zu tun. Das hat mit der unvernünftigen Hast zu tun, mit dem Gebrülle hier, indem Hoffnungen geschürt werden, von denen jeder weiß: Sie können sich allenfalls in zehn oder fünfzehn Jahren erfüllen.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das denn?)

Das hat auch damit zu tun, daß die Menschen über die Gefahren der Situation im unklaren gelassen werden.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Sie wissen das!)

Nicht einmal Herr Genscher hat diesem Parlament berichtet, was er in seinen Gesprächen in Moskau wirklich erfahren hat. Natürlich hat Herr Kohl diesem Parlament verschwiegen, was die westlichen Verbündeten ihm unter vier Augen wirklich gesagt haben.

(Dr. Blank [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit! Woher wissen Sie das denn?)

Aber Helmut Kohl hat unverantwortlich mit dem Feuer gespielt,

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Vom Stasi wahrscheinlich, was?)




Frau Dr. Vollmer
mit dem europäischen Feuer. Er hat Michail Gorbatschow das Löschen überlassen.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist nicht zu fassen! Sie sollten sich schämen!)

Deswegen müssen in diesem Land in der Zukunft andere Mehrheiten die deusch-deutsche Politik bestimmen, Mehrheiten, die mehr davon begreifen, daß die Kunst des Rückzugs, der Vorsicht, des fairen Ausgleichs die Politikkunst des 21. Jahrhunderts sein wird.
An dieser Stelle will ich ein kurzes Wort zur SPD sagen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Wenn Sie mich denn lassen. — Ich begreife die SPD-Politik seit einiger Zeit nicht mehr. Ich habe auch nicht begriffen — das hat weh getan —, daß ausgerechnet Willy Brandt sein ungeheures internationales Renommee in dieser Situation so in diese Debatte eingebracht hat.

(Niggemeier [SPD]: Gott sei Dank!)

Wir sind, meine ich, in einer Zeit, wo die Öffentlichkeit einen Anspruch auf eine politische Alternative zu den Plänen Kohls hat. Kann man in dieser Zeit so stark auf kurzfristigen Vorteil bedacht sein, auf einen Standortvorteil bei den Wählern hier, auf einen Standortvorteil innerhalb der Opposition in der DDR? Bedenken Sie bitte eines, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialdemokratie: Bei allen gewaltfreien Revolutionen in Osteuropa hat es ein breites, aber ein gleichberechtigtes Bündnis aller Oppositionsgruppen gegeben. Tadeusz Mazowiecki und Vaclav Havel haben nie einer Partei angehört. Ansätze zu einem solchen gleichgewichtigen Oppositionsbündnis gab es auch in den Diskussionen am runden Tisch und auch innerhalb der Oppositionsgruppen in der DDR. Ich weiß nicht, ob Ihr jetziger massiver Eingriff in diese Diskussion in der DDR wirklich in Übereinstimmung mit dem Grundlagenvertrag steht.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU — Roth [SPD]: Das ist ja selbst Gysi nicht eingefallen!)

Es war nicht gut, daß der Einfluß der westdeutschen Sozialdemokratie sofort auf den Führungsanspruch der SPD innerhalb der Oppositionsgruppen gerichtet war. Es war nicht gut, daß die Chance der Mehrheitsbildung gegenüber der SED für die Bündniskoalitionen dadurch schwächer geworden ist.
Das Ergebnis erscheint im Augenblick bitter. Anstatt hier bei uns eine ernsthafte Opposition gegen die Kohlsche Politik aufzubauen,

(Lachen bei der CDU/CSU)

haben Sie in der DDR die Bedingungen der Opposition gegenüber der SED und damit den Machtkampf innerhalb der Opposition erschwert. —

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Unsinn! So etwas Dummes! — Weitere Zurufe von der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Nun schnappen Sie erst einmal nach Luft! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Tief durchatmen!)

Der Satz war unklar:

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur der! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Sie haben die Einheitsbildung innerhalb der Opposition durch diesen Führungsanspruch erschwert und damit die Chancen, die SED in die Minderheit zu drängen, verringert.

(Beifall des Abg. Hoss [GRÜNE] — Widerspruch bei der SPD)

Hier, in diesem Parlament, drängelt sich jetzt alles in der „großen nationalen Wiedervereinigungspartei" . Da ist es mir zu eng, da ist es mir auch zu dumpfig,

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Dann bleib doch draußen!)

da herrscht mir auch zu viel nationales Gedröhne. Wir als die letzte verbliebene deutschlandpolitische Opposition im Deutschen Bundestag

(Lachen bei der SPD und der CDU/CSU — Lintner [CDU/CSU]: Weil die GRÜNEN selber nicht einig sind, muß man dazusagen!)

streben dagegen eine westdeutsche Politik an, die nicht jedes freie Feld zu besetzen versucht, die nicht jede Oppositionsgruppe in Zwangsobhut nimmt, die sich nicht vorrangig mit der SED um die alte Parteikasse prügelt, die sich nicht am Schüren von Haß und Arroganz gegenüber Künstlern und Intellektuellen beteiligt — wie die „FAZ" es in ihrer Gutsherrenmanier im Augenblick meisterhaft versteht, wenn sie mit dem Handschuh mal eben pitsch, patsch die Opposition und die Intellektuellen abstraft — und die der demokratischen Öffentlichkeit damit eine ernsthafte Alternative anbietet: einen verläßlichen Weg zu einer ökologischen Konföderation zweier radikaldemokratischer deutscher Republiken in einem Europa, das dann ein pazifistisches sein wird.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Es sprach Frau Vollmer [SEDPDS]!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118806400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1118806500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stimmen mit der Frau Kollegin Vollmer überein: Wir verstehen die Politik der SPD auch nicht. — Da endet die Übereinstimmung.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ihr versteht nicht einmal eure eigene! — Dr. Vogel [SPD]: Verstehen Sie denn Ihre? — Weiterer Zuruf von der SPD: Warten Sie einmal den 6. Mai ab!)

Meine Damen und Herren, vier kurze Schlaglichter, alle aus der letzten Woche:
Erstens. Frau Professor Luft, stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates für Wirtschaft der DDR, am 13. Januar 1990 in Berlin:



Dr. Graf Lambsdorff
Wir streben eine Marktwirtschaft an, die geeignet ist, der grundlegenden gesellschaftlichen Erneuerung die erforderliche kräftige wirtschaftliche Grundlage ebenso zu geben wie Kompatibilität für die Wirtschaftskooperation nach Ost und West zu gewährleisten.
Zweitens. Schreiben des Malermeisters Franz Becher aus Böhlitz-Ehrenberg bei Leipzig an mich:
Was interessiert vor allem den jugendlichen Werktätigen, ob am Fabriktor statt „VEB Roter Oktober" „Mannesmann AG" oder „General Motors" steht? Unsere fleißigen Werktätigen wollen gut arbeiten, dafür guten, gerechten Lohn verdienen, um ihren Familien ein sorgenfreies Leben zu bieten.

(Beifall bei der FDP — Zuruf von den GRÜNEN: Profite hecken!)

Drittens. Schreiben des Rates des Kreises Suhl an Frau Eva Jatzek in Freilassing/Bayern:
Sie werden darüber informiert, daß der „VEB Ultra-Möbel Suhl" zur Durchführung einer geplanten Investitionsmaßnahme ... den Entzug des Eigentumsrechts an Ihren folgenden Grundstücken beantragt hat. Der Rat des Kreises Suhl hat dem Antrag zugestimmt.
Datum des Enteignungsschreibens: 22. Dezember 1989.

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das ist die Wirklichkeit!)

Viertens. Assistent der Technischen Universität Dresden vor drei Tagen in Düren zu mir:
Am 6. Mai abends werden wir in unseren Autos sitzen, die erste Hochrechnung abwarten und in Richtung Westen starten, wenn das Ergebnis ein SED-Erfolg wird.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung ist verwirrend; sie wird vermutlich auch verwirrend bleiben. Um so notwendiger ist Klarheit darüber, was wir denn wollen. Dabei sollten wir uns um äußerste Präzision im Ausdruck bemühen, nämlich getreu der Erkenntnis: Wenn die Sprache nicht stimmt, dann stimmt es auch im Kopfe nicht.
Zwei Beispiele aus der heutigen Diskussion. Es ist eine gefährliche Diskussion, so über Blockparteien zu reden, wie es hier geschehen ist. Es ist gesagt worden — ich kann es nicht nachprüfen; ich weiß es nicht —, Herr Böhme, der Gründer der SPD in der DDR, sei in der SED gewesen. Herr Vogel hat dem durch einen Zwischenruf entgegengehalten: Eingesperrt war er. Das gilt auch für viele Mitglieder anderer Blockparteien.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vorsichtig bei der schnellen Beurteilung und Verurteilung der einen und der anderen und der moralischen Eingruppierung von unserer Seite!

(Roth [SPD]: Wir haben nichts gemacht! — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das haben wir doch gar nicht gemacht! — Zuruf von der SPD: Block bleibt Block!)

— Herr Vogel, „Block bleibt Block", das ist der Zwischenruf aus Ihren Reihen.

(Kuhlwein [SPD]: Nicht die einzelnen meinen wir, sondern die Parteiorganisation!)

Meine Damen und Herren, ein zweiter Fall in bezug auf unsere Diskussion. Frau Vollmer, wie kann man eigentlich eine Lieferbehinderung wie COCOM, die man diskutieren und kritisieren kann, mit dem Mauerbau gegen Menschen unter Einsatz von Waffen und Schießbefehl vergleichen?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präzision im Ausdruck ist in unserer Situation besonders notwendig.
Das Stichwort unserer Debatte heißt Vertragsgemeinschaft. Aus der Diskussion der letzten Wochen schält sich heraus — Herr Seiters hat es heute bestätigt — : Es wird sich im Endergebnis um zwei Vereinbarungen handeln, die von unterschiedlicher politischer und rechtlicher Bedeutung sind.
Einmal soll alles das zusammengefaßt werden, was man das Ergebnis der Fortsetzung der Politik der kleinen Schritte nennen kann, wobei diese Schritte jetzt erfreulicherweise größer geworden sind. Alles das, was zwischen den auf beiden Seiten zuständigen Ministern verhandelt wird, fällt in diese Kategorie: Wirtschaft, Umweltschutz, Infrastruktur, Telekommunikation, Bildung und Ausbildung, humanitäre Hilfe, besonders im Gesundheitswesen, usw. Alle Abreden dieser Art bleiben unterhalb der Schwelle der Ratifizierungsbedürftigkeit, und sie können nach Auffassung der FDP vor dem 6. Mai 1990 mit der Regierung Modrow vereinbart werden. Dazu gehört auch der Abschluß eines Investitionsschutzabkommens und, wenn es gewollt wird, eines Doppelbesteuerungsabkommens. Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow haben solche Ziele in ihrer gemeinsamen Mitteilung über die Gespräche in Dresden am 19. und 20. Dezember 1989 angesprochen.
Unter dem Stichwort „Vertragsgemeinschaft" versteht die FDP aber mehr. Wir haben heute einiges über den beabsichtigten Inhalt gehört. Ergebnisse können der Natur der Sache nach noch nicht vorliegen. Wir erwarten ebenso wie die Opposition, daß wir weiter darüber informiert werden. Es ist aber klar, daß derartige Abreden zumindest in die Nähe völker- und staatsrechtlicher Qualität rücken, ja sie wahrscheinlich auch erreichen werden. Das kann nach unserer Auffassung nur mit einer frei gewählten Regierung der DDR unterzeichnet und nur von einem frei gewählten Parlament der DDR ratifiziert werden, also nicht vor dem 6. Mai.

(Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unsere Haltung, meine Damen und Herren, wird durch eine weitere Überlegung bestärkt. Die Absichtserklärung von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow vom 19. Dezember 1989 — es gab nämlich zwei Erklärungen — entspricht nicht mehr voll den heutigen politischen Gegebenheiten.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)

Das ist keine Kritik; die Entwicklung ist weitergegangen.



Dr. Graf Lambsdorff
Ein gemeinsamer Vertrag kann sich nicht auf Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft beschränken. Er muß sich auch mit dem Thema der deutschen Einheit beschäftigen, zumindest eine Aussicht darauf eröffnen.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)

Es ist aber wohl kaum denkbar, meine Damen und Herren, daß dieser Aspekt mit einer SED-geführten Regierung und mit der nicht frei gewählten Volkskammer angegangen werden kann.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Er muß aber behandelt werden, wenn der Hoffnungslosigkeit, der Aussichtslosigkeit der Menschen in der DDR entgegengewirkt werden soll. Immer noch kommen täglich bis zu 2 000 Menschen aus der DDR in die vom SED-Vorsitzenden Gysi als Zweidrittelgesellschaft geschmähte Bundesrepublik.

(Zuruf von der SPD: Oder mehr, wie gestern! Gestern waren es 2 500!)

Zugegebenermaßen tragen die polemischen Ergüsse des saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine zu diesem Sog bei.

(Widerspruch bei der SPD)

Sie erwecken den Eindruck, als würde es nicht mehr lange dauern und wir würden unsere Grenzen für diese Menschen schließen. Wer so etwas propagiert, treibt ein gefährliches Spiel mit Menschen, die Not und Bedrohung fühlen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Jede Ankündigung der Beschneidung von Hilfen veranlaßt die Menschen, schneller zu uns zu kommen, um noch in den Genuß der unveränderten Rechtslage zu kommen. Besonders deutlich ist das dem Bundesaußenminister und mir bei unseren Besuchen in Rumänien und bei unseren Gesprächen mit den Rumänien-Deutschen geworden.

(Dr. Vogel [SPD]: Jetzt widerspricht er Bötsch!)

— Herr Vogel, mir hat das nicht gefallen. Mir hat auch nicht gefallen, was Herr Späth dazu gesagt hat. Aber mir gefällt noch viel weniger, was Herr Lafontaine Tag für Tag sagt.

(Dr. Vogel [SPD]: Das muß so sein!)

— Nein, das muß nicht so sein, aber das ist so.
Wir werden den Mißbrauch sozialer Einrichtungen mit bekämpfen. Aber wir werden nicht zulassen, daß nach Beseitigung von Mauer und Stacheldraht jetzt eine Grenze Lafontainescher Unbarmherzigkeit durch Deutschland gezogen wird.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die FDP, das soziale Gewissen der Nation! — Duve [SPD]: Diese Infamie wird auf Sie zurückschlagen!)

Meine Damen und Herren, die Übersiedlerzahlen hängen eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR zusammen. Schnelle Erfolge — —

(Duve [SPD]: Diese Unlauterkeit wird auf Sie zurückschlagen! — Oh-Rufe bei der CDU/ CSU und der FDP)

— Herr Duve, nehmen Sie es doch gelassen.
Schnelle Erfolge bei der wirtschaftlichen Entwicklung sind schwer vorstellbar. Sie sind aber möglich, wenn die Weichen richtig gestellt werden. Vorgestern hat Frau Luft in einer einstündigen Rede in Düsseldorf
— ich habe sie mir angehört — die Wirtschaftspolitik ihrer Regierung erläutert. Bei allem Respekt vor der Verantwortung, der sie persönlich sich stellt — das ist nicht zu bestreiten — , kann das Urteil nur lauten: Früher hat die DDR zu marktwirtschaftlicher Politik nein gesagt. Jetzt sagt sie: Ja, aber. Sie muß ja sagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Ausführungen der DDR-Ministerin haben die Zuhörer in Düsseldorf enttäuscht. Die Investitionsbereitschaft nimmt in letzter Zeit wieder ab, und sie ist durch diese Ansprache nicht gefördert worden. Mir bleibt unverständlich — das will ich auch sagen —, wie der Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz AG zu seinen Jubelrufen über die Wirtschaftspolitik der DDR kommt. „Vorbehaltlos beeindruckt von der klaren Konzeption für eine soziale Marktwirtschaft" , dem kann ich mich nicht anschließen. Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, für Selbständige und Handwerker ist das völlig unzulänglich.

(Conradi [SPD]: Ausgerechnet! Wie war das doch mit Daimler-Benz? — Dr. Briefs [GRÜNE]: Sie machen doch die Marktwirtschaft kaputt!)

— Herr Abgeordneter Conradi macht immer ein so saures Gesicht. Warum eigentlich? Als hätten Sie 14 Tage in essigsaurer Tonerde gelegen.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die DDR braucht schnell eine Preisreform. Sie braucht Sicherung der Gewerbefreiheit, Privateigentum und Stabilisierung der Währung, die allerdings nicht so erreicht werden kann, wie Sie, Frau Matthäus-Maier, es gestern mit einem Währungsverbund unter Garantie von Bundesregierung und Bundesbank vorgeschlagen haben.
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wir haben es in der DDR mit einer Rechtsordnung zu tun, die sich von unserer wesentlich unterscheidet, und zwar nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Zivil-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht. Herr Bundeskanzler, ich glaube, es wäre gut, wenn die Bundesregierung das Parlament demnächst einmal in geeigneter Weise über diesen sehr schwierigen Komplex informieren könnte.
Für uns bleibt es dabei: Der Weg zur deutschen Einheit führt über Europa und eine europäische Sicherheitsordnung. Wir erreichen unser Ziel nur mit unseren Partnern in Europa, niemals ohne oder gar gegen sie. Deshalb sind wir dem Präsidenten der EGKommission, Jacques Delors, für seine entschiedene Haltung in der Frage einer möglichen Mitgliedschaft



Dr. Graf Lambsdorff
der DDR in der Europäischen Gemeinschaft dankbar.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Ein Sozialist übrigens!)

— Es gibt ja Sozialisten auf der Welt — das habe ich schon einmal Herrn Gonzales gesagt — , die mich wirklich veranlassen könnten, selber Sozialist zu werden. Aber dann kommen Sie, und dann ist es wieder aus.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, wir sagen weiter: Die Bundesrepublik Deutschland bleibt Mitglied der NATO. Abrüstung und Rüstungkontrolle, Fortschritte in Wien und Genf sind essentiell für den Bau eines europäischen Sicherheitssystems, in dem die Pakte beider Seiten mehr und mehr an politischer Bedeutung gewinnen müssen und die politische Sicherheit stabilisieren können.
Deswegen muß die Bundesrepublik ihrer friedensfördernden Verpflichtung gerecht werden: nicht durch einseitige Vorleistungen, aber durch entschlossene Verhandlungsbeiträge, gemeinsam mit unseren Verbündeten.
Wie sehr wir durch diese Politik der Bundesregierung an internationalem Ansehen gewonnen haben, habe ich in meinen Gesprächen mit der israelischen Regierung erfahren. Die Gelassenheit gegenüber dem Thema deutsche Einheit war wirklich eindrucksvoll. Sie verdient unsere Anerkennung, und sie verdient auch unseren Respekt.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jeder muß aber wissen: Diese Gelassenheit ist sofort zu Ende, wenn wir etwas anderes als die Einheit der bestehenden deutschen Staaten anstreben wollten. Die FDP will das nicht.
Deshalb meinen wir zu dem Antrag der Opposition
— eine Entschließung beider Parlamente — : Wir werden das heute in die Ausschüsse überweisen, aber das ist keine Beerdigung erster oder zweiter oder gar dritter Klasse. Wer könnte denn frei gewählte deutsche Parlamente — das unterstreiche ich — und frei gewählte deutsche Regierungen an einer politischen Willensbekundung zur Frage der deutschen Einheit und der polnischen Westgrenze hindern?

(Hört! Hört! bei der SPD)

Was Frau Vollmer dazu gesagt hat, läßt offenbar darauf schließen, daß sie immer nur die Zeitungen vom Vortage liest und die neuesten Ereignisse nicht zur Kenntnis nimmt.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Nein, ich habe sogar die Rede gelesen!)

Im übrigen, Frau Vollmer, was Sie zum Friedensvertrag gesagt haben, ist a) falsch und b) für die deutsche Position höchst gefährlich. Ich sehe auch gar nicht ein, warum wir uns nach 45 Jahren und den Leistungen, die wir erbracht haben, noch einmal einer Konferenz stellen sollen, bei der über uns verhandelt werden wird, ganz abgesehen davon, daß das ungewöhnlich teuer wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist deutlich! Gut, daß Sie das klargestellt haben!)

Die FDP begrüßt die gestrige Erklärung des Bundeskanzlers. Ich sage noch einmal, daß die bitteren Ergebnisse des zweiten Weltkrieges jeden von uns, besonders natürlich jeden Heimatvertriebenen, schmerzen. Aber wir blockieren den Weg zur deutschen Einheit, wenn wir keine politische Klarheit schaffen. Unser Ziel bleibt Einheit in Freiheit.
Wir nehmen zur Kenntnis, Frau Vollmer: Sie — ob das alle GRÜNEN sind, das weiß man nie bei Ihnen — wollen das jedenfalls nicht. Ich finde es erstaunlich, Frau Vollmer, daß Sie dem Bundeskanzler den Vorwurf machen, daß er gewinnen will; das wollen wir auch. Wenn Sie verlieren wollen, kann ich nur in freier emanzipatorischer Angleichung sagen: Der Dame kann geholfen werden!

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Warten wir es doch ab, Herr Lambsdorff! Zwischen uns beiden steht das Ergebnis noch nicht fest!)

Herr Ehmke, ich muß noch zu dem Antrag der SPD einen Satz sagen. Das muß man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen:
Das bisherige von der SED errichtete stalinistisch-kommunistische System der DDR hat in den vergangenen Monaten einen vollständigen politisch-moralischen sowie wirtschaftlichen Bankrott erlitten.
Wie wahr! Und was haben Sie denen alles bestätigt:

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Was denn?)

Reformfähigkeit, Liberalisierungsfähigkeit. Und Sie haben nicht etwa mit der Regierung, sondern mit der Staatspartei SED verhandelt und Verträge geschlossen.

(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie haben mit Herrn Axen, mit Herrn Hager, mit Herrn Reinhold und mit Herrn Harry Tisch verhandelt und Vereinbarungen getroffen.

(Dr. Vogel [SPD]: Und Sie? Mit wem haben Sie denn geredet?)

— Wir haben selbstverständlich mit denen gesprochen, die Regierungsverantwortung für die Menschen tragen.

(Dr. Vogel [SPD]: Mit Herrn Mittag!)

— Nein.

(Dr. Vogel [SPD]: Doch, Sie haben mit Mittag geredet!)

— Mittag war der erste Mann für Wirtschaft in der DDR.

(Dr. Vogel [SPD]: Und an der Regierung? — Blamage! Er war keine Sekunde Minister! — Frau Matthäus-Maier [SPD]: So etwas Dummes habe ich von Ihnen noch nicht gehört!)




Dr. Graf Lambsdorff
— Aus einigen Wendehälsen der SPD könnte man ganze Äskulapstäbe drehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Daß ausgerechnet Sie, Herr Ehmke, sich um die Glaubwürdigkeit des Bundesaußenministers grämen, das nehmen wir gerne zur Kenntnis, aber das ist total überflüssig; es hilft auch nicht.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Nein, nein, Sie lesen keine Zeitung!)

Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Unser Ziel bleibt Einheit und Freiheit. Niemand in der Welt und schon gar nicht in Europa muß sich vor einem geeinten Deutschland fürchten.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: Ihr Ziel ist das Herausmogeln aus der Verantwortung!)

— Wenn einer Politik betreibt, der überhaupt nicht in die Verantwortung will, dann sind es die GRÜNEN; so ist es doch wohl. Wie können Sie behaupten, wir wollten uns aus der Verantwortung herausmogeln? Nein, wir wollen die deutsche Einheit. Wir wollen, daß sich niemand vor einem vereinigten deutschen Staat, vor einem vereinigten Deutschland, fürchten muß. Hier kann ich nur zitieren, was Václav Havel gesagt hat:
Vor einem friedlichen, demokratischen Staat braucht sich kein Nachbar zu fürchten, wie groß dieser Staat auch sein möge, ob 60 oder 80 Millionen Einwohner.
Ich danke für die FDP dem Freiheitskämpfer, dem Präsidenten der Tschechoslowakei für dieses Wort.

(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118806600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1118806700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke mir, daß wir in dieser Debatte auch den Ansprüchen der Zuhörer in der DDR genügen müssen

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

und daß wir nicht den Eindruck vermitteln dürfen, als habe jetzt eine wichtige Wahlkampfveranstaltung für den Dezember 1990 begonnen.

(Beifall bei der SPD)

Vielmehr müssen wir den Eindruck vermitteln, daß wir uns darum bemühen, in der DDR, für die Bürger dort, in den nächsten Monaten Bedingungen dafür zu schaffen, daß diese begonnene Demokratie — das ist es ja — eine wirkliche Chance bekommt.

(Beifall bei der SPD)

Das ist für mich die Meßlatte.
Graf Lambsdorff: Es ist doch ganz selbstverständlich, daß dieses Papier, über das Sie gesprochen haben, das zwischen Mitgliedern der SED auf der einen Seite und Mitgliedern der SPD auf der anderen Seite diskutiert und vereinbart worden ist, heute keine Aktualität hat. Aber, meine Damen und Herren, es hatte über Monate hinweg für die Reformbewegung in der DDR eine große Bedeutung.

(Beifall bei der SPD)

Sie konnten sich auf Positionen dieses Papiers berufen; das ist die Wahrheit;

(Beifall bei der SPD)

denn dort stand etwas drin über Streitkultur, über freie Meinungsäußerung. Dort stand etwas drin über die Notwendigkeit, um den Weg zu ringen. Genau das haben die Kirchen, die Reformbewegung in der DDR in Anspruch genommen. Ich bin als Sozialdemokrat stolz auf das, was Erhard Eppler an der Stelle geleistet hat.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU)

Sie haben übrigens ihm, Erhard Eppler nämlich, Monate, nachdem das Papier veröffentlicht worden ist, hier in diesem Hause Beifall geklatscht für diese Leistung, beispielsweise bei der Rede am 17. Juni des letzten Jahres.

(Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Weil er seine Meinung geändert hat! Er hat sich von dem Papier distanziert!)

Da bin ich beim nächsten Punkt, Graf Lambsdorff, nämlich bei Ihrer Auseinandersetzung mit Lafontaine. Wir wollen — so sagte ich — die Menschen in der DDR unterstützen auf ihrem Weg in die Zukunft, in die demokratische Zukunft nach dem 6. Mai 1990. Die wichtigste und bedrückendste Gefahr in der DDR ist — für mich jedenfalls, da ich ja weiß, daß die Mehrheit der DDR-Bürger dort bleiben wird — , daß so viele leistungsfähige Menschen aus der DDR Tag für Tag noch in die Bundesrepublik kommen. Meine Damen und Herren, für die Mehrheit der Menschen in der DDR ist es auch bedrückend, daß gerade Leistungsträger in der Wirtschaft und der Gesellschaft weggehen. Bei allem, was Sie an Oskar Lafontaine diskutieren wollen, eines werden Sie wohl akzeptieren müssen: daß Oskar Lafontaine der erste war, der dieses Grundproblem der Perspektive in der DDR offen dargestellt hat.

(Beifall bei der SPD)

Er hat dabei — wie ich finde — richtige Punkte getroffen. Ist es z. B. richtig, noch Notaufnahme- und Sonderverfahren für Bürger aus der DDR einzuräumen, die zu uns kommen, ist das noch an der Zeit? Bitte, diejenigen, die heute aus der DDR in die Bundesrepublik kommen, kommen in der Regel deshalb, weil sie sich beruflich verbessern wollen. Ich akzeptiere das. Bei uns gibt es auch Leute, die umziehen — meinethalben zwischen München und Hamburg oder Hamburg und Stuttgart —, weil sie sich beruflich verbessern wollen. Aber dann müssen sie selbst eine Wohnung suchen, und sie müssen sich selbst einen Arbeitsplatz suchen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Auf diesen Sachverhalt drastisch hinzuweisen ist meines Erachtens berechtigt und notwendig. Das heißt,
wir müßten die alten Verfahren abschaffen. Jetzt sind



Roth
Sie ja auch langsam an uns „herangebötscht", Tag für Tag, wie im Fernsehen zu verfolgen war.
Jetzt kommt es darauf an, daß wir in der DDR Zeichen der Hoffnung setzen. Ich bin deshalb der Meinung, es ist völlig richtig, wenn permanent Gespräche zwischen der Regierung der Bundesrepublik und der Regierung der DDR über alle Fachprobleme, vor allem über Wirtschafts- und Finanzprobleme stattfinden. Das ist richtig. Ich halte auch eine Ausladung von Ministerpräsident Modrow nicht für sinnvoll.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Eine Schnapsidee!)

Ich bin vielmehr der Auffassung, daß auch auf dieser Ebene verhandelt werden muß.

(Austermann [CDU/CSU]: Herr Ehmke sah das anders!)

— Graf Lambsdorff hat das gefordert.

(Zurufe von der CDU/CSU: Ehmke! — Dr. Vogel [SPD]: Lambsdorff, der Auslader!)

Lassen Sie uns zum Thema zurückkommen. Entscheidend ist in der jetzigen Phase, daß die Oppositionsbewegung, die Freiheitsbewegung in der DDR in jedem Stadium den Eindruck hat, daß sie an diesen Verhandlungen beteiligt ist. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der SPD)

Der Bundeskanzler sollte z. B. überlegen — er ist im Moment nicht im Saal — —

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)

— Er hat sich jetzt bescheiden zurückgezogen. Herr Bundeskanzler, ich verstehe schon, daß Sie auf Grund der neueren Entwicklung in der DDR jetzt permanent mit Herrn Rühe zusammensitzen. Das verstehe ich schon gut.

(Feilcke [CDU/CSU]: Was erzählen Sie denn da für einen Quatsch?)

Herr Bundeskanzler, warum kann z. B. nicht ein, zwei Tage vor der Begegnung mit Ministerpräsident Modrow ein Gespräch zwischen Ihnen und den Gruppen am runden Tisch, die nicht an der Regierung beteiligt sind, stattfinden — das wäre doch eine Anregung — ,

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Das hat er doch in Aussicht gestellt!)

d. h. der SPD und den anderen Parteien, damit Sie deren Auffassungen vor der Begegnung mit Ministerpräsident Modrow kennenlernen? Ich finde, das ist ein praktikabler Vorschlag, den wir jedenfalls unterstützen würden, falls Sie entsprechend tätig werden würden.

(Lintner [CDU/CSU]: Sie rennen doch offene Türen ein!)

Ich möchte noch eine Bemerkung zur Auseinandersetzung über die künftige Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsverfassung in der DDR machen. Meine Philosophie ist die folgende: Die künftige Wirtschaftsverfassung in der DDR wird vom neu gewählten Parlament in der DDR nach dem 6. Mai 1990 beschlossen und nicht von Frau Luft oder von Ministerpräsident
Modrow definiert. Dabei muß ich auch sagen: Wenn ich die Reden zu diesem Thema höre — die Regierungserklärung Modrow vor Weihnachten und die Rede von Frau Luft gestern in Düsseldorf — , freut es mich, in welcher Geschwindigkeit sie auf unsere Ideen einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft einschwenken. Ich persönlich glaube nicht, daß das in jeder Beziehung Überzeugung ist. Ich glaube, daß es der Druck der Bevölkerung in der DDR ist. Und das ist doch gut.
Nach dem 6. Mai — das weiß ich von unseren Freunden in der SPD der DDR ganz genau — wird sich die SPD, die sicher eine starke Kraft wird — auch in der künftigen Regierung der DDR — , dafür entscheiden, daß dort eine soziale und ökologische Marktwirtschaft eingeführt wird.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Ihr habt ja auch gelernt, nicht?!)

Das heißt aber doch, daß ich darüber jetzt nicht lange philosophieren muß, sondern daß ich jetzt konkrete Hilfen in der DDR anbieten muß, damit der Weg in Richtung auf den 6. Mai überhaupt erfolgreich beschritten werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Es kommt jetzt darauf an, nicht dauernd hin und her zu taktieren, sondern finanzielle Mittel, Investitionen auf den Tisch zu legen. Notwendig sind Infrastrukturverbesserungen, Maßnahmen im Wohnungsbau. Ich bin sogar der Auffassung, daß für diejenigen Bürger, die bewußt in der DDR bleiben, Angebote zu schaffen sind, damit sie eine gewisse Möglichkeit haben, bessere und langlebige Gebrauchsgüter wie Autos oder Fernseher zu kaufen, was ihnen derzeit kaum möglich ist. Auch dabei müssen wir ein Stück mehr Kreativität entwickeln als bisher.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns aufhören, hier Gespensterschlachten zu führen!

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Bravo!)

Lassen Sie uns beginnen, Zeichen der Hoffnung in der DDR zu setzen, denn wenn diese Zeichen der Hoffnung in der DDR selbst gesetzt werden, bleiben Menschen dort, engagieren sich für ihre künftige Demokratie und bieten uns allen in der Bundesrepublik wie in der DDR eine gute Zukunft. Darauf kommt es an!

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118806800
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Blüm, das Wort.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1118806900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keiner schwadroniert so leichtfertig, so kaltherzig über unsere Landsleute in der DDR wie Oskar Lafontaine.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Unsinn!)

Er bewirkt mit seinem sozialpolitischen Gerede das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt,

(Roth [SPD]: Wahlkämpfer!)




Bundesminister Dr. Blüm
was er zu beabsichtigen vorgibt. Er redet die Übersiedlung herbei. Er provoziert eine Torschlußpanik in der DDR. Das ist unverantwortlich!

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Dieses Gerede davon, unseren guten Sozialstaat abzuriegeln, kann doch nur dazu führen, daß die Unentschiedenen, die Zögernden ihre Koffer packen und sich schnellstmöglich auf die Reise begeben. Oskar Lafontaine ist der Erfüllungsgehilfe der SED.

(Dr. Vogel [SPD]: Unglaublich!) Er provoziert ein Chaos in der DDR.


(Beifall bei der CDU/CSU — Roth [SPD]: Aufhören! — Dr. Vogel [SPD]: Wo sind wir denn hier?)

Zweitens. Oskar Lafontaine schwächt die Opposition in der DDR. Mit seinen Vorschlägen zieht er unseren Willen zur Einheit in Zweifel.

(Anhaltende lebhafte Zurufe von der SPD) Mit seinen Vorschlägen erweckt er den Eindruck,


(Zurufe von der SPD: Unglaublich! — Dr. Vogel [SPD]: Der ist wohl nicht mehr bei Trost!)

als würden wir nicht zur Wiedervereinigung stehen. Ja, Wiedervereinigung ist nicht zum Nulltarif möglich! Wir sind zu Opfern für unsere Landsleute in der DDR bereit.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Abg. Brück [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118807000
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1118807100
Nein.

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Drittens. Oskar Lafontaine beleidigt Hunderttausende von Übersiedlern, die zu uns gekommen sind,

(Zuruf von den GRÜNEN: Aufhören!)

die unter Lebensgefahr ihre Heimat, ihre Verwandten, ihre Arbeitsplätze verlassen haben, um mit uns in Freiheit zu leben, aus keinem anderen Grund.

(Unruhe bei der SPD)

Er beleidigt sie, weil er ihnen unterstellt, sie seien nur aus materiellen Gründen gekommen. Sie sind gekommen, weil sie den Sozialismus satt haben!

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Anhaltende Unruhe bei der SPD)

Dem Sozialismus laufen die Leute davon. Lafontaine leistet mit seinem sozialpolitischem Gerede für die SED ideologische Fluchthilfe, weil er sie aus der Verantwortung entläßt.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Unglaublich! — Dr. Vogel [SPD]: Das da vorne ist ein Sprechautomat! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Das, Herr Kollege Vogel, ist nur die Fortsetzung der alten sozialdemokratischen Abgrenzungspolitik.

(Conradi [SPD]: Pfui Teufel!)

Erst haben Sie es mit zwei Staatsbürgerschaften versucht, dann mit Kontingentierung, und jetzt versuchen Sie es mit der Sozialpolitik. Es ist die alte Linie der Trennung von unseren Landsleuten, die Sie hier fortsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Und was ist mit Bötsch? Der Herr Bötsch sagt doch genau dasselbe! Heuchler!)

Ausgerechnet der Sozialstaat! Sein Herzstück heißt Solidarität.

(Dr. Vogel [SPD]: Schreihals!)

Warum sollte diese Solidarität unseren Landsleuten entzogen werden? Das ist eiskalter Egoismus, bejubelt von Egoisten. Was sucht überhaupt der Buchstabe „S" in Ihrem Parteinamen?

(Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Roth [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Nein, ich rede jetzt im Zusammenhang.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf die Widersprüche dieser Politik hinweisen.

(Anhaltende lebhafte Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Ja, die Medizin wirkt! Ich bin ein Naturheilmittel für die SPD; das merke ich. Jetzt wird Klartext gesprochen: Als wir im vergangenen Jahr das Eingliederungsgeld für Aus- und Übersiedler geschaffen und Arbeitslosengeld sowie Krankengeld abgesenkt haben, da waren Sie es, die uns Kaltherzigkeit vorgeworfen haben.

(Dr. Vogel [SPD]: Zugestimmt haben wir!)

Wo ist der Kollege Schreiner? Er hat uns am 14. September 1989 in diesem Hohen Hause bei dieser Absenkung vorgeworfen,

(Duve [SPD]: Sie erniedrigen das Haus gerade!)

wir würden die Übersiedler als Sparbüchse der Bundesregierung benutzen. Ausgerechnet Schreiner, SPD, aus dem Saarland, dessen Ministerpräsident uns jetzt vorwirft, wir hätten nicht genug abgesenkt! Was für Widersprüche sind das eigentlich?

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Norbert Blüm, der Christ!)

Meine Damen und Herren, morgen werden Sie in der Neuen Revue lesen können: Oskar Lafontaine fordert, das Fremdrentenrecht, das Vertriebenenrecht, das Notaufnahmerecht abzuschaffen bzw. zu ändern.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das werden Sie selber tun! Darauf warten wir schon heute!)

Zitat Lafontaine:
Das Fremdrentengesetz bietet für DDR-Rentner einen massiven Anreiz, überzusiedeln und führt zu groben Ungerechtigkeiten für einheimische Rentner.



Bundesminister Dr. Blüm
Diesem Fremdrentengesetz mit seinen Änderungen hat Oskar Lafontaine noch im Dezember im Bundesrat zugestimmt.

(Feilcke [CDU/CSU]: So ist er nun einmal! — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Was sagt das?)

Dieses Fremdrentengesetz hatte bei der Rentenreform noch seine Zustimmung. Wir werden am Eingliederungsprinzip dieses Fremdrentenrechts festhalten. Wo Anpassungen nötig sind, werden sie nicht auf Kosten des Eingliederungsprinzips gehen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ihre Beamten arbeiten doch schon daran! Sie sind doch schon beim Ändern!)

Wir stehen zu dem Prinzip Solidarität mit unseren Landsleuten in der DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP)

Im übrigen, meine Damen und Herren: Das alles sind Ablenkungsmanöver. Auch wenn wir die ganze Rente kürzen würden: Wenn die SED in Amt und Macht bleibt, wird es in der DDR keine Ruhe geben. Das ist doch kein sozialpolitisches Thema; das ist das Thema Freiheit,

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wahlkampf, Wahlkampf, Wahlkampf!)

Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist das Thema in der DDR, doch nicht unsere Sozialpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Alles, was Sie mit dem Reden über die Sozialpolitik betreiben, ist nichts als — ein schwerer Vorwurf! — ideologische Fluchthilfe für die SED.

(Dr. Vogel [SPD]: Was ist mit dem Bötsch?)

Ja, da kann man sich aufregen, wenn Sie Ihre besten Prinzipien vergessen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ich zweifle an Ihrer Zurechnungsfähigkeit! — Zuruf von der SPD: Ihr Adrenalinspiegel ist Ihnen weggelaufen!)

Und jetzt, meine Damen und Herren: Sie schämen sich nicht, sogar den Rentnern, Millionen Rentnern hier bei uns Angst zu machen, ihre Rente sei durch die Übersiedler gefährdet.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie christlicher Jahrmarktschreier!)

Eine bodenlose Schamlosigkeit! Die einzige Waffe, die Sie offenbar haben, ist, Angst zu schüren. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Übersiedler gefährden überhaupt nicht unsere Rentenversicherung.

(Zurufe von der SPD)

Wenn alle Aussiedler und Übersiedler eine Rentenversicherung bilden würden, kämen sie mit niedrigeren Beiträgen zurecht als unsere Beitragszahler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn es sind überproportional die Jungen, die die DDR verlassen, es sind die Jungen, die aus dem Ausland kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aus dem Bevölkerungsnachweis kann ich Ihnen die Zahlen sagen: Über unter 65 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland 16 % Bevölkerungsanteil, bei den Übersiedlern 7,9 %, bei den Aussiedlern 4,1 %.

(Zuruf von der SPD: Wie ist es mit dem Sozialsystem dort?)

Eines sage ich Ihnen allerdings: An einer Stelle werden wir rabiat kürzen. Das verspreche ich Ihnen. Das kündigen wir heute an: Kürzung bis zum Nullniveau! Für Stasi-Leute keine Rente in der Bundesrepublik! Das werden wir tun, das ist richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP) Für Stasi-Leute keine Rente!

Meine Damen und Herren, das Fremdrentenrecht ist einmal geschaffen worden, um den Schikanierten, den Bespitzelten, den Verfolgten, den Gequälten, beizustehen.

(Dr. Vogel [SPD]: Amokläufer!)

Das Fremdrentenrecht ist nicht geschaffen worden, den Spitzeln, den Quälern, den Verfolgern eine Rente zu zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Gucken Sie mal, wie der Waigel guckt!)

Regen Sie sich doch nicht so auf! Die Kollegin Fuchs hat gestern doch selber verlangt, daß wir für StasiLeute keine Rente zahlen sollen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ist der Minister noch verhandlungsfähig?)

Merkwürdig! Das hätten Sie schon bei der Rentenreform haben können. Da hatten wir nämlich eine dementsprechende Vorlage. Das ist am Einspruch der SPD gescheitert.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Unsinn ist das!)

Auch das gehört zu den Schizophrenien. In der Tat!
Auch Salzgitter wird uns dabei helfen zu erkennen, wer eine Rente erhalten soll. Salzgitter haben Sie doch den Geldhahn abgesperrt, Herr Vogel.

(Dr. Vogel [SPD]: Unsinn! Was hat Salzgitter mit den Renten zu tun? — Amokläufer!)

Oskar Lafontaine hatte keine 3 506 DM. Das war nämlich der jährliche Beitrag des Saarlands für die Erfassungsstelle Salzgitter. Aber er hatte 6 000 DM monatlich für einen Koch. Die hat er gehabt, aber keine 3 506 DM für die Erfassungsstelle in Salzgitter.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Er ist nicht mehr bei Sinnen!)

Was schreibt mir vor wenigen Tagen jemand aus der DDR? — „Schließen Sie uns bitte nicht aus aus der Versorgung durch das Fremdrentengesetz! " — das ist



Bundesminister Dr. Blüm
das, was Oskar Lafontaine morgen vorschlagen wird! —

(Zuruf von der SPD: Es lebe Oskar! — Jahn [Marburg] [SPD]: Kann der Bundeskanzler den Mann da nicht mal runterholen?)

„Die Gewißheit, dies einmal in Anspruch nehmen zu können, hat uns seit 1961 wesentlich geholfen zu widerstehen."

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr könnt das nicht ertragen! — Jahn [Marburg] [SPD]: Ich kann das ertragen, aber ob die Menschen in der DDR das ertragen können? — So ein Schreihals!)

Diese Hilfe sage ich meinen Landsleuten weiterhin zu. Wir werden das Gesetz modifizieren. Aber wir stehen zu dem Eingliederungsprinzip. Das ist ein Solidaritätsprinzip.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden auch alles tun, daß sich nicht Mißbräuche in unseren Sozialstaat einschleichen, daß es nicht zu Scheinübersiedlungen kommt, daß man hier bei uns die Rente abholt, aber in der DDR wohnen bleibt. Das entspricht nicht den Gesetzen der Solidarität. Das ist eine Frage des Melderechts und einer besseren Kontrolle durch die Rentenversicherung.
Es wird auch notwendig sein, das Gesundheitsabkommen aus 1974 entsprechend seinem Sinn auszulegen. Der Sinn war, Besuchern hier eine kostenlose akute medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Das wird auch weiter so bleiben. Der Sinn dieses Gesundheitsabkommens ist es, die unaufschiebbare Behandlung bei akuter Erkrankung zu ermöglichen. Das wird weiterhin unbegrenzt möglich sein. Aber es war nie daran gedacht, durch das Gesundheitsabkommen sozusagen den Zahnersatz in die DDR zu liefern. Dafür war das Gesundheitsabkommen nie gedacht. So muß es auch ausgelegt werden.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Den Zahnersatz brauchen S i e ! Bei dieser Brüllerei muß es einen hohen Verbrauch geben!)

Es wird zur Zusammenarbeit der Arbeitsämter gerade auch im Zonenrandgebiet, im grenznahen Gebiet kommen. Das sind alles ganz pragmatische Lösungen. Jetzt ist die Stunde pragmatischer Zusammenarbeit gekommen. Wenn uns Herr Kollege Dreßler auffordert, mit der DDR sozialpolitisch ins Gespräch zu kommen: Guten Morgen, Herr Dreßler! Das erste Gespräch hat bereits am 3. Januar stattgefunden,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Dabei kam aber nichts raus!)

und das nächste wird Ende des Monats stattfinden.

(Dr. Vogel [SPD]: Brüllen Sie bei dieser Gelegenheit auch so herum?)

— Ich muß mich gegen Ihren Geräuschpegel durchsetzen. Ich lasse mich selbst durch Ihren Geräuschpegel nicht davon abbringen, Ihnen die Wahrheiten zu sagen. Die Wahrheit ist, daß Sie mit der Sozialpolitik Schindluder treiben.
Meine Damen und Herren, der heutige Tag ist doch ein besonderer Tag. Heute morgen habe ich gehört, ich, Norbert Blüm, sei der große Kahlschlagminister. Oskar Lafontaine ließ am 2. Januar über die „BildZeitung" verkünden: „Aber ich bleibe dabei, daß es nicht geht, daß drüben die Versorgungssysteme zusammenbrechen, weil hier attraktive Sozialleistungen auf Aus- und Übersiedler warten."
Ja, was ist denn das? Heute morgen höre ich, wir hätten alles kurz und klein geschlagen, und jetzt sind die Sozialleistungssysteme so attraktiv, daß die Leute dadurch selbst zur Umsiedlung bewogen werden. Hier verkünden Sie die neue Armut und drüben den neuen Reichtum! Oder wie ist das? Das ist doch voller Schizophrenien!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Horst Ehmke hat vorhin gesagt: Der Trennungsstrich verläuft zwischen den alten und den neuen Kräften. Wenn das stimmt, Horst Ehmke, dann gehört die SPD zu den alten Kräften.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Sie haben doch die Zusammenarbeit mit der SED zum Programm erhoben. Sie sind es doch, die SPD, die der SED Legitimation und Ansehen von außen geschaffen haben, das sie im Innern längst nicht mehr hatte. Sie waren doch der letzte Überlebenshelfer der SED.

(Dr. Vogel [SPD]: Unsinn!)

Sie haben doch Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich zitiere Freya Klier, eine Frau, vor der ich großen Respekt habe, die Ihnen nahesteht. Sie sagt unter der Überschrift „Der Streit der Ideologen und die gemeinsame Sicherheit" :
Als gäbe es nicht schon genug Papiere, die uns die Beine wegschlagen! Nun also auch noch ein SED-SPD-Papier. Der SED-Ideologe Reinhold, dieser clevere Frosch und Intimus von Kurt Hager, hat die Brüder von der SPD mal wieder gehörig über den Tisch gezogen. Die gehen mit unseren Machthabern um, als handele es sich um störrische Kinder, die man nur mal ein wenig streicheln muß, damit sie sich zu ihren guten Seiten bekennen. Diesen Irrtum müssen andere ausbaden, nicht sie.
Ja, Ruhe war die erste Entspannungspflicht; nur kein Runzeln auf der Stirn der Mächtigen hervorrufen! Deshalb ging man an den Oppositionsgruppen vorbei.
Soll ich Ihnen noch einmal Havel vorlesen? Ich kann Ihnen die Zitate vorlesen.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Pfui Teufel — Roth [SPD]: Blümhuber!)

Havel sagt:
Entspannung — doch auch dieses Wort konnte so manches Mal ganz schön doppeldeutig sein. Es bedeutet selbstverständlich den ersten Hoffnungsschimmer für ein Europa ohne Kalten Krieg und Eisernen Vorhang. Zugleich aber — leider —



Bundesminister Dr. Blüm
bedeutete es nicht nur einmal auch den Verzicht auf Freiheit und damit auf eine grundlegende Voraussetzung jedes wirklichen Friedens.
Ja, jetzt ist die Stunde der Freiheit angebrochen. Ich habe nie dem widersprochen, daß Regierungen miteinander in Kontakt treten. Ich habe nie widersprochen, daß auch mit den Machthabern in der DDR gesprochen wird, aber aufrechten Ganges und nicht buckelnd,

(Widerspruch bei der SPD)

so wie das Helmut Kohl beim Besuch von Honecker hier in Deutschland gemacht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie sagte doch Helmut Kohl beim Honecker-Besuch im September 1987? Ich zitiere ihn aus seiner Tischrede:

(Dr. Vogel [SPD]: Reden Sie vom Milliardenkredit? Schalck-Golodkowski!)

Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung, sie leiden unter einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinanderkommen können, weil sie zueinandergehören.
Ich frage Sie: Welcher Sozialdemokrat hat solche Worte Honecker ins Gesicht gesprochen? Nennen Sie mir ihn!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir Ihren Empfehlungen gefolgt wären, eine zweite Staatsbürgerschaft, eine DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, wir hätten unseren Landsleuten in Prag nicht helfen können, wir hätten unseren Landsleuten in Budapest nicht helfen können. — Und das war der Anfang vom Ende der Herrschaft der SED. Das basiert darauf, daß wir stark und treu zur einheitlichen Staatsbürgerschaft gehalten haben.
Ja, wir gehören zusammen, und die Sozialpolitik wird uns nicht trennen. Was die SED durch die Mauer nicht geschafft hat, was die SPD nicht durch zwei Staatsbürgerschaften geschafft hat,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Lügen tut der auch noch! — Weitere Zurufe von der SPD)

wird auch Oskar Lafontaine nicht gelingen: uns Deutsche zu trennen. Wir gehören zusammen.

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Pfui! Pfui!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118807200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID1118807300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute mittag um 13 Uhr hat Kanzleramtsminister Seiters vor diesem Hause erklärt, daß uns der amtierende Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in einem Debattenbeitrag über seine Verhandlungen auf sozialpolitischem Sektor mit der DDR-Regierung berichten werde. Wir haben die Ankündicruna und die Realisieruncr dessen. was die Bundesregierung uns angekündigt hat, gerade vernommen. Ich stelle fest: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat sich mit seiner Rede selbst disqualifiziert.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Nicht sich selbst! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Ich stelle zweitens fest: Das Niveau dieser Ausführungen ist die Offenbarung, daß es sich bei diesem Arbeitsminister um einen geschlagenen Mann handelt,

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU — Kraus [CDU/CSU]: Der Mann ist quicklebendig!)

geschlagen durch seine Politik, geschlagen durch seine eigene Partei, geschlagen als Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen, bevor die Entscheidung überhaupt gefallen ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Herr Blüm, ich gebe Ihnen einen guten Rat.

(Zurufe von der CDU/CSU: Den braucht er nicht! — Kraus [CDU/CSU]: Keine Drohungen!)

Sie haben hier soeben erklärt, der saarländische Ministerpräsident und stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sei der Erfüllungsgehilfe der SED.

(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! — Dr. Vogel [SPD]: Unglaublich!)

Ich fordere Sie, Herr Blüm, auf, diesen ungeheuren Vergleich noch in dieser Sitzung zurückzunehmen.

(Beifall bei der SPD)

Aber, meine Damen und Herren, ich registriere als Sozialdemokrat, daß der Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine, die offenen Wunden dieser Regierung bloßgelegt hat. Ich sage Ihnen: Beschimpfen Sie Herrn Lafontaine und uns weiter. Wir wollen nicht Ihre Unterstützung, die Unterstützung der Bevölkerung der Bundesrepublik reicht uns völlig.

(Beifall bei der SPD)

Es kann nicht unser Interesse sein, meine Damen und Herren, daß in der Deutschen Demokratischen Republik eine Lage eintritt, die immer mehr Menschen veranlaßt, die DDR zu verlassen. Unser Ziel ist es vielmehr, daß die Menschen ihre Zukunft und die ihrer Kinder in der angestammten Heimat sehen.
Mit diesen Sätzen ließ sich Bundeskanzler Kohl gestern in Paris vernehmen. Ein wahres Wort; aber es wird zur vollmundigen Erklärung, wenn nicht gleichzeitig durch die Bundesregierung mit Volldampf geholfen wird, in der DDR die Voraussetzungen für dieses Ziel zu verwirklichen.

(Beifall bei der SPD)

Was auf diesem Felde an Energie fehlt, wird in der Bundesrepublik gleichsam wie eine Ersatzhandlung verwandt, um eine Mißbrauchsdebatte in Gang zu



Dreßler
setzen. Jeder aber weiß: Mißbrauch, wo es ihn gibt, ist die Ausnahme. Diese Debatte hätte sehr schnell ein Ende finden können, wenn mit der DDR eine relativ unkomplizierte Abmachung über den Abgleich von Meldedaten durch diese Bundesregierung schon längst in Angriff genommen worden wäre.

(Beifall bei der SPD)

Seit November 1989 hat die SPD-Fraktion immer wieder darauf hingewiesen, daß es in Wahrheit um die Lösung ganz anderer Probleme geht. Am 30. November letzten Jahres in der Haushaltsdebatte habe ich von dieser Stelle aus erklärt:
Wir müssen aber Klarheit schaffen, ob wir in einer völlig veränderten sozialen und politischen Situation in den osteuropäischen Ländern noch so tun können, als regele sich die soziale Dimension dieses Vorgangs von selbst.
Dafür wurde ich von CDU/CSU-Abgeordneten und einem Bundesminister beschimpft. An diesem 30. November habe ich Ihnen prophezeit, daß das, was im November und Dezember durch verständliche, ja, notwendige Emotionen in den Schatten gestellt wurde, alsbald wieder zum Vorschein kommen würde, deutlicher und dynamischer als vorher. Diese Phase ist seit einigen Wochen da.
Die Bundesregierung kann nicht viel vorweisen, was sie zur Verbesserung der Situation der Menschen in der DDR getan hat. Im Gegenteil: Die Brotkörbe für ökonomische oder sozialpolitische Hilfsmaßnahmen werden immer höher gehängt. Man kann den Vorwand, die Regierung Modrow sei nicht der gewünschte Verhandlungspartner, nicht nur spüren, sondern gelegentlich sogar lesen.
Im Klartext: Vereinbarungen, die den Menschen in der DDR helfen könnten, werden, wenn es sie in diesem Jahr überhaupt noch gibt, auf die Zeit nach der Wahl am 6. Mai hinausgeschoben. Das bedeutet faktisch nichts anderes als einen Aufschub bis Anfang 1991.

(Lintner [CDU/CSU]: Reden Sie einmal mit Herrn Ehmke!)

— Sie müssen Herrn Ehmke und uns zuhören. Herr Ehmke spricht von einer Vertragsgemeinschaft, und ich spreche davon, daß Sie endlich verhandeln sollen, um die Ergebnisse nach dem 6. Mai in die Unterschriftsreife zu bringen. Begreifen Sie diesen kapitalen Unterschied denn nicht?

(Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Soll Modrow nach Bonn kommen oder nicht?)

Natürlich ist der 6. Mai mit den Volkskammerwahlen ein wichtiges Datum. Gleichwohl habe ich den Eindruck, daß Ihre Politik der Hängepartie weniger mit dem Wahltermin in der DDR als vielmehr mit den Wahlterminen in der Bundesrepublik zu tun hat.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD, meine Damen und Herren, hat der Bundesregierung frühzeitig gesagt, daß die wiedergewonnene Freizügigkeit dazu führt, daß die Risiken in den Sozialsystemen beider Staaten nicht mehr getrennt kalkuliert werden können. Die SPD hat frühzeitig darauf hingewiesen, daß die in der Bundesrepublik vor allem auf die Nachkriegssituation und die bisherige Unfreiheit in der DDR und in den osteuropäischen Staaten zugeschnittenen Gesetze überprüft werden müssen. Wir haben verlangt, jene Regelungen zu überprüfen, die eine Abwanderung begünstigen.
Nun müssen wir erfahren, daß die Bundesregierung in dieser Woche endlich eine Kommission eingesetzt hat. Dutzende von Abgeordneten der Regierungskoalition und mehrere Bundesminister haben sich in Interviews der letzten Wochen rhetorisch den SPD-Vorschlägen endlich angeschlossen. Die gleichen Leute, die uns wochenlang mit hysterischen Angriffen bedacht haben, setzen nun eine Kommission ein, die die SPD-Vorschläge überprüft. Das nenne ich wahre Regierungskunst.

(Beifall bei der SPD)

Ich frage mich: Was sollen eigentlich die Denkmodelle von Herrn Blüm, die Renten derjenigen, die aus der DDR übergesiedelt sind, um 25 % zu kappen? Tun Sie doch nicht so, als wären diejenigen, die täglich aus der DDR kommen, überwiegend Rentner. Das stimmt doch nicht! Es sind — das sieht jeder, der die Aufnahmelager besucht — überwiegend junge Leute.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Genau das hat Herr Blüm soeben gesagt!)

Sie wollen arbeiten und können es. Sie in Ihrer Engstirnigkeit aber verweigern Hilfe, mit der diese Menschen in ihrer Heimat — in Sachsen und in Thüringen — vorwärtskommen, qualifizierte Arbeit bekommen und in anständigen Wohnungen leben können. Das ist ein erheblicher Unterschied zwischen mir und Herrn Blüm, Herr Scharrenbroich. Ist Ihnen das jetzt klar?

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie verstehen das noch immer nicht!)

Jeder Kundige weiß: Kurz- und mittelfristig gibt es für die Rentenkassen insoweit keine Probleme. Das Verhältnis zwischen jung und alt bei den Übersiedlern ist günstiger. Richtig aber ist, daß das Fremdrentengesetz nicht mehr haltbar ist, meine Damen und Herren.
Herr Blüm, das Integrationsprinzip, also der Grundsatz, daß die von den Betroffenen in ihrer früheren Heimat erworbenen Rentenansprüche in ihre neue bundesrepublikanische Rentenbiographie eingegliedert, also bei uns angerechnet werden, hat seinen Sinn nur bei geschlossenen Grenzen. Die aber haben wir nicht mehr, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Mit seinen Denkmodellen übergeht Herr Blüm völlig das Sozialabkommen mit der Republik Polen. Eine Änderung des Fremdrentengesetzes würde sich nämlich darauf nicht auswirken. Die Konsequenzen seines Vorschlages wären: Bei dem DDR-Übersiedler wird die Rente, so wie Herr Blüm es will, um 25 gekürzt. Der Aussiedler aus Polen aber bekommt 100 % Rente. Ist das Ihre Gerechtigkeit, Herr Blüm, gegenüber den Deutschen aus der DDR?



Dreßler
Ich habe die Bundesregierung schon vor Weihnachten aufgefordert, endlich zu handeln, zu verhandeln, auch mit Polen. Warum weichen Sie dem aus?

(Zuruf von der SPD: Wegen der Westgrenze!)

Warum fangen Sie nicht endlich an, Herr Blüm? Wollen Sie diesen Weg nicht gehen, weil Sie wissen, daß die Verhandlungen mit Polen voraussetzen, daß Ihre Partei Ihre Haltung zur Westgrenze Polens endgültig klärt,

(Beifall bei der SPD)

und weil Sie wissen, daß die Unionsparteien zu dieser Klärung augenscheinlich nicht in der Lage sind?

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Die Bundesregierung scheut konkrete Verhandlungen. Statt dessen trägt sie Scheinprobleme vor. An die eigentliche Problematik, das Währungs- und das Wohlstandsgefälle und ihre Veränderung, geht sie nicht heran. Mit dieser Haltung wird der gestrige Pariser Redeausschnitt des Bundeskanzlers nicht verwirklicht werden können.
Nun noch ein Wort zu dem berühmten Stasi-Rentner, der offensichtlich den CSU-Abgeordneten Bötsch des Nachts in seinen Träumen heimsucht und so zu quälen scheint, daß er tagsüber dazu Unsinn verbreitet.

(Heiterkeit bei der SPD)

Wo ist eigentlich der Stasi-Mann, der noch vor einigen Monaten DDR-Bürger belauerte und nun hier in der Bundesrepublik zum Rentner wird?
Der Staatssicherheitsdienst in der DDR wird aufgelöst; das ist gut so. Die Beschäftigten werden entlassen; damit sind sie arbeitslos, aber doch nicht automatisch im rentenfähigen Alter. Selbst wenn es den einen oder anderen geben sollte, der gleichzeitig mit seiner Entlassung das Rentenalter erreicht hat und der sich wirklich entschließt, in die Bundesrepublik überzusiedeln, berechtigt das dann zu dieser Hysterie?
Die Machenschaften des Stasi müssen offengelegt werden.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist ein ganz interessanter Gesichtspunkt der SPD!)

Die Mitarbeiter werden sich vor den Gerichten zu verantworten haben.

(Beifall bei der SPD)

Kein Stasi-Mann, Herr Scharrenbroich, soll sich diesem Verfahren durch eine Flucht in die Bundesrepublik entziehen können, um so die strafrechtliche Aufklärung seiner Arbeit in der DDR zu verhindern.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Solche Hoffnungen, hier unbehelligt von den Vorgängen in der DDR gemütlich im Lehnstuhl zu sitzen und Rente zu beziehen, werden sich für niemanden erfüllen. Trotzdem aber, meine Damen und Herren, wollen wir jedes nur mögliche Schlupfloch schließen. Nur dürfen wir uns dabei rechtsstaatlichen Fragen nicht entziehen. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß Strafrecht und Sozialrecht nicht vermengt werden und daß die Rechtsstaatlichkeit in dieser Republik dabei nicht auf der Strecke bleibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118807400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hornhues.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1118807500
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche es einmal ein wenig anders.
Erstens. Ich möchte dem Chef des Bundeskanzleramts gerne danke schön sagen für seinen Bericht und für alles, was er in den letzten Wochen und Monaten unter großer physischer Anstrengung getan hat: Rudi, das machst du prima!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Ich möchte den Bundeskanzler zu seiner Deutschlandpolitik beglückwünschen. Sein ZehnPunkte-Deutschlandplan hat sich inzwischen auch für die letzten Zweifler als d e r Leitplan erwiesen, der, meine sehr geehrten Damen und Herren, zunehmend für alle Orientierungspunkt geworden ist. Das ist gut so, Herr Bundeskanzler herzlichen Glückwunsch!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dresden, Brandenburger Tor bleiben unvergeßliche Stationen für alle, wie vieles andere in diesen Tagen, auf dem Weg, auf dem wir uns befinden, zum Gewinnen der Einheit Deutschlands. Dafür danke schön!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte allerdings auch der SPD danken. Ich möchte Ihnen dafür danken — ich habe zwischen allen Schlachtentönen versucht, halbwegs zuzuhören —, daß Sie sich, soweit ich es richtig habe hören können, Herr Kollege Ehmke, der Politik der Bundesregierung nunmehr angeschlossen haben. Dafür ganz herzlichen Dank!

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Das war nicht immer so. Gestern war das, was jetzt gemeinsames Ziel ist, nämlich die staatliche deutsche Einheit, „Lebenslüge der zweiten Republik" — Brandt —, „reaktionär, töricht" — Schröder —, „leichtfertig, illusionär" , darüber zu reden — Vogel — . Heute ist es Ihr Ziel. Wir finden das prima. Ich habe nachgerechnet: Wendezeit etwa drei bis vier Monate.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Helsinki!)

Im November empfahl Frau Fuchs in Richtung Osten, in Richtung Osteuropa den demokratischen Sozialismus als Alternative zum abgewirtschafteten dortigen System. Heute kämpft die SPD — wenigstens im Osten deutlich genug — für die soziale Marktwirtschaft. Wir finden das prima. Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie merken, daß die Leute in der DDR die Nase vom Sozialismus schlicht voll haben, so finden wir es gut, daß dann auch Sie zur sozialen Markt-



Dr. Hornhues
wirtschaft übergehen. Wendezeit, nebenbei bemerkt, etwa zwei bis drei Monate.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist eben schon angesprochen worden: Heute heißt es in Ihrem Antrag, diese böse SED habe ein stalinistisch-kommunistisches System errichtet. Das ist wahr, aber noch gestern formulierten Sie es — das wurde mehrfach angesprochen — anders: Mit der SED zusammen waren Sozialdemokraten und Kommunisten diejenigen, die sich auf das gemeinsame humanistische Erbe Europas berufen.
Ich finde es prima, daß Sie das heute anders sehen, daß hier gesagt wird, das sei alles Schnee von gestern. Nur wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie so manchen Vorwurf — wir haben das auch früher so gesehen und sehen das immer noch so — zurücknehmen und die Beschimpfung, wir seien kalte Krieger vielleicht auch in den Papierkorb tun.
Unsere Hoffnung, die wir mit den Glückwünschen an Sie für diese Position, die Sie jetzt einnehmen, verbinden, ist: Bleiben Sie bitte bei Ihren heutigen Einsichten im Grundsatz. Wir wissen, Sie können manchmal auch anders.
Bei aller Freude über die Entwicklung in Europa im letzten Jahr, in den letzten Monaten, vor allem auch in der DDR, die die Menschen dort Schritt für Schritt durchgesetzt haben, darf man, glaube ich, in Europa, in Osteuropa insgesamt, aber auch insbesondere in der DDR, die Augen nicht vor der ernsten Lage verschließen, die dort herrscht, denn — das bedrückt die Menschen, die jeder, der einen Besuch in der DDR macht, treffen wird — dieser Erfolg hat sie bisher nicht froh gemacht, weil über ihnen vieles an gewaltigen Ungewißheiten hängt. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll, sie erleben faktisch täglich — das ist schon angesprochen worden — eine SED, die vor Ort weiter so tut, als wäre im großen und ganzen überhaupt nichts geschehen. Die Beispiele sind hier genannt worden. Beispiele kann jeder sofort zusammenbekommen, der die DDR besucht: weitere Abhörmaßnahmen; und bei der Stasi läuft einiges einfach weiter. Dies ist tief bedrückend.
Die Regierung Modrow hat durch ungeschickte Politik, durch Halbherzigkeit diese Sorge und Besorgnis in der Bevölkerung noch zusätzlich geschürt. Ich kann im Interesse aller, insbesondere der Menschen in der DDR, nur hoffen, daß man einsieht, daß endlich eine volle, glaubwürdige Reformpolitik vonnöten ist, damit die Menschen nicht weiter ihr Land verlassen.
Denn — man mag über uns reden, wie man will, ob wir ein besonders üppiges, schönes Sozialsystem haben oder das nicht so ist — ich weiß aus meinen Erfahrungen nur eines: Die riesige Zahl der Menschen, die zu uns gekommen ist, ist nicht deshalb zu uns gekommen, bisher nicht, und deswegen wird auch künftig niemand zu uns kommen, sondern der Grund dafür ist, daß ihnen in ihrem Land nach 40 Jahren Gefängnis Glaube, Vertrauen in eine Zukunft fehlt, in der die Perspektive noch fehlt. Ich meine, wir hätten an sich die gemeinsame Pflicht, soweit wir können, zu helfen, indem wir daran mitwirken, daß dieser Kampf gewonnen werden kann.
Die Aussicht auf demokratische Wahlen am 6. Mai wird immer wieder durch manches in Frage gestellt, wo es Sorgen gibt: Pressefreiheit, Zugang zu den Medien und anderes mehr. Diese Aussicht auf demokratische Wahlen am 6. Mai hat die Menschen trotzdem weiterhin zutiefst skeptisch bleiben lassen. Wer nicht will, daß unsere Landsleute in der DDR entmutigt werden und in wachsender Zahl übersiedeln, muß dazu beitragen, daß ihnen eine überzeugende Perspektive für ihre politische und wirtschaftliche Zukunft gegeben wird.
Die Politik der Regierung Kohl dient diesem Ziel. Sie findet unsere, der CDU/CSU, uneingeschränkte Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu Herrn Lafontaine ist, glaube ich, Richtiges hinreichend gesagt worden. Ich will es mir ersparen, dies fortzusetzen. An die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die es ja auch gibt, die nicht gerade mit großer Freude dies alles mit ihrem Kanzlerkandidaten haben entwickeln sehen, habe ich nur die Bitte, daß sie trotz aller Berechtigung mancher Punkte im einzelnen ihm vielleicht doch einmal klarmachen, daß er nicht nur mit dem, was er losgetreten hat, das Problem zusätzlicher Angst schürt. Das gilt hier und, nebenbei bemerkt, für Rumänien genauso. Fragen Sie doch in den nächsten Tagen einmal den Außenminister, was er von den Banater Schwaben und den Siebenbürger Sachsen zu berichten hat. Man gewinnt dort den Eindruck: Die wollen den Laden und die Schotten dichtmachen; wir haben keine Chance mehr. All dies sind Auswirkungen.
Aber ich sage noch einmal: Das Problem, daß die Menschen weitergehen, liegt genauso und vor allem auf der anderen Seite, in der DDR.
Der Kollege Roth, der Kollege Seiters, der Kollege Lambsdorff und andere haben einiges zur Sprache gebracht, was denkbar, machbar und möglich ist. Man kann immer noch eines draufsetzen und erklären, was sein könnte. Aber damit es zustande kommt, muß die DDR selber — wir können dies nicht — die eigentlichen Kernentscheidungen treffen. Dann ist manches möglich, damit ein schnelles Zusammenwachsen im Ökonomischen geschieht und damit man, wenn dort die richtigen Entscheidungen getroffen worden sind, auch darüber reden kann, wie sich das Problem mit der unterschiedlichen Währung lösen läßt. Aber die Voraussetzungen müssen klar und geschaffen sein. Denn sonst ist — das weiß doch jeder — das alles nur Geld, das ins Meer, in ein Faß ohne Boden geschüttet wird. Dann ist das Ganze sinnlos.
Die Landsleute in der DDR brauchen neben der Perspektive für Demokratie, die sie haben, die sie sich erkämpft haben, auch — dazu sind wir mit aufgerufen — die Perspektive einer Zukunft, die eine Verbesserung ihrer sozialen, ihrer ökologischen und vor allem ihrer wirtschaftlichen Lebensperspektive einschließt.
Wir begrüßen es sehr, daß ins Auge gefaßt ist, darüber zu verhandeln, daß nach dem 6. Mai parlamentarische Gremien den Prozeß des Zusammenfindens ergänzen, erweitern, vielleicht sogar intensivieren sollen. Es gibt, wie ich gehört habe, schon manche



Dr. Hornhues
sehr konkrete Vorstellung bei uns, was man machen und wie das gehen könnte. Ich habe nur die Bitte, mit allzu vielen Modellen und Vorschlägen vielleicht zu warten, bis dort am 6. Mai gewählt ist, damit wir mit den dann frei gewählten Kolleginnen und Kollegen in der DDR diese Fragen gemeinsam erörtern und gemeinsame Wege finden können, statt zu versuchen, ihnen irgend etwas überzustülpen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe schon am Anfang erwähnt, daß die Entwicklung in der DDR von uns nicht isoliert gesehen werden darf. Wir, die Deutschen, wohnen in Europa. Nicht nur in der DDR, sondern im gesamten osteuropäischen Raum ist alles in Bewegung geraten. Was hat sich alles getan, seit wir einander zum letztenmal gesehen haben: Ich nenne als jüngstes Stichwort nur Rumänien. Auch in einer Stunde wie heute nachmittag, wo wir über uns, über Deutschland als Schwerpunkt diskutieren, bedeutet das für uns, nicht aus dem Auge zu verlieren, daß es auch in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und in der Sowjetunion Menschen gibt, die auf uns sehen und hoffen, daß auch wir für sie noch Zeit zur Zusammenarbeit haben. Ich versichere: Wir werden sie haben.
Ich appelliere von dieser Stelle auch an viele unserer Freunde in der Europäischen Gemeinschaft, in der NATO, aber auch ein Stückchen darüber hinaus bis Japan, wo der eine oder andere diesen Prozeß ein wenig skeptisch sieht: Bitte, helfen Sie uns in dem Bemühen, daß wir Deutsche in Europa in Freiheit zusammenfinden können. Aber lassen Sie uns gemeinsam auch helfen, daß es in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Rumänien, Polen, Bulgarien zu einer Entwicklung kommt, die den Aufbruch zur Demokratie stabilisiert. Wir von der CDU/CSU, meine sehr geehrten Damen und Herren, wollen wie, ich glaube, fast alle im Hause — ich muß wohl einen Teil der GRÜNEN ausnehmen — ein geeintes Deutschland in Europa und mit Europa.
Es war lange Zeit ein Stückchen Traum, wenn man bei Sonntagsreden darüber sprach. Heute, liebe Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren, stehen wir mitten drin in einem Prozeß, daß ein Traum Wirklichkeit werden kann, wird. Wir sollten unsere Chancen nutzen, damit dies geschieht.
Ich will mit einer ganz persönlichen Bemerkung schließen: Mir hat es noch nie so viel Spaß gemacht, ich habe mich noch nie so sehr gefreut wie jetzt in dieser Situation, als Abgeordneter des Deutschen Bundestages an diesem Prozeß von dieser Stelle teilnehmen zu dürfen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118807600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118807700
Meine Damen und Herren! Das, was Arbeitsminister Blüm mit seinen volkstümelnden Emotionen hier geleistet hat, trägt nicht zur Orientierung in den schwierigen Fragen, vor denen wir stehen, bei. Es ist außerdem unglaubwürdig.

(Beifall bei den GRÜNEN — Feilcke [CDU/ CSU]: Aber dafür haben wir doch Sie!)

Wenn er die Frage des Stasi und der Renten in den Mittelpunkt der Diskussion stellt, ist das deshalb unglaubwürdig, weil ich fragen muß, wo denn er und seine Partei waren, als es darum ging, die Renten festzulegen für Nazis, die im Krieg Todesurteile gefällt haben, oder Beamte, die im Dienste Hitlers tätig waren. Da haben Sie keinen Ton gesagt. Ich möchte damit nur andeuten, daß die Frage nicht auf dieser Ebene zu lösen ist. Da halte ich es mit meinem Freund Biermann, der gesagt hat: In dieser Frage geht es nicht darum, Rache zu üben, sondern wenn sie das Alter erreicht haben, wenn es die alten Männer sind, schikken wir sie in die Rente. Da sind diejenigen, die Fehler gemacht oder sogar Schändlichkeiten begangen haben, besser aufgehoben, als wenn wir es anders machten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit dem 9. November wurden Fragen aufgeworfen und geltende Positionen erdbebenartig verändert. Von den Problemen, die sich stellen, sind etliche dringlicher Natur. Andere müssen mit Augenmaß angegangen werden; ihre Lösung braucht längere Zeit. Hier müssen wir sortieren. Die Probleme, die wir jetzt haben — und ich möchte das Haus nach dem, was hier bisher an Diskussionen gelaufen ist, dahin zurückführen, sich damit ernsthaft und sachlich auseinanderzusetzen — , liegen in einer politisch aufgeheizten Situation des kalten Krieges begründet, darin, daß wir hier in der Bundesrepublik eine Phase hatten, wo wir um jeden froh waren, der herüberkam, und ihm sozusagen Prämien gezahlt haben, die wir zahlen konnten, weil es nur wenige waren, die sie in Anspruch nahmen. Jetzt, wo es jeden Tag tausend und mehr sind, die herüberkommen, wird das zum Problem.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Problem liegt auch darin, daß in der DDR eine selbstgefällige politische Kaste, die ihre Untertanen eingemauert und der politischen Mündigkeit beraubt hat, das Land auf den Hund gebracht hat. Das ist sogar im sozialen Bereich so, von dem wir dachten, daß das noch eine Domäne der DDR sei. Auch hier wurde das Land auf Standards heruntergewirtschaftet, die man nur als Minimalstandards bezeichnen kann.
Aber die Positionen sind verschieden. Ich nenne jetzt nur den sozialen Bereich. Wir können die Probleme nicht von heute auf morgen lösen. Deshalb sind diejenigen, die die schnelle Wiedervereinigung für möglich halten und das, weil wir einen Wahlkampf haben, politisch in den Mittelpunkt stellen, falsch beraten.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Es hat keinen Sinn, die Probleme so zu lösen, daß die niedrigen Niveaus in der DDR der Bundesrepublik übergestülpt werden. Das würde zu Verwerfungen führen, die wir politisch einfach nicht verantworten und verkraften können.



Hoss
Der rasante ökonomische Strukturwandel und der Rationalisierungs- und Deregulierungsprozeß bei uns weckt ohnehin massive Zukunftsängste bei vielen bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürgern. Der Zustrom von Übersiedlern — wenn wir eine Politik machen, die das noch hervorruft — beschleunigt diese Prozesse und die daraus resultierenden Ängste noch einmal. Fremdenangst und Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind die Folgen. Deshalb ist eine Politik mit Augenmaß nach dem Gebot der Gleichbehandlung verlangt, die das zurücknimmt, was in der Vergangenheit an überzogenen Dingen ausgeschüttet wurde. Das heißt z. B. konkret: Wenn sich ein Arbeitsloser aus Niedersachsen in Baden-Württemberg bewirbt, hat er bestimmte Ansprüche an das Arbeitsamt. Es kann nicht angehen, daß jemand, der aus Leipzig kommt und sich in Hessen ansiedelt, andere Ansprüche geltend machen kann als der Bürger aus der Bundesrepublik.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Ich könnte dazu noch einiges sagen. Ich habe aber leider nur vier Minuten Redezeit.
Ich denke, daß sich das von den GRÜNEN vorgetragene Problem der Zweistaatlichkeit und der ökologischen Konföderation im Grunde aus der Situation zwingend ergibt, die wir jetzt haben, wenn wir die Lage nüchtern analysieren,

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

und daß jeder falsch liegt — hier meine ich auch die SPD, ich meine auch Lafontaine — , der den Eindruck einer schnellen Wiedervereinigung erweckt. Das ist politisch falsch. Es schürt Illusionen und führt in die Irre. Wir sollten uns zu einer nüchternen Politik bekennen und sagen: Das, was sich durch die verschiedenen Entwicklungen an Problemen aufgehäuft hat, braucht seine Zeit. Es braucht mehrere .Jahre des Nebeneinander. Da sollten wir alle die Dinge regeln, die dazu notwendig sind: nach dem Prinzip der Zweistaatlichkeit im Rahmen einer Vertragsgemeinschaft, einer Konföderation. Daß dahinter das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes einschließlich dessen liegt, daß man hinterher sagen kann, was aus diesen beiden Staaten in einem gesicherten Europa wird, in dem keine Gefahr mehr von der Bundesrepublik oder von der DDR oder von beiden zusammen ausgeht, das ist die Frage, vor die wir politisch gestellt sind. Der sollten wir in allen Fraktionen nicht ausweichen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118807800
Ich erteile das Wort dem Herrn Staatsminister für Wissenschaft und Kunst des Landes Hessen, Herrn Dr. Gerhardt.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118807900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte sehr bewußt zum Beginn der Debatte zurückkehren. Wir sind aufgefordert worden, die Dinge nüchtern zu betrachten. Wir wissen, daß uns die deutsche Frage nicht allein gehört. Wir wissen aber auch, daß die deutsche Geschichte nicht erst 1933 beginnt und die gemeinsame deutsche Geschichte nicht 1945 geendet hat. Das wissen auch unsere westlichen Verbündeten. Damit verbunden sind die Anerkennung von Grenzen in Europa, die von uns Deutschen auf Grund geschichtlicher Ereignisse mitverantwortet werden müssen und die wir zu respektieren haben. Das polnische Volk muß wissen, daß sein Recht, in gesicherten Grenzen zu leben, von niemandem bestritten werden kann, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Wie immer man das stilsicher oder weniger stilsicher ausdrückt, wir kommen an der öffentlichen Bekundung in dieser Frage überhaupt nicht vorbei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nur dadurch erwerben wir auch das Recht, unseren eigenen Verbündeten zu sagen, daß sie uns nicht enttäuschen sollten.
Meine Damen und Herren, wer sich um das Thema „deutsche Einheit" drückt, der überläßt es den falschen politischen Kräften. Wir müssen von unseren Verbündeten erwarten, daß sie uns auf diesem Weg stützen. Wir dürfen niemanden innenpolitisch enttäuschen. Wir dürfen eine solche Debatte nicht mit dem Blick auf anstehende Landtagswahltermine führen, so wichtig das für die Länder ist. Eine deutschlandpolitische Debatte mit dem Blick auf den Kalender der bevorstehenden Landtagswahlen, meine Damen und Herren, wird scheitern.
Ich erinnere an die Rede, die Erhard Eppler in diesem Hause am 17. Juni gehalten hat. Er hat uns eigentlich aufgefordert, die verschiedenen Tabuzonen deutscher Politik, die wir im Laufe der Parteiengeschichte seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland alle mit uns selbst abmachen mußten, doch zu durchbrechen. Er hat zunächst einen Appell an die Sozialdemokratische Partei gerichtet und erklärt, es wäre gut, wenn sich die SPD dazu durchringen könnte, die von Konrad Adenauer getroffene Grundentscheidung als eine mögliche Option, die auch heute ihre Wirksamkeit entfaltet, zu akzeptieren und mit dieser Zeit positiv abzuschließen. Und er hat dann gesagt: Ich richte an die andere Seite die Bitte, ihren Frieden zu machen mit der Politik, die Willy Brandt mit den Verträgen mit osteuropäischen Nachbarn eingeleitet hat. Ich sage das nicht überheblich: Es gibt eigentlich nur eine Partei, die mit beiden Sachverhalten ihren Frieden gemacht hat — das ist die Freie Demokratische Partei. Sie hat auch mit ihrer Existenz dafür gekämpft, daß das so möglich wurde.

(Beifall bei der FDP)

Wir wären bei der Bundestagswahl 1969 fast nicht wieder in diesem Hause gewesen, wenn wir das nicht getan hätten.
Und wir sind damals verschiedentlich mit dem Wort „Verrat" belegt worden. Mein hessischer Kollege Krollmann hat darauf verwiesen, daß es schon ein guter Schritt wäre, das Wort „Verrat" untereinander nicht mehr zu gebrauchen. Das spielt bei Grenzfragen eine Rolle, das hat bei uns bei Koalitionswechseln eine Rolle gespielt. Ich glaube, daß die Parteien dieses Hauses mehr dazu beigetragen haben, der deutschen Außenpolitik Stabilität über diese Epochen zu verleihen, als sie sich das im Schlagabtausch gegenseitig zugestehen, und daß die beiden deutschen Außenmi-



Staatsminister Dr. Gerhardt (Hessen)

nister, die in dieser Zeit Verantwortung hatten, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher, dies auch glänzend nach außen repräsentiert haben. Es ist doch nicht nötig, sich hier mit kleiner Münze über die deutsche Außenpolitik und darüber auseinanderzusetzen, wer welchen Anteil daran hatte, meine Damen und Herren.
Da die Bevölkerung der DDR wohl Gelegenheit hat, diese Debatte zu sehen, möchte ich sagen: Es sollte auch kein Streit geführt werden, wer größere Anteile hat. Die neue deutsche Visitenkarte einer gewaltlosen Revolution ist von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR geschrieben worden; dazu haben wir sie zu beglückwünschen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Niemand aus diesem Hause kann da für sich große Anteile in Anspruch nehmen. Daß wir jetzt die Chance haben, dies weiterzuentwickeln, daß wir ihnen helfen können, das können wir auf der Grundlage der Politik, die von verantwortungsbewußten Politikern aus Bund und Ländern, meine Damen und Herren, gestaltet worden ist, schon in Anspruch nehmen.
Und, Frau Vollmer: Wir schreiben niemandem etwas vor. Aber es ist doch die schlichte Wahrheit, daß in der DDR jetzt die Wörter auftreten, die die Wurzeln des Erfolgs der Bundesrepublik Deutschland sind: Gewerbefreiheit, private Lebensentscheidung, politischer Pluralismus, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit.

(Zustimmung bei der FDP)

Das ist doch keine Einflußnahme auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR. Sie lehren uns die Rückkehr zu Wurzeln der Demokratie und damit auch des Erfolgs der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118808000
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118808100
Gerne. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1118808200
Herr Minister, glauben Sie, daß die Praxis der Landesregierung von Hessen, Lehrer und Lehrerinnen aus der DDR, die ihre Schüler und ihre Klassen dort verlassen haben, bevorzugt einzustellen, die Abwanderung aus der DDR mindert oder fördert?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118808300
Es gibt in Hessen keine bevorzugte Einstellung. Die GEW hat eine falsche Behauptung in die Welt gesetzt.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Wie immer!)

Der Kultusminister prüft in jedem Einzelfall, ob auch da eine Chance besteht, vor allem in Fachbereichen, in denen wir kein Lehrerangebot haben. Es gibt keine bevorzugte Einstellung!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut, daß wir das einmal gehört haben! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Das gehört im übrigen auch zum verantwortungsbewußten Umgang miteinander. Eine Gewerkschaft hat auch Mitverantwortung, daß solche Gerüchte nicht entstehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Und man darf sie nicht in die Öffentlichkeit setzen.
Es gibt eine große Verantwortung der Länder in diesem Prozeß, meine Damen und Herren, vor allem der Länder, die eine große gemeinsame Grenze mit der DDR haben. Es gibt eine gemeinsame Landesgeschichte Hessen/Thüringen. Und wir haben ein 250 Millionen-DM-Programm für Gesundheitswesen, Verkehrsinfrastruktur, Stadtsanierung und Umweltfragen aufgelegt, um in Thüringen zu helfen. Ich wünsche und hoffe, daß andere Länder das auch tun, meine Damen und Herren. Das sind wichtige Schritte aus dem föderativen Staatsaufbau, weil wir ja wünschen, daß auch in der DDR wieder die alten Länder entstehen. Wir sollten dabei hilfreich sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Alle Koalitionsvereinbarungen in den Ländern, meine Damen und Herren, die vor dem 9. November — in welcher Koalition auch immer — gemacht worden sind, sind zu überprüfen, ob nicht ein Anteil des staatlichen Haushalts benutzt werden sollte, um Hilfestellungen zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der Abg. Frau Würfel [FDP])

Wir tun das in Hessen. Aber ich sage diesem Hohen Hause mit Blick auf die Opposition auch: Die notwendigste Überprüfung beschlossener Koalitionsvereinbarungen ergibt sich für mich in Berlin. Meine Damen und Herren, der rot-grüne Senat kann doch nicht so tun, als sei der Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsvereinbarung heute, nach den Ereignissen, die um Berlin herum passiert sind, noch genauso zu sehen.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Da haben Sie völlig recht!)

Ich gebe aus gutem Grund und aus guter Veranlassung ein Stichwort. Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß der rot-grüne Senat beschlossen hat, die Berliner Akademie der Wissenschaften zu schließen, wo alles darauf hindeutet, daß Berlin die Wiederbelebung einer Akademie, die im übrigen dort 1700 gegründet worden ist, benötigt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sowohl für den Berliner Beschluß als auch für das hessische Angebot, die Berliner Akademie nach Hessen einzuladen, wenn sie dort geschlossen werden sollte, gibt es deutschlandpolitisch keine Geschäftsgrundlage mehr, meine Damen und Herren.
Ich appelliere an die Sozialdemokratische Partei, in dieser Situation doch nicht zu vergessen, daß die Schließung einer Berliner Akademie der Wissenschaften ein kleinkarierter und deutschlandpolitisch nicht begründeter Schritt ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich appelliere insbesondere an den Berliner Regierenden Bürgermeister Momper, mit mir zusammen



Staatsminister Dr. Gerhardt (Hessen)

festzustellen, daß die Vereinbarung zwischen SPD und Alternativer Liste zur Schließung der Berliner Akademie der Wissenschaften keine Geschäftsgrundlage nach diesen Ereignissen mehr hat, daß die Berliner Akademie geradezu den Brückenschlag zu anderen Akademien und zu Wissenschaftlern in der DDR und Osteuropa darstellen sollte. Ich stelle dann gerne fest, daß Hessen keinen Grund hat, Berlin eine wirklich zentral zuwachsende Funktion durch Einladung dieser Akademie nach Hessen zu entziehen. Wir wollen nichts aus Berlin abwerben;

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

aber wir wollen, daß dieser Brückenschlag übernommen wird.
Meine Damen und Herren, die deutschlandpolitischen Ereignisse verpflichten uns alle, in Koalitionsvereinbarungen und in Parteiprogrammen nicht immer Wort für Wort das nachzubeten, was wir vor vielen Jahren und mancherorts auch noch im letzten Jahr beschlossen haben. Wer seine Meinung hier ändert und sie überprüft, sollte dazu beglückwünscht werden. Ich beglückwünsche ausdrücklich die Sozialdemokratische Partei zur Aufnahme des Themas deutsche Einheit. Wir haben ein Interesse daran, daß das nicht in Meinungsstreit gerät, auch wenn es kurzfristig auf die Tagesordnung kam.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Union gemeinsam die große Kraft aufbringen würde, auch im Frieden mit den Heimatvertriebenen, für die das ein schwieriges Feld ist, das Ziel zu erreichen, unseren europäischen Nachbarn zu signalisieren, daß wir keine Gebietsansprüche an irgendeinen Nachbarn haben.
Ich würde mich ferner freuen, wenn ein Teil kleines Karo aus der öffentlichen deutschlandpolitischen Diskussion verschwinden könnte.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß wir eine große historische Chance haben. Wir wissen, daß wir eine große Verantwortung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland haben, die wir wahrzunehmen gedenken. Wir wissen, daß ökonomisch starke Bundesländer wie Hessen eine noch größere Verantwortung haben, wirklich finanziell zu helfen.
Wir wollen das tun. Wir erwarten von unseren Nachbarn, daß sie uns bei dem Ziel, die europäische Spaltung zu überwinden und dadurch die deutsche Einheit zu erlangen, unterstützen. Wir sollten selbst in unseren innenpolitischen Auseinandersetzungen darauf achten, daß wir uns stilsicher ausdrücken, daß wir nicht mit kleiner Münze gegeneinander argumentieren und daß wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der DDR mit zu den Kriterien verhelfen, die den Erfolg, die innere Stabilität, den inneren Frieden und den außenpolitischen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland ausgemacht haben. Das ist nichts anderes als Rechtsstaat, politischer Pluralismus, Existenzgründungen, Gewerbefreiheit, private Lebensentscheidungen, private Glaubensentscheidungen, Entscheidungen über Schulformen, in welcher Art auch immer, und das ist ein Stück Lebenswirklichkeit, das auf Freiheitsrechten beruht und nicht auf Kommandostaat.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118808400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID1118808500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gegen Ende dieser Debatte für meine Fraktion einige Feststellungen treffen.
Die erste Feststellung ist eine Bitte an die Menschen in der DDR, nämlich die dringende Bitte: Bleiben Sie in Ihrer Heimat, wenn Sie nicht ganz zwingende Gründe für die Übersiedlung haben! Sie, diese Menschen, haben in einer breiten Volksbewegung, in einer friedlichen Revolution das bisherige System zum Einsturz gebracht und die Chance eröffnet, daß es auf Dauer durch eine demokratische und soziale Ordnung ersetzt wird, in der alle Menschen in Freiheit und unter menschenwürdigen Bedingungen leben können. Wir bitten Sie: Nutzen Sie diese Chance! Zentrale Bedeutung hat dabei die Wahl vom 6. Mai. An diesem Tag können Sie in der DDR die bisherige Staatspartei und die Blockparteien endgültig ablösen. Die neuen Kräfte haben sich bereits formiert; sie sind zur Übernahme der Verantwortung entschlossen. Jeder, der geht, schwächt — ob er will oder nicht — diese Kräfte und stärkt die Kräfte der Vergangenheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Unsere Bitte wird Gehör finden, wenn die Menschen in der DDR die Überzeugung gewinnen, daß die alten Strukturen nicht wiederkehren und daß sich ihre beiden entscheidenden Hoffnungen erfüllen werden, nämlich die Hoffnung, daß sie in überschaubarer Zeit ähnliche Lebensbedingungen erreichen können, wie sie für uns selbstverständlich sind, ohne daß dabei die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben, und auch die Hoffnung, daß die Einheit der Deutschen im europäischen Rahmen Schritt für Schritt in realistischer Weise näherrückt. Verlieren sie diese Hoffnungen, dann wird sich ein Übersiedlerstrom in Bewegung setzen, der weit über das hinausgeht, was wir bisher erlebt haben. Und ich füge hinzu: Er wird sich in Bewegung setzen, ganz gleich, welche Leistungen dann den Übersiedlern gewährt werden oder nicht gewährt werden.

(Beifall bei der SPD)

Drittens. Natürlich hängt sehr vieles von dem ab, was in diesen Tagen und Wochen in der DDR geschieht; ich stimme da einem Teil der Ausführungen von Herrn Seiters durchaus zu. Aber auch wir hier in der Bundesrepublik müssen alles tun, um diese beiden Hoffnungen, die ich genannt habe, zu stärken.

(Beifall bei der SPD)

Dazu gehören insbesondere wirtschaftliche Sofortmaßnahmen. Ich bedaure, Herr Kollege Seiters, daß Sie diese Maßnahmen nicht konkreter und präziser bezeichnet haben. Wir sind in diesem Punkt eigentlich durch Ihre Erklärungen kaum klüger geworden. Wir



Dr. Vogel
haben einen konkreten Katalog vorgelegt. Wir sind auch zur Zusammenarbeit bereit. Aber von diesen Sofortmaßnahmen wird es entscheidend abhängen, wie viele Menschen am 6. Mai noch in der DDR sind und wie viele dann dort bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Diese Sofortmaßnahmen können und müssen unter voller Beteiligung des „Runden Tisches" auch mit der Übergangsregierung vereinbart werden. Der Besuch des Ministerpräsidenten Modrow in Bonn kann diesem Zweck dienen. Er sollte deshalb stattfinden. Ich habe übrigens vermißt, Graf Lambsdorff, daß Sie von dieser Stelle aus erklärt haben, warum Sie in diesem Punkt an Ihrer abweichenden Meinung festhalten. Ich glaube, es wäre eine falsche Entscheidung, eine Möglichkeit — —

(Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das hat er bloß vergessen!)

— Er hat es vergessen? Meinen Sie? Vielleicht kann man das untereinander klären. Aber wir hätten uns gern mit den Gründen auseinandergesetzt.
Grundlegende Abkommen, etwa über eine Vertragsgemeinschaft als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Konföderation, die insbesondere einen Wirtschafts- und einen Währungsverbund zum Gegenstand hat, können erst mit einer demokratisch legitimierten Regierung ausgehandelt und abgeschlossen werden. Im Kommuniqué von Dresden, Herr Bundeskanzler, stand noch etwas anderes. Wir begrüßen es — und offenbar ist das die Meinung des ganzen Hauses — , daß dies korrigiert worden ist und daß über diesen wichtigen und zukunftweisenden Schritt erst mit einer demokratisch legitimierten Regierung verhandelt und abgeschlossen wird.

(Beifall bei der SPD)

Viertens. Bei allen Kontakten mit der Übergangsregierung muß das Thema der Chancengleichheit bei den Wahlen angesprochen werden. Diese Chancengleichheit ist bislang nicht gegeben. Die SED — und ich füge hinzu: nicht nur die SED, sondern auch die Blockparteien — besitzt gegenüber den neuen Kräften unverändert eine erdrückende materielle und publizistische Überlegenheit. Die Linie verläuft nicht zwischen der SED und den übrigen Parteien, sondern nach allem, was wir hören, verläuft die Linie zwischen der SED und den Blockparteien einerseits, die alle Häuser, technischen Apparate und Zeitungen haben, und den neuen Kräften andererseits.
Das ist insbesondere eine Frage des Parteivermögens. Ich sage auch an dieser Stelle, um es der Öffentlichkeit deutlich zu machen: Wir Sozialdemokraten werden nicht müde werden, in diesem Zusammenhang auch die Frage der Rückerstattung des sozialdemokratischen Parteivermögens anzusprechen. Auch das ist eine Frage der Rechtsstaatlichkeit.

(Beifall bei der SPD)

Solange und soweit diese Chancenungleichheit fortbesteht, ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, daß wir unserer Schwesterpartei und Sie anderen neuen demokratischen Kräften in dem Ausmaß helfen, in dem sie das selber wünschen.
Fünftens. Wenn wir alles uns Mögliche tun, dann haben wir auch das Recht, an die Menschen in der DDR eine weitere Bitte zu richten, nämlich die Bitte, in der gegenwärtigen schwierigen Phase Geduld und Besonnenheit zu wahren. Wir teilen ihr Empörung über das, was jetzt Tag für Tag ans Tageslicht kommt, etwa über das Ausmaß der Bespitzelung durch über 80 000 Angehörige des Staatssicherheitsdienstes und über 100 000 sogenannte Mitarbeiter. Es wäre besser gewesen, die Regierung Modrow hätte von Anfang an Klarheit geschaffen und beispielsweise die Übergangsgelder für die ehemaligen Stasi-Angehörigen erst gar nicht bewilligt. Dabei verwundert übrigens ein bißchen, daß auch die Ost-CDU und die LDPD diesen Übergangsgeldern in der Regierung zugestimmt haben. Es ist schwer zu erkennen, warum.

(Beifall bei der SPD)

Jede Gewaltanwendung kann aber dazu führen, daß die Lage in der DDR außer Kontrolle gerät. Das würde nur den alten Kadern, das würde nur den Kräften von gestern helfen.
Sechstens. Die tatsächlichen Gegebenheiten, die für die Einführung besonderer Leistungen an Übersiedler aus der DDR maßgebend waren, haben sich mit der Öffnung der Grenzen und der neuen Situation in der DDR grundlegend verändert. All diese Regelungen stammen aus einer Zeit, in der nur einzelne in einer Verfolgungssituation, in einer Situation politischen Drucks, zum Teil mit äußersten Anstrengungen und auch finanziellen Aufwendungen von unserer Seite herübergeholt werden konnten. Diese Situation hat sich durch die Öffnung der Grenzen und durch die Freizügigkeit entscheidend verändert. Dem muß durch neue Regelungen Rechnung getragen werden, die sich an dem selbstverständlichen Grundsatz orientieren, daß Übersiedler künftig nicht schlechter, aber auch keinesfalls besser behandelt werden sollen als die Mitbürgerinnen und Mitbürger hier in der Bundesrepublik,

(Beifall bei der SPD)

und zwar nicht nur deswegen, weil wir sonst die Abwanderung aus der DDR begünstigen — auch das ist ein Gesichtspunkt — , sondern deswegen, weil dies ein Gebot des Gleichheitssatzes, des Gleichbehandlungssatzes, und ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit ist, dessen Mißachtung hier in diesem Lande schlimme Folgen auslösen könnte.
Dem saarländischen Ministerpräsidenten kommt dás Verdienst zu, auf diesen Sachverhalt rechtzeitig und immer wieder hingewiesen zu haben.
Ihre Reaktion war außerordentlich merkwürdig. In der ersten Phase haben Sie polemisch reagiert. In der zweiten Phase hat Herr Bötsch, hat Herr Späth, hat Herr Gerster und haben andere aus Ihrer Mitte diesen Feststellungen und Forderungen zugestimmt.
Heute haben wir dann einen Auftritt erlebt, von dem ich nur sagen kann: Ich bedaure ihn zutiefst. Das, was Sie, Herr Blüm, hier heute geboten haben, ist eines Bundesministers unwürdig und für dieses Parlament eine Schande.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Er hat sich noch nicht entschuldigt! Er hat das noch nicht zurückgenommen!)




Dr. Vogel
Wir könnten uns, Herr Blüm, als Partei über diesen Auftritt freuen. Ich glaube, es wäre ein guter Gedanke der nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, sich ein Videoband von Ihrem Auftritt hier zu verschaffen; es wäre ein guter Gedanke.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU: Ja! — Jawohl!)

Aber ich muß Ihnen sagen, Herr Kollege Blüm — ich gehöre seit 18 Jahren diesem Parlament an — : Ich schäme mich dafür, in welcher Art und Weise hier ein Bundesminister auch den Bürgerinnen und Bürgern der DDR gegenübergetreten ist.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich gebe Ihnen ernsthaft zu bedenken, daß sich all diese maßlosen Ausfälle im übrigen genauso gegen Herrn Bötsch, gegen Herrn Späth und gegen andere gerichtet haben wie gegen den saarländischen Ministerpräsidenten.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich fordere Sie auf, sich für diese Entgleisungen hier zu entschuldigen und damit die Würde dieses Hauses wiederherzustellen.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

Siebtens. Zur Frage der polnischen Westgrenze hat sich der Herr Bundeskanzler gestern in Paris etwas klarer geäußert als bisher. Aber, das, was an Mißtrauen in Polen und bei unseren anderen europäischen Nachbarn durch das bisherige Verhalten des Bundeskanzlers bereits verursacht wurde, ist durch die gestrige Äußerung in Paris keineswegs ausgeräumt. Im Gegenteil: Dieses Mißtrauen wird aufs neue genährt, weil die Frau Bundestagspräsidentin gerade jetzt in ihrer Fraktion auf das schärfste dafür gerügt wird,

(Zuruf von der CDU/CSU)

daß sie einen Vorschlag unterbreitet hat, der eine gemeinsame Erklärung beider deutschen Staaten zur polnischen Westgrenze zum Gegenstand hat. Diese Art des Umgangs mit dem Vorschlag der Bundestagspräsidentin

(Kittelmann [CDU/CSU]: Diese Anbiederung verbittet sich die Frau Präsidentin!)

nährt doch neue Zweifel an Ihrer Position und ist geeignet, das, was Bundesaußenminister Genscher bei vielen Gelegenheiten gesagt hat, wieder zu relativieren. Ich fordere Sie deshalb auf: Räumen Sie diesen Zweifel endgültig aus! Stimmen Sie unserem Antrag, mit dem wir den Vorschlag der Bundestagspräsidentin aufgegriffen haben, zu, und eröffnen Sie damit die Möglichkeit, daß diese schädliche Auseinandersetzung über die polnische Westgrenze mit einer gemeinsamen Erklärung beider deutschen Staaten endgültig abgeschlossen wird.

(Beifall bei der SPD)

Achtens. Bei den Ausführungen der Koalition war nur am Rande von der Abrüstung die Rede. Tatsächlich besteht jedoch zwischen der Abrüstung und dem Gelingen des sowjetischen Reformprozesses und dem Fortgang des deutschen und des europäischen Einigungsprozesses ein elementarer Zusammenhang. Große, rasche und ernsthafte Abrüstungsschritte sind deshalb notwendiger denn je. Wir treten seit langem für die Beendigung des Jäger-90-Projektes, für die Einstellung der Tiefflüge, für die Reduzierung der Präsenzstärke der Bundeswehr und auch für eine Dienstzeitverkürzung ein.
Erfreulicherweise hat sich die FDP dem in dieser Woche weitgehend angeschlossen. Es gäbe also eine parlamentarische Mehrheit für konkrete Entscheidungen. Wir werden Ihnen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP, bald Gelegenheit geben, hier im Plenum deutlich zu machen, wie ernst es Ihnen mit Ihrem Sinneswandel ist. Jedenfalls wird bei der Beratung des Nachtragshaushalts dazu Gelegenheit bestehen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich sprach davon, daß die Menschen in der DDR Ermutigung und Zeichen der Hoffnung brauchen, der Hoffnung auf Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, aber auch der Hoffnung auf ein Fortschreiten des deutschen Einigungsprozesses. Drei solche Zeichen der Hoffnung hat es in den letzten acht Tagen gegeben.
Das eine Zeichen kam aus Brüssel. Es ist die Erklärung Jacques Delors, des Präsidenten der EG-Kommission, daß die DDR als Mitglied in der EG willkommen sei.

(Beifall bei der SPD)

Diese Erklärung eröffnet eine zukunftsträchtige Perspektive und zeugt von hohem Verständnis für die deutsche Situation. Ich meine, diese Erklärung verdient deshalb den Dank des ganzen Hauses.

(Beifall bei der SPD)

Das zweite Zeichen ist von den Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und der Evangelischen Kirche in Deutschland gesetzt worden. Diese haben sich nämlich am Mittwoch, also gestern, in Loccum auf das Ziel verständigt — nun zitiere ich wörtlich aus dem Beschluß — , „für die ganze evangelische Christenheit in Deutschland wieder eine gemeinsame Kirche anzustreben". Die evangelische Kirche, die so viel zum Wandel in der DDR beigetragen hat, weist damit einmal mehr den Weg, und zwar in einer realistischen, verantwortungsbewußten und keineswegs euphorisch überstürzenden Weise. Auch dafür ein Wort des Dankes.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das dritte Zeichen der Hoffnung — nun fürchte ich, daß die Reaktion geteilter ausfallen wird — kommt aus der DDR selbst. Es ist der Beschluß der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der DDR, künftig wieder den angestammten Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands anzunehmen.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Vogel
Das ist ein Beschluß, dessen Bedeutung eigentlich nicht nur von uns, sondern von allen in der Bundesrepublik wegen seiner Dimension und seiner Tragweite gewürdigt werden sollte.
Es ist ein Beschluß, der Traditionen und Zusammenhänge wieder lebendig werden läßt, die in der DDR mehr als vier Jahrzehnte lang verschüttet und ausgelöscht erschienen; ein Beschluß, der davon zeugt, welche Kraft unverändert in der Geschichte, in der Tradition und in der Programmatik der deutschen Sozialdemokratie steckt. Die beiden Sozialdemokratischen Parteien Deutschlands werden diese Kraft für die Gestaltung der Zukunft, für die Bewahrung des Friedens, für die soziale Gerechtigkeit und für die europäische und die deutsche Einigung einsetzen.
Wir sind uns wohl bewußt: Unser gemeinsamer Name Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist keine zufällige Zusammenfügung beliebiger Begriffe. Er ist ein Stück unserer Identität und zugleich eine Verpflichtung. Wir werden dieser Verpflichtung in der Bundesrepublik, wir werden ihr in beiden Teilen Deutschlands gerecht werden.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die wollen aber keine Genossen sein!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118808600
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1118808700
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, jeder spürt, daß dies ein Schicksalsjahr für uns Deutsche wird. Wer geglaubt hat, wir hätten den Kampf für die Demokratie schon begonnen und wir könnten uns von Fest zu Fest dorthin entwickeln, der ist sehr schnell durch die neue Anmaßung der SED in der DDR auf den Boden der Tatsachen gestellt worden.
Im Grunde genommen mußte man ja schon vorher mißtrauisch sein. Ich bin kein Freund Honeckers. Aber wer versucht, die Misere, in der sich die Landsleute in der DDR befinden, auf individuelle Schuld einzelner Menschen — und seien es auch die Bonzen der SED — zurückzuführen, macht einen großen Fehler. Schuld ist das System. Das System muß sich ändern, der Sozialismus muß weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Manche SED-Mitglieder zeigen ihre Verzweiflung und Betroffenheit über den Champagner und über die zehn Whiskysorten von Wandlitz. Ich sage Ihnen jedoch: Das Problem der DDR ist nicht der Champagner von Wandlitz, sondern die Schüsse an der Grenze und die Unfreiheit des Sozialismus. Das muß weg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt kommt es darauf an, Herr Vogel, daß wir in dieser schwierigen Situation, in der die Menschen durch die Stasi neu verängstigt werden, Vertrauen schaffen. Deswegen sind die Gespräche mit der Regierung so wichtig.
Ich darf im übrigen daran erinnern: Als wir 1982 die Regierung übernommen haben, wurde angekündigt, wenn die CDU regiert, dann gibt es keine Kontakte mehr mit der Regierung in der DDR. Jetzt kommt der Vorwurf, es gibt zu viele Kontakte. Es zeigt sich, wie sich die Welt doch ändern kann. Herr Kollege Vogel, der Bundeskanzler muß diese Kontakte wahrnehmen, um zu einer Stabilisierung der Demokratisierung in der DDR beizutragen.
Die Menschen in der DDR lassen sich nicht wieder einsperren. Aber sie lassen sich auch nicht aussperren, nicht durch Sie und nicht durch Herrn Lafontaine, Herr Vogel. Das ist nämlich der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Und sie kommen nicht in erster Linie wegen unserer sozialen Leistungen und wegen unserer Solidarität, sondern wegen der Unfreiheit und wegen des Unrechtsstaates und wegen des falschen wirtschaftlichen Systems in der DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen muß man sagen: Wer davon träumt, einen „dritten Weg" in der DDR zu verwirklichen, wer wie Sie und Herr Lafontaine davon träumt, ein weiteres Experiment mit dem Sozialismus in Deutschland, in der DDR, zu unterstützen,

(Dr. Vogel [SPD]: Sie zitieren ja gerade Herrn de Maizière! Sie reden von der OstCDU!)

wo die Menschen ja festgestellt haben, was 40 Jahre soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik und 40 Jahre Sozialismus in der DDR bedeuten, wer davon also träumt, der verstärkt die Flüchtlingswelle. Da müssen wir ansetzen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Roth [SPD]: Das verdient ja keinen Zwischenruf!)

Wenn alle Menschen auf einem Schiff auf eine Seite treten, geht dieses Schiff unter. Das gilt für die Situation in Deutschland, und deswegen fordern wir Sie auf: Helfen Sie uns bei dem unzweideutigen Kampf far die staatliche Einheit, für den Rechtsstaat und für die soziale Marktwirtschaft in der DDR,

(Roth [SPD]: „Ökologisch" nicht vergessen!)

damit Freiheit und Wohlstand nach Dresden kommen können und nicht länger die Dresdener in die Freiheit fliehen müssen. Das ist die Antwort auf die Situation!

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Herr Vogel, viel hängt vom Stil ab.

(Lachen bei der SPD — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Ja, Herr Rühe, beim Arbeitsminister!)

Sie werden sich ja auch fragen, warum der Bundeskanzler,

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] : Warum sich der Bundeskanzler hinter Herrn Blüm versteckt! Das frage ich mich allerdings auch!)




Rühe
warum die Union soviel Zuwachs an Zustimmung in der Bundesrepublik und in ganz Deutschland hat.

(Zuruf von der SPD: Wo? — Dr. Vogel [SPD]: Na, warten wir mal ab!)

Sie werden sich fragen, warum der Bundeskanzler immer stärker zu einer Integrationsfigur für alle Deutschen

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wo ist er eigentlich?)

und zu einem Hoffnungsträger gerade für die Deutschen in der DDR geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Schon mal was von Willy Brandt gehört? — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Armes Deutschland!)

Ich will Ihnen die Antwort auf diese Frage geben. Die Antwort lautet: In dieser historischen Situation, Herr Dr. Vogel, meine Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, brauchen wir Politiker, die zusammenführen, nicht Politiker, die spalten und trennen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

Deswegen sage ich Ihnen: Ein Mann wie Lafontaine, der spaltet und trennt — in der eigenen Partei, zwischen Ihnen und dem DGB — , der paßt zu dieser historischen Situation in Deutschland wie die Faust aufs Auge. Wir brauchen Politiker, die zusammenführen, die Deutschland zusammenführen, die die Menschen zusammenführen und die nicht — wie Norbert Blüm völlig richtig gesagt hat — eine Linie der Unbarmherzigkeit durch unser Land ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Oskar Schönhuber!)

Herr Dr. Vogel, die Bundesregierung hat durch den Bundesminister Seiters den Zwischenbericht über ihre Politik der Stabilisierung der Demokratie in der DDR gegeben. Es ist ein Zwischenbericht. Wir sind noch mitten in den Verhandlungen, und Sie als ehemaliger Bundesminister sollten doch wissen, daß es natürlich ein schwerer Kunstfehler wäre, wenn man hier mitten in Verhandlungen mit der anderen Seite die Elemente der Verhandlungen auspacken würde. Ich glaube, das verstehen die Menschen doch sehr gut. Wenn wir für die Landsleute in der DDR möglichst viel erreichen wollen, muß man solche Kunstfehler vermeiden; dann darf man nicht so vorgehen, wie Sie es hier vorgeschlagen haben.

(Roth [SPD]: Demokratie, nicht Poker! — Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist doch kein Poker! Beim Pokern muß man ja noch was können!)

Herr Dr. Vogel, wer nach der gemeinsamen Erklärung des Bundestages vom 8. November, einen Tag vor der Reise des Bundeskanzlers nach Polen, die Ihren Namen, den Namen des Vorsitzenden der FDP, den Namen des Vorsitzenden der CDU und den Namen des Vorsitzenden der CSU trägt, wer nach dieser gemeinsamen Erklärung und nach den Worten des Bundeskanzlers gestern in Paris weiterhin sagt, das sei eine unbefriedigende Auskunft zum Thema der Grenze,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ist es auch!) der muß sich wirklich sagen lassen,


(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Dann stimmt doch zu!)

daß er versucht,

(Dr. Vogel [SPD]: Stimmt doch zu!)

mit dem Ganzen ein innenpolitisches Süppchen zu kochen. Das ist eine unangemessene Haltung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Ein bißchen höflicher mit Frau Süssmuth umgehen!)

Herr Dr. Vogel, man hat Ihnen den Gründerstolz und auch den Vaterstolz auf die neue SPD in der DDR angemerkt.

(Dr. Vogel [SPD]: Hat Ihnen gefallen, nicht?)

— Ich sage ja, ich habe Ihnen angemerkt, daß es Ihnen gefallen hat. Aber Sie werden eine Antwort darauf bekommen. Zunächst einmal muß ich sagen: Das ist natürlich auch eine erstaunliche Wende, denn vor kurzem haben wir noch gehört, man dürfe noch nicht einmal Ratschläge geben, denn Ratschläge seien auch Schläge.

(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Dummes Zeug!)

— Ja, das ist von Ihnen gekommen, Herr Dr. Vogel.

(Beifall bei der CDU/CSU — Bohl [CDU/ CSU]: Das habt ihr gesagt! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Rau heißt der Mann!)

Wenn wir in die DDR fahren,

(Dr. Vogel [SPD]: Dann sind Sie schon geschlagen!)

werden wir immer wieder gefragt: Wie können wir den Bundeskanzler Kohl und die Politik der Union wählen?

(Zuruf von der SPD: Wirklich?) Die Menschen wollen in ihrer Mehrheit


(Zuruf von der SPD: CDU haben?)

soziale Marktwirtschaft, staatliche Einheit ohne Hintergedanken, ohne die Chancen der Zweistaatlichkeit, wie das bei Ihnen immer angeklungen ist, den Rechtsstaat.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Die müssen nur einmal Sie von nahem erlebt haben!)

Es gibt eine Mehrheit für unsere Politik. Ich sage Ihnen:

(Dr. Vogel [SPD]: Ja?)

Wir werden denjenigen in der DDR helfen, die dafür sorgen wollen,

(Zuruf von der SPD: Lassen Sie die Menschen einmal wählen!)




Rühe
daß sich eine Allianz, eine Parteigruppierung bildet, die sicherstellen kann,

(Dr. Vogel [SPD]: Mal los!)

daß die Menschen in der DDR unsere gute und erfolgreiche Politik wählen können. Das wird die Entwicklung in der DDR sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im übrigen habe ich schon seit langem an diejenigen appelliert,

(Zuruf von der SPD: Sie haben noch nicht einmal einen richtigen Partner!)

die Ressourcen in der DDR haben. Am meisten Ressourcen hat immer noch die SED,

(Dr. Vogel [SPD]: Dann kommt die OstCDU!)

mit der Sie über Jahre hinweg auf das engste zusammengearbeitet haben.

(Zuruf von den GRÜNEN: Sie brauchen sich nur einmal das mickrige Haus der Ost-CDU anzugucken!)

Herr Dr. Vogel, da Sie jetzt schon wieder so unruhig werden, kann ich Ihnen folgendes sagen: Wir sind zukunftsgerichtet, aber wir vergessen eben auch nicht, daß alle Ihre Gesprächspartner der letzten Jahre inzwischen im Gefängnis sitzen.

(Zuruf von der SPD: Ihre auch! — Dr. Vogel [SPD]: Mit wem haben Sie denn gesprochen? — Bohl [CDU/CSU]: Und im Gefängnis rufen sie: Freiheit statt Sozialismus!)

Das ist nicht zu vergessen.

(Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn mit SchalckGolodkowski verhandelt? Wo waren die denn? — Weitere Zurufe)

— Das gibt mir die Chance, ein Glas Wasser zu trinken.

(Dr. Vogel [SPD]: Schalck-Golodkowski war doch im Oktober hier!)

Ich sage Ihnen, Herr Vogel: Sie sind in einem Jahr so häufig mit ihnen zusammengetroffen — — Entschuldigen Sie mal, noch im September letzten Jahres hat der Kollege Ehmke darauf bestanden, zu einem Besuch der SED in die DDR zu reisen. Die Reise ist daran gescheitert, daß die SED Sie ausgeladen hat. Das ist noch im September letzten Jahres passiert.

(Zurufe von der [CDU/CSU]: So ist es! — Weil Herr Ehmke zu links war! — Lachen bei der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen: Sie, Herr Ehmke, Herr Bahr und andere waren so häufig mit diesen Hauptprotagonisten der SED zusammen, daß Sie hervorragende Zeugen sein werden für die Gerichtsverhandlungen in der DDR, die mit diesen Persönlichkeiten durchgeführt werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, worum geht es in diesem Jahr, was die Bundesrepublik Deutschland angeht? — Überall gibt es Hilferufe, Bitten um Unterstützung von den jungen Demokratien in Mittel- und in Osteuropa und natürlich auch aus der DDR. Ich muß Ihnen sagen: Wir sollten uns nicht darüber beschweren, sondern wir sollten stolz darauf sein, daß wir zur Hilfe fähig sind, daß wir handlungsfähig sind. Wenn wir nicht 4 % Wirtschaftswachstum hätten, wenn wir es in den letzten Jahren nicht geschafft hätten, 11/2 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen — im Augenblick die größte Zahl von Arbeitsplätzen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland —, wenn wir nicht diese Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht hätten, wären wir hilfeunfähig.
Herr Dr. Vogel, deshalb sage ich Ihnen: Am Tage der Bundestagswahl werden viele Menschen in der DDR, aber auch zum Beispiel Reformsozialisten in Polen und Ungarn mindestens so bangen wie der CDUGeneralsekretär, daß ein Ergebnis herauskommt, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht zu einem Problem wird, sondern daß wir dabei bleiben, daß wir hilfefähig sind, daß wir handlungsfähig sind, daß wir eine Politik machen, mit der wir anderen Menschen helfen können, den sicheren Weg zur Demokratie in Europa zu finden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen es unseren Landsleuten sagen: Wir tragen Verantwortung nicht nur für die Menschen in der Bundesrepublik. Es ist weit darüber hinaus entscheidend, daß unsere Wirtschaftspolitik gemacht wird und nicht etwa eine rot-grüne Wirtschaftspolitik.

(Zuruf von der SPD: Eine uralte Klamotte führen Sie da wieder auf! Untergang Deutschlands und des Abendlandes!)

Herr Dr. Vogel, was ich nicht verstehe, ist, daß die Sozialdemokraten die Chance der jetzigen Entwicklung nicht richtig begreifen, sondern daß Ängste geschürt werden, wie etwa durch Lafontaine. Alfred Herrhausen wollte am 4. Dezember in New York vor dem Council an Foreign Relations eine Rede halten, die ich habe. Sie wissen, daß er sie wegen seiner Ermordung am 30. November nicht halten konnte. Er hatte eine großartige Vision, die, wie ich finde, von uns allen in den 90er Jahren geteilt und verfolgt werden sollte. Er meinte: Die Abschreckung hat uns Kraft gekostet, das Fertigwerden mit der Bedrohung hat Kräfte gebunden. Wenn es uns durch unsere Politik des Wandels in Europa jetzt gelingt, diese Kräfte freizusetzen, damit wir uns dann auf die wirklichen Probleme der Menschen auf der ganzen Welt konzentrieren können, dann ist das doch eine ungeheure Chance und eine großartige Vision.
Willy Brandt hat in diesen Tagen gesagt: Es gibt in Lateinamerika, Afrika und anderswo die Befürchtung, wir Europäer oder Deutschen würden uns vielleicht nur noch um uns selbst kümmern und anderen den Rücken zudrehen. Ich muß Ihnen sagen: Das, was durch ein falsches System des Sozialismus in der DDR in Mittel- und Osteuropa passiert ist, ist nicht nur ein Skandal gegenüber den Menschen dort, sondern es handelt sich um Länder, die genauso zur Hilfe fähig sein könnten wie die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen sage ich Ihnen: Es ist doch eine großartige Vision, daß durch unsere Politik ein Europa entstehen



Rühe
könnte, das den armen Menschen in den anderen Teilen der Welt helfen kann.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist doch alles gar nicht geplant! Es geht darum, die zum Armenhaus zu machen!)

Deswegen lohnt es sich doch, Schluß zu machen mit dem Sozialismus und entsprechend dieser Vision unsere Kräfte zu konzentrieren, damit wir die wirklichen Probleme der Menschen auf der Welt lösen können. Ich finde, wir sollten das nie aus den Augen verlieren.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118808800
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1118808900
Jetzt nicht.

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) — Bitte, wenn Sie das falsch interpretieren.


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118809000
Die Zwischenfragen läßt der Präsident zu. Sie gestatten sie?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1118809100
Ja.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118809200
Bitte schön.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118809300
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es kommt, daß bei uns die Bananen und der Kaffee so ungeheuer billig sind? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß unser Reichtum vielleicht etwas mit den Ländern zu tun hat, die so arm sind und in denen genau diese Güter für uns produziert werden?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1118809400
Wenn Sie das den Kräften des Marktes entziehen und staatliche Preise festlegen wollen, dann machen Sie einen Fehler, der zu einer noch viel größeren Verarmung in der Weltwirtschaft führen wird.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Rühe, der Bananenkönig!)

Sie müssen erreichen, daß die Länder, die potentiell zu den Käufern gehören könnten — wie die DDR —, die sich bisher keine Bananen und anderes leisten konnten, den Reichtum der Menschen bei ihnen nutzen und blühende Länder werden. Dann können sie auch in den Ländern Afrikas und Lateinamerikas kaufen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Ich verstehe ja, daß Sie unruhig werden. Aber ich finde, am Anfang eines Jahres sollte man schon versuchen, ein bißchen weiter in die Zukunft zu schauen und sich klarzumachen, welches der Weg für die nächsten Jahre ist.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Jetzt weiß ich auch, warum er nicht auf Zwischenfragen antwortet! Er kann es eben nicht!)

Herr Vogel und meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, wir haben alle Chancen, unter unserer Mitwirkung ein Abkommen zu erreichen, das zu einer Halbierung der Zahl der Raketen mit interkontinentaler Reichweite führen wird. Wir haben alle Chancen, das zu tun, wovon wir, aber auch Sie in der Vergangenheit nur gesprochen haben im Hinblick auf die Abschaffung und Beseitigung der chemischen Waffen. Ich bin stolz darauf, daß das unter dieser Bundesregierung erreicht werden wird.
Herr Dr. Vogel, die vielleicht wichtigsten Verhandlungen sind die Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung in Wien. Sie haben immer den Fehler gemacht, zu glauben, daß Sicherheit in erster Linie von Waffen abhängt. Sie haben sich um Sicherheitsfragen gekümmert und die Freiheitsfrage unterschätzt. Ich muß Ihnen sagen: Unser Einsatz für Menschenrecht und Freiheit war keine Störung der Entspannung, wie Sie das Václav Havel in der Vergangenheit gesagt haben, sondern ein Staat, in dem die Menschenrechte abgesichert sind, in dem ein kommunistischer Parteichef bereit ist, Wahlen zu verlieren, wodurch der Weg zur Demokratie vorgezeichnet ist, ist auch die beste Sicherheit für uns. Deswegen war unsere Politik, die Menschenrechte einzuklagen, richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube also, es gibt gute Chancen, hier zu einer deutlichen Reduzierung bei den konventionellen Waffen zu kommen und damit auch erfolgreich im Hinblick auf unsere Abrüstungspolitik abzuschließen.
Meine Bitte ist ganz einfach, Herr Vogel, daß Sie zur Kenntnis nehmen, welche Unterstützung der ZehnPunkte-Plan des Bundeskanzlers inzwischen national und international gefunden hat, daß Sie nicht versuchen, hier weiter künstlich Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen. Sprechen Sie einmal mit den Menschen, mit den Gruppierungen in der DDR! Es gibt eine breite Mehrheit in der DDR für diese zehn Punkte. Ich sage Ihnen voraus, daß sich Ihre Schwesterpartei, die Sie gegründet haben, wenn sie bei den Wahlen gut abschneiden will, auch noch auf den Bundeskanzler berufen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Roth [SPD]: Was heißt „die Sie gegründet haben"? Wissen Sie nicht, wie die entstanden sind? Unglaublich! Dieser Diffamierer! — Abg. Gansel [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Wir stehen am Beginn eines Jahres — das soll das letzte Wort sein — , das für die Deutschen schicksalhaft sein wird. Ich meine, wir tun gut daran, die Chancen zum Wandel zu nutzen. Das wird kein Weg wie auf einer Autobahn sein, sondern das kann auch ein holpriger Weg werden, es kann auch Umleitungen geben, vielleicht auch einen Unfall. Aber wichtig ist, daß wir das Ziel im Auge behalten, und das Ziel lautet aus unserer Sicht, daß wir Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, die staatliche Einheit für alle Deutschen, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Europäer erkämpfen.
Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der FDP — Gansel [SPD]: Eine Kurzintervention!)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118809500
Herr Abgeordneter Gansel hat um eine Kurzintervention gebeten, die nach unseren Regeln jetzt möglich ist. Natürlich hat der Redner von eben, wenn er will, anschließend die Möglichkeit zu antworten. — Bitte schön, Herr Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID1118809600
Danke, Herr Präsident! Nach der Geschäftsordnung ist es jetzt in der Tat möglich, eine Kurzintervention zu machen. Ich möchte die Chance nutzen, um Herrn Rühe zu bitten, die Behauptung zurückzunehmen, daß die SPD in der DDR, die sich als SDP in der DDR gegründet hat, von der SPD aus der Bundesrepublik — sozusagen von uns — gegründet sei. Herr Rühe, vielleicht war es ein Versprecher; dann stellen Sie es klar. Aber Sie müssen wissen: Die Behauptung, daß die SDP in der DDR durch die SPD in der Bundesrepublik gegründet worden ist, hat bisher nur der Staatssicherheitsdienst der DDR aufgestellt. Wenn es nur ein Versprecher war, ist es nicht so schlimm. Aber stellen Sie das bitte klar.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Was macht wohl der Herr Arndt in Thüringen?)

Sie müssen wissen, daß die 44 Frauen und Männer, die am 7. Oktober 1989 in der DDR die Sozialdemokratische Partei neugegründet haben, dies noch unter vollem persönlichem Risiko für ihre Freiheit, für ihre Gesundheit, für ihre Familien getan haben, und das muß anerkannt werden und darf von niemandem in Zweifel gezogen werden.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118809700
Bitte schön, Herr Rühe.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1118809800
Kollege Gansel, ich habe mich auf die Veranstaltung am letzten Wochenende bezogen.

(Dr. Vogel [SPD]: Das ist keine Begründung! — Roth [SPD]: Faule Ausrede!)

— Moment! — Es ist ganz klar, daß das ohne das entscheidende Tun der Sozialdemokraten gar nicht denkbar gewesen wäre. Aber Sie haben recht: Die Ursprünge von einigen wenigen waren da. Aber ich muß auch hinzufügen, daß sich mit Ausnahme von Ihnen und einigen wenigen anderen die SPD am Anfang von ihnen abgegrenzt hat, weil Sie noch mit der SED zusammengearbeitet haben. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Gansel [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118809900
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1118810000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Raunen, Ausdruck der viel zu langen Weihnachtspause und Abwesenheit meiner gedanklichen Ergüsse, motiviert natürlich außerordentlich, zu diesem Thema auch heute noch einmal Stellung zu nehmen.
Herr Rühe, ich denke, daß man Ihre Rede in weiten Teilen als agitatorisch und zu einem guten Teil sogar als demagogisch kennzeichnen muß. Sie haben Formulierungen gebraucht wie „wir müssen der DDR helfen". Dabei ist die Frage, was es dort tatsächlich zu helfen gibt und ob der Begriff zu Recht gebraucht wird. Helfen muß man in den wirklich unterentwickelten Regionen dieser Welt. In der DDR gibt es niemanden, der Hunger leidet oder ähnliches. Deswegen sollte man sprachlich sorgfältiger auswählen, ob man „unterstützen" oder Vergleichbares sagt. Zu behaupten, daß dort Unterstützung notwendig ist, damit der Dritten Welt zu einem höheren Standard verholfen werden kann, ist jedenfalls schlicht heuchlerisch. Die Entwicklung der Industrienationen, auch die der Bundesrepublik Deutschland, ist in den letzten Jahren zielstrebig nach oben gegangen, und gleichzeitig ging es der sogenannten Dritten Welt ständig und zusehends schlechter.
Meine Damen und Herren, es haben sich nach dem Mauerdurchbruch in dieser Debatte erhebliche Veränderungen eingestellt, und zwar Veränderungen, die zum Teil auch als Erfolge der Opposition einzuklagen möglich sind. Wenn ich das Beispiel der Grenzfrage Polens anschaue, dann kann ich feststellen, daß die Formulierungen, die vom Bundespräsidenten und auch von der Bundestagspräsidentin gekommen sind, immer noch unterschiedlich zu denen sind, die wir vom Bundeskanzler hören können, weshalb die Frage nach wie vor nicht abschließend geklärt ist, wie die Bundesregierung zu dieser Problematik steht. Dennoch gibt es hier einen Erfolg der Opposition; aber davon eben viel zu wenige.
Klar ist auch geworden, daß Herr Kohl, abweichend von seinem Zehn-Punkte-Plan, inzwischen eindeutig, jedenfalls verbal, den Vorbehalt des europäischen Kontextes, in dem eine Wiedervereinigung stattfinden kann, akzeptiert. Nicht ganz klar ist, inwieweit das in der Fraktion tatsächlich mehrheitlich getragen wird, weil Herr Dregger und andere nicht unmaßgebliche Akteure aus der CDU/CSU nach wie vor eindeutig andere Formulierungen wählen und sehr offensiv dafür eintreten, daß die nationale Frage, noch bevor die europäische Vereinigung stattfindet, gelöst werden soll.
Herr Ehmke meinte, daß die Bundesregierung die SED nicht stärken solle, indem sie bereits jetzt Gespräche oder Verhandlungen mit ihr führt. Ich denke in der Tat, Herr Ehmke, daß das eine nicht haltbare Position ist.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie soll keine konstitutiven Akte machen!)

— Sie hatten gesagt: keine Gespräche führen. Man solle die SED nicht stärken. Das können wir gemeinsam gerne nachlesen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Nein! Ich habe nicht gesagt, daß sie keine Gespräche führen soll, sondern daß sie keine konstitutiven Akte machen soll!)

Ich finde es ebenfalls nicht klug, wenn Sie empfehlen, daß die Bürgerinitiativen — Sie hatten namentlich das Neue Forum genannt — vielleicht besser beraten seien, wenn sie außerhalb des Parlamentes blieben,



Wüppesahl
um von dort die Macht und die Regierung zu kontrollieren.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das können Sie nicht verstehen, weil Sie nicht zugehört haben!)

Nach den Erfahrungen, die wir mit unserem Parlamentarismus gemacht haben, wie mit Initiativbewegungen — ob Frauenbewegung, Anti-AKW-Bewegung oder Friedensbewegung — umgegangen worden ist, ist das, denke ich, kein besonders kluger Ratschlag.
Bevor Äußerungen von mir, die ich jetzt machen werde, falsch eingeordnet werden, sage ich ganz deutlich, daß ich persönlich für die Vereinigung bin, aber natürlich mit den bekannten Vorbehalten der Selbstbestimmung, einer entsprechenden Abstimmung in der DDR und der Bundesrepublik also, und des europäischen Kontextes.
Für notwendig halte ich es, anzuführen, daß der Anspruch, in der DDR sei eine Revolution vorgenommen worden und das sei ausschließlich der deutschen Bevölkerung dort zu verdanken, zu relativieren notwendig ist. Wir wissen, wie stark und fast alleine dieser Vorgang von dem Verhalten der Sowjetunion und den lockeren Zügeln, die Gorbatschow gehalten hat, abhängig gewesen ist.
Wir wissen gleichzeitig, daß es in der DDR Stimmungen z. B. gegenüber Polen gibt, die schon nahe an die Grenze des Rassismus kommen. Wir wissen auch, daß große Teile der DDR-Bevölkerung als ausgesprochen spießbürgerlich zu charakterisieren sind und in ihrer Grundeinstellung nationalistischer als die Bundesbürger sind. Von daher sind sämtliche Bestrebungen, auch die zur Vereinigung, in der Tat mehr als problematisch, wenngleich ich das grundsätzlich befürworte; aber erst später!
Ich verstehe in diesem Zusammenhang nicht, weshalb von seiten der GRÜNEN nach wie vor Begriffe wie „ökologische Konföderation" gewählt und damit Eiertänze vollzogen werden und auf Grund der inneren Meinungsbildung und den damit zusammenhängenden Problemen wahrscheinlich müssen. So ein Begriff ist in sich widersprüchlich und auch nicht konkret auszufüllen. Wie soll bei einer ökologischen Konföderation — wobei „Konföderation" staatsrechtlich eindeutig definiert ist — beispielsweise die wirtschaftspolitische Komponente ausgeprägt sein, um eine Ökologie betreiben zu können, die für die gesamte Natur tatsächlich verträglicher wäre? Ich denke, daß dort nach wie vor nicht ausreichend zu Ende gedacht wird, auch wenn der Kreis der Personen, die in Richtung Vereinigung denken und dies auch intern durch Meinungsäußerungen deutlich machen, wächst.
Selbst wenn man innerlich nicht hinter der Forderung steht, eine Vereinigung anzustreben, sollte man dies aber schon aus taktischen Gründen bejahen, um Einfluß nehmen zu können auf das, was zur Zeit ohne jede Einflußnahme der GRÜNEN, weitestgehend allerdings auch der SPD, stattfindet und eine große Eigendynamik hat.
Dies ist auch von den Supermächten, in Moskau und Washington, bereits vor dem Mauerdurchbruch gegenüber deutschen Gesprächspartnern so charakterisiert worden: Wenn die nationale Frage auf der Tagesordnung steht, dann wisse jeder, daß man das nicht verhindern könne. — Es wäre also schon aus taktischen Gründen, auch seitens der GRÜNEN-Fraktion oder -Partei — sofern wir außerhalb des Parlaments blicken — , notwendig, noch einen Schritt weiterzugehen und zu sagen: „Jawohl, wir bejahen diese Vereinigung! Jetzt gestalten wir die Prozesse aktiv mit! "
Solange das nicht erfolgt, wird man weiter sehr weit im Abseits stehen.
Die DDR-Flüchtlinge, die zur Zeit die Bundesrepublik erreichen, sind meines Erachtens — ich möchte da an die Ausführung von Herrn Lambsdorff anschließen, der gesagt hat, Herr Lafontaine würde eine Mauer der Unbarmherzigkeit aufrichten, wenn er administrativ verhindern wolle, daß Flüchtlinge aus der DDR weiter in die Bundesrepublik kommen könnten — nicht anders zu bezeichnen denn als Wirtschaftsflüchtlinge.
Die Zeiten, in denen sie aus politischen Gründen in die Bundesrepublik gekommen waren, sind vorbei. Wer behauptet, eine Mauer der Unbarmherzigkeit würde durch die Ausführung von Herrn Lafontaine errichtet werden, der sollte sich überlegen, wie er sich selbst gegenüber anderen Menschen verhalten hat, die tatsächlich auf Grund politischer Verfolgung Schutz in der Bundesrepublik gesucht haben. Ich denke an die Asylbewerber, ich denke an Flüchtlinge, abgeschoben aus der Bundesrepublik in türkische Folterkeller und Gefängnisse, die dem Anspruch einer humanen Menschenbehandlung Hohn sprechen.
Auf Grund dieser Tatsache — es ist, wenn man nüchtern analysiert, gar nicht anders zu charaktisieren, als daß es sich um Wirtschaftsflüchtlinge handelt, die eben keiner politischen Repression mehr unterliegen — ist es auch bitter notwendig, daß die Zusatzleistungen für DDR-Umsiedler und -Aussiedler abgebaut werden und daß unter Umständen sogar tatsächlich administrative, gesetzliche oder auf dem Verordnungsweg zu erlassende Vorgaben zu machen sind, die diesen Zustrom unterbrechen.
Nur aus ideologischen Gründen oder auf Grund der Ausführungen im Grundgesetz die Tür in dieser Weise weiter offenzuhalten, halte ich für völlig verfehlt und sowohl für die DDR wie für die Bundesrepublik sogar gefährlich.
Ich denke ferner, daß wir in den letzten dreieinhalb Stunden — da kann ich als parteiloses Mitglied im Deutschen Bundestag sicherlich unbefangen formulieren — nichts anderes erlebt haben als einen Wahlkampf, daß nicht mehr die zentrale Frage im Raum gestanden hat oder eine Diskussion im Vordergrund stand. Dieses Jahr 1990 hat vielmehr nur eine einzige Sicherheit für die Politik in Deutschland, und das ist die Unsicherheit. Es gibt vier Landtagswahlen, es gibt die DDR-Wahl Anfang Mai dieses Jahres. Landtagswahlen werden zum Teil auch auf das Ergebnis der DDR-Wahl reflektieren. In jedem Fall wird das Ergebnis der DDR-Wahl auf das Bundestagswahlergebnis einwirken. Deswegen ist auch dieser Übereifer der
14546 Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990
Wüppesahl
bundesdeutschen Parteien zu verstehen, weshalb sie sich in diesem Umfange in der DDR engagieren.
Ich möchte da nur einen ganz besonderen Aspekt kurz herausheben, und das ist die Tatsache, daß von bundesdeutschen Parteien ständig Geld, in Form von Sachgütern, aber auch bar, in die DDR gegeben wird, zu Tochterparteien oder wie immer man sie bezeichnen soll und zu anderen Organisationen. Ich möchte in Erinnerung rufen, daß es schon ausgesprochen problematisch ist, in welchem Umfange Parteien in der Bundesrepublik Gelder aus Steuertöpfen erhalten, und zwar zu ihrer Finanzierung hier, und nicht, um politische Positionen in anderen Staaten — das ist die DDR nach wie vor — noch auszubauen.
Abschließend möchte ich nur noch feststellen, daß anstatt der Vereinigung von DDR und BRD heute eigentlich Entmilitarisierung, ökologische Fragen und Menschenrechte in das Zentrum der Diskussion gehört hätten. Das floß immer nur nebenbei, untergründig oder aus taktischen Gründen angeführt in die Diskussion ein. Ich finde von daher, daß diese Diskussion, weil sie im wesentlichen bereits eine Wahlkampfschlacht gewesen ist, ausgesprochen verfehlt geführt worden ist.
Ich danke den wenigen verbliebenen Kollegen und Kolleginnen für die Aufmerksamkeit.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Vor so vielen Leuten hast du noch nie gesprochen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118810100
Das Wort hat der Abgeordnete Büchler. Er ist der letzte Redner in dieser Debatte.

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1118810200
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gern hätte ich auf diesen Beitrag verzichtet, aber man kann das nicht so stehenlassen, was Herr Rühe hier gesagt hat.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Sehr richtig!)

Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Ist er schon fort? — Wahrscheinlich hat er schon das Weite gesucht. Er hat gesagt, er sucht einen guten Abgang.
Ich hätte ihn gern angesprochen, denn er hat schon einmal nach einer so kurzen Intervention ein Märchen aufgebaut, das dann in der Bundesrepublik über Tage und Monate diskutiert worden ist.
Er hat heute davon gesprochen, daß sich das System in der DDR ändern muß. Sozialdemokraten ringen seit Jahrzehnten, daß sich kommunistische Systeme ändern, daß sie menschlicher werden, daß sie demokratisch werden. Da haben Sie uns auf Ihrer Seite. Nur muß man Herrn Rühe dann auch ganz deutlich sagen: Die Bevölkerung in der DDR hat dieses alte System beseitigt; das waren nicht die Kraftsprüche des Herrn Rühe, um das deutlich zu sagen.
Dann ist es natürlich mehr als peinlich, meine ich, wenn er versucht, hier auf Lafontaine herumzuhakken, und Herr Bötsch, wie gestern früh im Deutschlandfunk, natürlich die Positionen von Herrn Lafontaine übernimmt und auf die Feststellung und Frage, daß er nun nahe bei Lafontaine sei und was denn vorher gewesen sei, keine Antwort mehr wußte.

(Zustimmung des Abg. Dr. Vogel [SPD])

Dies ist eben unwürdig für die Deutschlandpolitik, wenn so wichtige Aufgaben vor uns stehen; dies eignet sich nicht für die kommende Bundestagswahlkampfschlacht, so möchte ich sagen. Deshalb bin ich dafür, daß wir wieder zu dem zurückkehren, was wir vor wenigen Monaten gemacht haben, als wir versucht haben, Herr Kollege Hoppe, aufeinander zuzugehen.

(Hoppe [FDP]: Das wird uns auch im nächsten Monat gelingen!)

Soll ich denn jetzt anfangen, nachdem uns unsere Beziehungen zur SED vorgeworfen worden sind, über Honecker zu sprechen, der hier mit allen Ehren empfangen worden ist, oder von dem „guten Freund", den Herr Strauß gehabt hat,

(Bohl [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht in der Sauna! Was soll das denn?)

oder von seinen Sonderrechten mit Überfluggenehmigung und deren Dinge mehr? Ist das etwas, was man dagegensetzen soll? So hat Herr Rühe hier argumentiert, primitiver, wie es nicht mehr geht, um das hier ganz deutlich zu sagen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118810300
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1118810400
Ich habe nur sechs Minuten Redezeit, aber Sie können eine Frage stellen.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1118810500
Es ist auch nur eine kurze Frage. Herr Kollege, würden Sie trotz Ihres fulminanten Anfangs gegebenenfalls dem Wort von Thomas Mann zustimmen, daß die Grundtorheit des 20. Jahrhunderts der Antikommunismus ist?

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1118810600
Ich habe das nicht so als Antikommunismus in dem Sinne interpretiert, aber ich habe gesagt: Wir als Sozialdemokraten stehen für Solidarität, für Gerechtigkeit und für Freiheit, und diese Grundwerte haben die Kommunisten eben nicht.

(Beifall bei SPD)

Ich war froh, daß Herr Bundesminister Seiters — natürlich ohne wesentlichen Inhalt — hier eine ruhige Erklärung abgegeben hat. Ich war dann natürlich enttäuscht, als Herr Lintner meinte, hier in der altbewährten Art und Weise Deutschlandpolitik machen zu müssen.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: „Altbewährte Weise" ist richtig!)

— Ich meinte das negativ.
Die Höhe des Schauspiels war dann, was Herr Blüm hier von sich gegeben hat.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das hat euch wehgetan!)

Im Grunde genommen hat Herr Hornhues dies alles wieder ein bißchen ins Lot gebracht. Er hat darauf aufmerksam gemacht, daß man Deutschlandpolitik nicht so machen kann, wie es Herr Lintner und Ihr Minister für die Sozialordnung probiert haben.



Büchler (Hof)

Mir ist klar, es geht darum, weil bei Ihnen eine große Unsicherheit über die weitere Entwicklung vorhanden ist. Sie sind doch diejenigen, die im Grunde genommen nach einem Partner in der DDR suchen müssen. Sie haben die Schwierigkeiten, sich mit der Politik in der DDR zu identifizieren. Diese Schwierigkeiten haben wir nicht, denn wir haben unseren Partner und machen zusammen mit den Sozialdemokraten, so glaube ich, konstruktive Politik auch für die Menschen in der DDR.
Wir sind sehr optimistisch, weil wir wissen, daß die Menschen in der DDR und in Osteuropa soziale Demokratie wollen. Sie kämpfen für demokratische Mitbestimmung, Menschenrechte, für einen Staat mit großer Vielfalt, wie er bei uns vorhanden ist, und natürlich für soziale Sicherheiten. Da sollte sich eben niemand Illusionen machen. Das wollte ich auch dem Herrn Rühe sagen. Jeder soll sich klarmachen: In der DDR will keiner, Herr Blüm, einen Staat, wie Sie ihn gerade im sozialen Bereich ausstatten, nämlich mit Abbau der sozialen Sicherheit.

(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Und Lafontaine?)

Dort will keiner einen Staat haben, wo sich die wirtschaftliche Macht so konzentriert, wie es jetzt unter dieser Regierung stattfindet.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Es gibt noch viel Arbeit in der DDR für soziale Sicherheit!)

Dort will keiner einen Staat haben, der mehr oder weniger eine — so möchte ich sagen — Ellbogengesellschaft geworden ist, seit Sie in der Bundesrepublik Deutschland regieren. Anders gesagt: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität sind die Ziele aller demokratischen Bewegungen in der DDR, nicht nur der Sozialdemokraten. Das ist genau das, was wir in unserem Programm verankert, in unserem Grundsatzprogramm niedergelegt haben.
Sie, die DDR-Bürger, wollen ferner ein faires Verhältnis der Staaten untereinander, der Völker miteinander. Sie wollen in Sicherheit leben. Sie wollen keine Konflikte und kein Wettrüsten, wie es bei uns über Jahre und Jahrzehnte gang und gäbe war. Sie wollen einen friedlichen Wettstreit. Und sie wollen menschenwürdiges Leben erreichen. Denn sie haben ja die andere Seite jahrelang erfahren.
Dies alles — das muß ich sagen — entspricht unseren Prinzipien. Wenn man die Bilanz zieht, muß man sagen: Nicht das, was jetzt in der Bundesrepublik vorhanden ist, ist ihr Modell, sondern das, was wir uns als politische Grundwerte vorstellen.
Wir haben natürlich die Situation — auch das zeigt ja, wie die Entwicklung insgesamt ist —, daß für Sie kein konservativer Partner in der DDR zur Verfügung steht. Sie wissen, warum das so ist: eben weil sich niemand nach Ihren Werten, wie Sie sich das hier vorstellen, sehnt.
Deshalb meine ich: Es ist zwar richtig, daß zu dem sozialdemokratischen Partner auch ein konservativer Partner in der DDR gesucht werden muß. Ich wünsche Ihnen wirklich sehr viel Glück, daß Sie jemanden finden, der Ihre Meinung verkörpert. Aber Sie haben einen weiten Weg zu gehen.
Das ist Ihre ganze Unsicherheit in dieser Debatte gewesen: die Unsicherheit, den Anschluß verloren zu haben und genau zu wissen, daß Sie keinen Einfluß auf die Entwicklung haben können, wenn es nach den Grundprinzipien vonstatten gehen soll, wie sich die Reformgruppen ihre Gesellschaft vorstellen. Das ist der Hintergrund dieser fürchterlichen Attacken des Bundesministers Dr. Blüm und zum Schluß des Generalsekretärs Rühe gewesen, der sich bei solchen Gelegenheiten ja immer besonders hervortut.

(Bohl [CDU/CSU]: Der eine gute Rede gehalten hat!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118810700
Herr Abgeordneter!

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1118810800
Ich habe Ihnen wiederholt gesagt, daß Sie im handwerklichen Bereich in der Deutschlandpolitik Fehler über Fehler gemacht haben.
Mir bleibt, weil ich keine Redezeit mehr habe, nur übrig, zu sagen: Suchen Sie näher die Kooperation mit uns! Kehren wir zur Zusammenarbeit zurück, damit diese Fehler 1990 nicht wieder gemacht werden! Wir stehen in einem entscheidenden Jahr für beide Republiken, und vor allem in der DDR wird entschieden, ob der Weg zur Einheit beschritten wird oder ob der Wunsch der DDR-Bürger anders ist.
Aber eines muß klar sein:

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118810900
Herr Abgeordneter!

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1118811000
Wir brauchen Geschlossenheit, wir brauchen eine Konzeption, damit wir möglichst den Bürgern in der DDR viel helfen können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118811100
Ich schließe die Aussprache.
Durch den Bericht des Bundesministers Seiters hat der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6214, der einen solchen Bericht forderte, seine Erledigung gefunden.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 11/6231, 11/6236, 11/6237 und 11/6250 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/6242, 11/6243 und 11/6244 sollen an den Verteidigungsausschuß, der Antrag auf Drucksache 11/6249 soll an den Innenausschuß überwiesen werden.
Außerdem soll die Vorlage auf Drucksache 11/6236 zur Mitberatung auch an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen werden.
Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 der Tagesordnung auf:



Vizepräsident Westphal
4. Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
— Drucksache 11/6174 —
Überweisungsvorschlag : Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
ZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats
— Drucksache 11/6241 —
Überweisungsvorschlag : Auswärtiger Ausschuß
ZP3 Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" Wirtschaftsjahr 1988
— Drucksache 11/6186 —
Üb erweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren und ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Halbjahresbericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über den zeitlichen Ablauf der Verwendung der Tranchen des neuen Gemeinschaftsinstruments (NGI) 1. Juli 1987 bis 31. Dezember 1987
— Drucksachen 11/3021 Nr. 2.2, 11/5202 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Grünewald
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Halbjahresbericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über den zeitlichen Ablauf der Verwendung der Tranchen des neuen Gemeinschaftsinstruments (NGI) 1. Januar 1988 bis 30. Juni 1988
— Drucksachen 11/4758 Nr. 2.2, 11/5534 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Grünewald
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

Übersicht 15 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 11/6013 —
Berichterstatter: Abgeordneter Helmrich
Es handelt sich um die Beratung von Vorlagen ohne Aussprache, über die abgestimmt werden muß.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Finanzausschusses zu Vorlagen der Europäischen Gemeinschaft auf den Drucksachen 11/5202 und 11/5534.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann stelle ich Einstimmigkeit fest. Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu den dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht ab. Das ist die Übersicht 15, Drucksache 11/6013.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/6220 —
Ich kann zunächst feststellen, daß die Geschäftsbereiche des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes sowie des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit nicht aufgerufen zu werden brauchen, weil alle Fragen — Frage 7 der Frau Abgeordneten Schulte (Hameln), Fragen 20 und 21 des Herrn Abgeordneten von Schmude, Frage 22 des Herrn Abgeordneten Kuhlwein und Fragen 23 und 24 des Herrn Abgeordneten Kiehm — schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Der Herr Staatssekretär Dr. Knittel ist bei uns.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Seidenthal auf:
Wie verläuft die Trassenführung der Eisenbahnschnellverbindung Berlin—Hannover über Stendal, an der nach der Bestätigung durch Bundeskanzler Kohl und den Ministerpräsidenten der DDR, Modrow, anläßlich des Arbeitstreffens in Dresden am 19. und 20. Dezember 1989 festgehalten wird, auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, und werden die Städte Wolfsburg und Braunschweig direkt angeschlossen?
Bitte, Herr Staatssekretär.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118811200
Herr Abgeordneter Seidenthal, Grundlage der Entscheidung der Bundesregierung, Verhandlungen mit der DDR über die Schnellbahn Han-



Staatssekretär Dr. Knittel
nover—Berlin aufzunehmen, war der mit dem Land Niedersachsen abgestimmte Trassenverlauf von Hannover über Braunschweig und Oebisfelde. Zwischenzeitlich hat das Land Niedersachsen mit der Deutschen Bundesbahn eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die verschiedene Trassenführungen in Niedersachsen untersuchen und bewerten soll. Diese Arbeiten sollen bald abgeschlossen werden. Die Ergebnisse werden geprüft und im Lichte der seit November 1989 gegebenen neuen Situation zu würdigen sein.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118811300
Zusatzfrage, Herr Seidenthal.

Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1118811400
Herr Staatssekretär, nach Informationen des Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen soll dieser Vorschlag schon jetzt vorliegen. Können Sie sich im Hinblick auf den Termin etwas konkretisieren?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Beim Bund liegt der Vorschlag nicht vor. Es mag sein, daß innerhalb Niedersachsens schon Vorschläge erörtert werden. Es war uns von Niedersachsen zunächst gesagt worden, daß die Ergebnisse der landesinternen Arbeitsgruppe Ende Oktober vorliegen würden. Die neueste Auskunft ist, daß wir Ende Januar damit rechnen können.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118811500
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Seidenthal.

Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1118811600
Herr Staatssekretär, bis wann muß ein Raumordnungsverfahren für diesen genannten Streckenabschnitt auf dem Gebiet der Bundesrepublik abgeschlossen sein bzw. welche Zeitvorstellung hat die Bundesregierung? Denn es kann ja passieren — nach dem, was in der Presse stand — , daß der Abschnitt in der DDR eher fertig wird.
Dr. Knittel, Staatssekretär: Ich kann Ihnen für die einzelnen Streckenabschnitte jetzt nicht die genauen Zeitplanungen mit allen verwaltungsrechtlichen Verfahren nennen. Ich kann Ihnen dazu gern ergänzend schriftlich Nachricht geben. Ich kann nur sagen, daß wir realistischerweise davon ausgehen müssen, daß der Neubau der Schnellbahnstrecke auf dem Gebiet der DDR erst bis 1998 abgeschlossen sein wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118811700
Herr Kühbacher, Sie wollen eine Zusatzfrage stellen.

Klaus-Dieter Kühbacher (SPD):
Rede ID: ID1118811800
Herr Staatssekretär, wenn der von Ihnen ins Auge gefaßte Zeitrahmen zutrifft: Soll dann die Intensität der Verkehrsverbindungen zwischen Hannover, Braunschweig, Magdeburg und Berlin durch mehr Zuglaufpaare erhöht werden?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Ich kann dazu sagen, daß Bundesbahn und Reichsbahn ständig im Gespräch sind und ihre Betriebsprogramme auf den Bedarf abstimmen. Wir haben regelmäßige Kontakte darüber. Darüber wird auch in der Verkehrskommission gesprochen, die in regelmäßigen Abständen mit der DDR tagen wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118811900
Ich rufe die Frage 26 des Abgeordneten Seidenthal auf:
Da auf Grund der deutsch-deutschen Entwicklung es für die Deutsche Bundesbahn und die Reichsbahn der DDR sehr wichtig wäre, daß Elektrifizierungslücken geschlossen werden, frage ich die Bundesregierung, ob die Strecke Braunschweig—Helmstedt—Magdeburg ausgebaut und Helmstedt Haltepunkt auf dieser zukünftig leistungsfähigen Bahnverbindung sein wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Knittel, Staatssekretär: Die Frage der Elektrifizierung, Herr Kollege Seidenthal, wird im Rahmen der Kommission Verkehrswege mit der DDR zu erörtern sein.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812000
Zusatzfrage, bitte schön.

Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1118812100
Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen — obwohl ich anmerken möchte, daß ich mit Ihrer Antwort nicht zufrieden bin — , daß auf der genannten Strecke auch in Zukunft neue Zugtypen fahren werden, z. B. der Interregio, und bestehen seitens der Bundesregierung Vorstellungen, in Braunschweig endende Interregio-Linien bis Magdeburg weiterzuführen oder bis Berlin durchzuführen?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich glaube, es ist im Moment zu früh, über verschiedene denkbare Änderungen und Erweiterungen des Interregio-Konzepts zu sprechen. Solche Planungen brauchen eine gewisse Zeit. Die Bundesbahn hat ihr Interregio-Konzept auf der bisherigen Sachlage aufgebaut. Wir sind aber natürlich dabei, zu überlegen, ob und wo Erweiterungen gerade unter diesem Gesichtspunkt stattfinden können.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812200
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Seidenthal.

Bodo Seidenthal (SPD):
Rede ID: ID1118812300
Herr Staatssekretär, wenn diese neuen Zugtypen kommen werden: Was wird die Bundesregierung tun, um die Abfertigungszeiten auf dieser Strecke im Fernverkehr und im grenznahen Bereich zu senken?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Wir sind mit der DDR im Gespräch, um alle Möglichkeiten zur Senkung der Abfertigungszeit auszuschöpfen. Das betrifft insbesondere die Grenzaufenthalte. Hier ist von der DDR eine gewisse Verbesserung schon zugesagt worden. Sie meint, auf etwa 25 Minuten heruntergehen zu können. Wir hoffen, daß wir in der Zukunft die Abfertigung in den Zügen noch verstärken können. Wir hoffen, daß, wo es sich von der Technik her ergibt, das Durchfahren des Personals der DDR in das Bundesgebiet hinein möglich ist und daß damit da und dort ein Zugwechsel vermieden werden kann.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812400
Herr Kühbacher, Sie wollten noch eine Zusatzfrage stellen, bitte.

Klaus-Dieter Kühbacher (SPD):
Rede ID: ID1118812500
Herr Staatssekretär, da Sie wissen, daß die eigentlichen Aufenthaltszeiten durch den Lokwechsel in Helmstedt oder in Oebisfelde bedingt sind: Was wird die Bundesregierung unternehmen, um den Lokwechsel, der diese 25 Minuten bedingt, auszuschalten?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, hier sind wir sehr konkret in Verhandlungen mit der DDR.



Staatssekretär Dr. Knittel
Ich darf sagen, daß in der zeitlichen Gesamtbewertung der Lokwechsel mit sechs Minuten veranschlagt wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812600
Wir kommen zur Frage 27 des Abgeordneten Amling:
Sind der Bundesregierung Pläne der Deutschen Bundesbahn bekannt, denen zufolge zukünftig nicht jeder über Augsburg und Ulm fahrende IC-Zug in diesen Städten halten soll?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Knittel, Staatssekretär: Die Deutsche Bundesbahn, Herr Abgeordneter Amling, beabsichtigt, ab Sommer 1991 die über Ulm verkehrende Zahl von IC/ ICE-Linien von 1 auf 2 zu verdoppeln. Alle Züge der beiden Linien werden in Ulm halten. Über Augsburg sollen weiterhin unverändert drei IC/ICE-Linien verkehren. Alle Züge dieser drei Linien werden dort halten. Zusätzlich plant die Bundesbahn den Einsatz von sogenannten Sprinterzügen. Sie sollen Punktverbindungen zwischen aufkommensstarken Wirtschaftsräumen, z. B. München und Rhein/Main, in attraktiven Zeitlagen schaffen und beeinflussen nach Einschätzung der Deutschen Bundesbahn das IC/ICEAngebot von Ulm und Augsburg nicht negativ.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812700
Zusatzfrage, Herr Amling.

Max Amling (SPD):
Rede ID: ID1118812800
Herr Staatssekretär, wie groß ist die Zeitersparnis, die sich ergibt, wenn diese sogenannten Sprinterzüge nicht in Augsburg und auch nicht in Ulm halten?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Ich muß sagen, daß das Betriebskonzept von der Bundesbahn gegenwärtig noch erarbeitet wird. Es steht auch noch gar nicht fest, ob die Sprinterzüge, die ja außerhalb der Taktzeiten liegen, zusätzlich gefahren werden, auf welcher Strecke und Trasse sie gefahren werden. Deswegen kann ich Ihnen den genauen Zeitgewinn dieser Sprinterzüge im Moment auch nicht konkret nennen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118812900
Herr Staatssekretär, Sprinter-züge?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Sprinter!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813000
Mit Spikes — oder so?

(Heiterkeit)

Dr. Knittel, Staatssekretär: Dies ist der Ausdruck, der von der Bundesbahn im Rahmen ihrer unternehmerischen Eigenverantwortlichkeit dafür gefunden worden ist, Herr Präsident.

(Amling [SPD]: Die Sprinterzüge haben jedenfalls nichts mit Olympia zu tun!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813100
Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Amling.

Max Amling (SPD):
Rede ID: ID1118813200
Herr Staatssekretär, können auf der bereits heute mehr als stark belasteten Strecke München—Augsburg — ohne den wünschenswerten Ausbau des Nahverkehrs und des Gütertransportes zu gefährden — nach Auffassung der Bundesregierung überhaupt noch zusätzlich sogenannte Sprinterzüge eingesetzt werden, oder ist davon auszugehen, daß sich die Bundesregierung jetzt vordringlich dem weiteren Ausbau, dem intensiven Ausbau der Strecke München—Augsburg widmen will und dieser Ausbau vorangetrieben wird?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, über die Frage der Belastbarkeit der Strecke München—Augsburg gehen die Meinungen etwas auseinander. Die Bundesbahn hat deswegen eine zusätzliche Begutachtung dafür in Auftrag gegeben. Hinsichtlich der Sprinterzüge erwähnte ich ja auch aus diesem Grunde schon, daß die Bundesbahn nicht ausschließen kann, daß sie die Sprinterzüge auf die in der Tat etwas langsamere Verbindung über Würzburg leiten muß — aus den Kapazitätsgründen, die Sie angesprochen haben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813300
Herr Höpfinger, eine Zusatzfrage? — Bitte schön.

Stefan Höpfinger (CSU):
Rede ID: ID1118813400
Herr Staatssekretär, was wird die Bundesregierung unternehmen, um die Zusage einzuhalten, die im Schreiben Ihres Hauses vom 6. Dezember 1989 enthalten ist und zum Ausdruck bringt, daß die Gesamtheit der Neu- und Ausbauvorhaben im Schienennetz sowie die Neuorganisation des Fernverkehrs der Deutschen Bundesbahn den Städten Augsburg und Ulm zugute kommen werden?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Höpfinger, in dem von Ihnen zitierten Schreiben vom 6. Dezember 1989 hat Herr Minister Dr. Zimmermann seiner Zuversicht Ausdruck verliehen, daß die von der Deutschen Bundesbahn geplanten Maßnahmen zum Sommerfahrplan 1991 dem Allgäu und der Fremdenverkehrswirtschaft sowie den Städten Ulm und Augsburg zugute kommen werden.
In diesem Schreiben ist der Stand der aktuellen Verkehrsplanungen dargestellt. Grundlage sind eben die Neu- und Ausbaumaßnahmen und die geplante Neuorganisation im Fernverkehr. Es ist danach festzuhalten, daß sich also die Zahl der über Ulm geführten ICLinien und damit auch die Zahl der Zughalte in Ulm verdoppelt, von eins auf zwei, daß die Zunahme der Bedienungshäufigkeit für den schwäbisch-bayerischen Raum dadurch nun rund 25 % beträgt. Und erwähnen möchte ich auch die Reisezeitverkürzungen aus dem Raum Ulm/Augsburg ins Ruhrgebiet um ca. 30 Minuten, aus dem Raum Ulm/Augsburg nach Norddeutschland um rund eine Stunde und aus dem Allgäu nach Norddeutschland um rund zwei Stunden.
Herr Abgeordneter Höpfinger, ich bin der Meinung, daß dies eine deutliche Qualitätsverbesserung im Schienenverkehr der Bundesbahn für diesen Raum sein wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813500
Jetzt kommt erst einmal die Frage 28 des Abgeordneten Amling:
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß dieses Vorhaben zumindest ein erster Schritt der Abkoppelung des gesamten schwäbisch-bayerischen Wirtschaftsraumes von der nicht nur für die ökonomische Entwicklung dieser Region wichtigen Süd-Nord-Bahnverbindung darstellen würde?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.



Dr. Knittel, Staatssekretär: Die Frage kann ich mit Nein beantworten. Mit der Neuordnung der IC/ICELinien zum Sommer 1991 wird sich die Zahl der IC/ ICE-Zughalte im schwäbisch-bayerischen Wirtschaftsraum gegenüber heute um ein Viertel erhöhen, wie ich soeben schon andeutete.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813600
Zusatzfrage, Herr Amling.

Max Amling (SPD):
Rede ID: ID1118813700
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß nach dieser Ankündigung der Deutschen Bundesbahn im bayerisch-schwäbischen Wirtschaftsraum, also in den Wirtschaftsräumen Ulm und Augsburg, bei den Kommunalpolitikern und bei den Wirtschaftsleuten sehr große Unruhe entstanden ist, und kann die Bundesregierung nachvollziehen, daß nach Bekanntgeben dieser Überlegungen nicht nur der Augsburger Bürgermeister Arthur Fergg, sondern auch viele andere der Meinung sind, daß Bahnhöfe und Fahrgäste der Deutschen Bundesbahn anscheinend gleich sind?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Nein, Herr Abgeordneter, dem muß ich ausdrücklich widersprechen. Es ist ja so, daß hier keine Zughalte eingespart werden und daß, wie ich ausgeführt habe, die Bedienung des Raumes nachweisbar auch in den Fahrzeiten sehr stark verbessert wird. Ich möchte hinzufügen, daß die Bundesbahn diese schon erwähnten „Sprinterzüge" z. B. zwischen München und dem Rhein-Main-Gebiet ja deshalb ohne Halt einführt, weil sie sich davon die Erschließung neuer Fahrgastpotentiale erhofft, nämlich von Gästen, die sonst bisher das Flugzeug benutzt haben.
Ich kann darin keine Benachteiligung eines Raumes sehen.

(Amling [SPD]: Wir werden sehen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118813800
Sie wollten noch einmal fragen. Bitte schön, Herr Höpfinger.

Stefan Höpfinger (CSU):
Rede ID: ID1118813900
Herr Staatssekretär, entspricht es nicht einer Geringschätzung eines Wirtschaftsraumes, wenn sogenannte Sprinterzüge den Hauptbahnhof dieses Wirtschaftsraumes mit ca. 500 000 Einwohnern ohne Halt durchfahren?
Dr. Knittel, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Antwort ist eindeutig nein. Ich muß darauf hinweisen, daß wir auch sonst im künftigen Hochgeschwindigkeitsnetz, dem ICE, auf anderen Trassen wie auch im Ausland — etwa in Frankreich oder in Japan — Züge haben, die je nach der Bedarfshäufigkeit an sämtlichen Bahnhöfen vorbeifahren oder nur an einzelnen Punkten der Strecke halten. Ich möchte, um hier die Relation deutlich zu machen, hinzufügen, daß bei der Bundesbahn auch überlegt wird, ob man aus Gründen der Erschließung dieser bisherigen Fluggäste für den Verkehr zwischen München und dem Rhein-Main-Gebiet mit einzelnen „Sprinterzügen" nicht sogar am Hauptbahnhof Stuttgart vorbeifährt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814000
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gröbl steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg) auf, der aber nicht im Raum ist. Dann wird diese Frage ebenso wie die Frage 30 entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Dann rufe ich die Frage 31 der Frau Abgeordneten Wollny auf:
Über welche Anlagen erbringen im einzelnen die bundesdeutschen Atomkraftwerke ihren Entsorgungsvorsorgenachweis, die diesen bisher über die geplante WAA Wackersdorf erbrachten, nachdem die DWK ihren Genehmigungsantrag zum Bau der Wackersdorfer Anlage zurückgezogen hat, und welche rechtsverbindliche Gültigkeit haben unter diesen Bedingungen die sogenannten Entsorgungsgrundsätze noch?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Wolfgang Gröbl (CSU):
Rede ID: ID1118814100
Herr Präsident! Frau Kollegin! Die Bundesregierung läßt sich regelmäßig — einmal jährlich — von den zuständigen atomrechtlichen Länderbehörden über den gemäß den Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für jedes Kernkraftwerk für sechs Jahre im voraus zu führenden Entsorgungsvorsorgenachweis berichten. Die Ergebnisse der Länderumfrage für den Zeitraum zum Stichtag 31. Dezember 1989 liegen der Bundesregierung derzeit noch nicht vor.
Nach Kenntnis der Bundesregierung aus der vorherigen Länderumfrage zum Entsorgungsvorsorgenachweis sind jedoch durch die Rücknahme des Genehmigungsantrags für die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf keine Entsorgungsengpässe erkennbar, da durch kraftwerksinterne und -externe Zwischenlagerkapazitäten sowie durch Wiederaufarbeitungsverträge mit Cogema und BNFL der Entsorgungsvorsorgenachweis über die geforderten sechs Jahre hinaus erbracht werden kann.
Die Beendigung des Genehmigungsverfahrens für die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf berührt die Fortgeltung der Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke nicht.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814200
Frau Wollny, eine Zusatzfrage. Bitte schön!

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118814300
Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, daß acht Kraftwerke Wackersdorf als Entsorgungsnachweis in ihren Genehmigungen hatten. Wollen Sie mit Ihrer Antwort zum Ausdruck bringen, daß solche Aussagen im Grunde genommen völlig überflüssig sind, daß es keinerlei Beschränkungen gibt, wenn dieser Entsorgungsnachweis jetzt plötzlich wegfällt?
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Entscheidend für uns ist, ob die einzelnen Kernkraftwerke den Entsorgungsvorsorgenachweis erbringen können oder nicht. Der Nachweis wird über diese Umfrage geliefert.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Vor einem Jahr!)





Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814400
Weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Wollny.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118814500
Sie sagen, die Entsorgungsgrundsätze seien durch den Wegfall von Wackersdorf nicht beeinträchtigt. Nun ist aber einer der wichtigen Punkte seit 1985, Fortschritte bei einer bundesdeutschen Wiederaufarbeitungsanlage zu schaffen. Wenn dieser Punkt aus den Entsorgungsgrundsätzen wegfällt, ändert das auch nichts an den bisher rechtsverbindlichen Grundsätzen?
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Ministerpräsidenten haben sich in ihrer Ministerpräsidentenkonferenz am 25./26. Oktober letzten Jahres darauf geeinigt, daß sie alle miteinander die Entsorgungsgrundsätze weiterhin für verbindlich erachten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814600
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Weiss. Bitte schön.

Michael Weiss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118814700
Herr Staatssekretär, wenn Sie so großen Wert auf die Formblätter legen, die die Industrie ausfüllen muß, um dem Bundesumweltminister über Fortschritte bei der Entsorgungsvorsorge zu berichten, dann muß ich Sie fragen: Was für einen Wert haben diese Formblätter überhaupt für Sie, wenn — wie gerade jetzt bei der Umfrage bekannt wurde, auf die Sie sich stützen — die Firma DWK mit Wissen des bayerischen Umweltministeriums als Genehmigungsbehörde an alle Atomkraftwerksbetreiber geschrieben und gesagt hat: Wir erhalten nur dann eine Sofortvollziehbarkeit für die zweite Teilgenehmigung von Wackersdorf, wenn möglichst viele Atomkraftwerke Wackersdorf in ihren Entsorgungsvorsorgenachweis einbeziehen? Wie bewerten Sie so ein Verhalten? Was sind all die Formblätter noch wert, wenn sie auf Grund eines solchen Schreibens möglicherweise manipuliert werden?

(Hört! Hört! bei den GRÜNEN)

Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Formblätter dienen der Information und der Übersicht. Wir haben keinen Anlaß, den Wahrheitsgehalt dieser Formblätter anzuzweifeln.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das sollten Sie aber einmal tun!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814800
Ich rufe die Frage 32 der Abgeordneten Frau Wollny auf:
Welche Punkte sind bei den Verhandlungen im Staatssekretärausschuß auf Bund-Länder-Ebene, der zur Neuformulierung der Entsorgungsgrundsätze eingerichtet wurde, strittig, und wie ist der konkrete Verhandlungsstand in diesem Staatssekretärausschuß bezüglich der Auslegung der Planfeststellungsunterlagen zum geplanten atomaren Endlager „Schacht Konrad"?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Der Arbeitskreis auf Staatssekretärsebene wurde beauftragt, den Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern zur Entsorgung der Kernkraftwerke vom 28. September 1979 zu überprüfen und Vorschläge zu einer Fortentwicklung zu erarbeiten. Der Arbeitskreis soll bis Mitte des Jahres 1990 einen ersten Bericht vorlegen, in dem der derzeitige Sachstand zu den einzelnen Aspekten der Entsorgung dargestellt wird. Zuvor soll die gemeinsame Haltung zur Errichtung eines Endlagern für schwach- und mittelradioaktiven Abfall festgelegt werden.
Der Arbeitskreis auf Staatssekretärsebene hat am 21. Dezember 1989 erstmals getagt und zunächst die grundsätzliche Vorgehensweise erörtert. Zur Vorbereitung der nächsten Sitzung, die Mitte Februar 1990 stattfinden soll, wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, an der neben dem Bund die Länder Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein beteiligt sind.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118814900
Zusatzfrage, Frau Wollny.

Lieselotte Wollny (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118815000
Eigentlich ist das keine Zusatzfrage, da es Bestandteil der Frage ist. Da steht: Wie ist in diesen Besprechungen der Verhandlungsstand bezüglich der Auslegung der Planfeststellungsunterlagen für den „Schacht Konrad"? Das ist, wie Herr Hohlefelder uns kürzlich in Gorleben gesagt hat, einer der wichtigen Beratungspunkte. Folglich müßte dazu etwas zu sagen sein.
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Dieser Staatssekretärsausschuß äußert sich nicht zu einzelnen Festlegungen des Planfeststellungsverfahrens. Das Planfeststellungsverfahren wird vom Land Niedersachsen nach Recht und Gesetz durchgeführt. Es geht im Staatssekretärsausschuß um die Formulierung einer gemeinsamen Haltung zu „Konrad" insgesamt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118815100
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Wollny? — Sie geben es auf. Das ist Ihr Recht.

(Heiterkeit bei den GRÜNEN)

Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Schreiner auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des für die Umwelt zuständigen EG-Kommissars Carlo Ripa di Meana, die gemeinsame lothringisch-saarländische Kandidatur für die beabsichtigte EG-Umweltagentur „entspreche dem europäischen Geist" und „sei weit davon entfernt, chancenlos zu sein" („Saarbrücker Zeitung" vom 12. Januar 1990)?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
GrÖbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich auf der Basis der Standortvorschläge aus den Bundesländern mit Beschluß vom 14. September 1989 für Berlin als deutsche Bewerbung um den Standort der Europäischen Umweltagentur entschieden. Ein Vorschlag mit der Bewerbung Saarland/Lothringen befand sich nicht unter den genannten Ländervorschlägen und liegt der Bundesregierung auch bis heute nicht vor.
Der Europäische Rat hat am 8. und 9. Dezember 1989 in Straßburg beschlossen, daß der Rat „Allgemeine Angelegenheiten" kurzfristig eine Entscheidung über den Sitz der Agentur treffen soll.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118815200
Herr Schreiner, eine Zusatzfrage. Bitte schön!

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1118815300
Herr Staatssekretär, wäre denn die Bundesregierung bereit, einen Standort Lothringen/ Saarland in dem Fall zu akzeptieren, wenn sich die Mehrheit innerhalb der EG-Kommission oder inner-



Schreiner
halb des Ministerrates für diesen Standort aussprechen würde?
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich bisher immer an Mehrheitsbeschlüsse bzw. an gültige Beschlüsse der EG-Kommission gehalten.

(Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Weshalb ist sie denn gerade verklagt worden?)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118815400
Noch eine Zusatzfrage, bitte.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1118815500
Wäre denn die Bundesregierung bereit, die erkennbare Tendenz innerhalb der EG-Kommission, den Standort Lothringen/Saarland zu favorisieren, wie es sich jetzt herauszuschälen beginnt, mitzutragen und aktiv zu fördern?
Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich muß noch einmal wiederholen, Herr Kollege: Der Bundesregierung liegt ein Vorschlag des Saarlandes zu dem Standort Saarland/Lothringen nicht vor. Über nicht vorliegende Vorschläge kann die Bundesregierung auch nicht befinden und diese auch nicht unterstützen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118815600
Das war der Schluß dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Post- und Telekommunikation auf. Die Fragen 34 und 35 des Abgeordneten Dr. Diederich (Berlin) sowie die Frage 36 des Abgeordneten Kuhlwein sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Echternach ist anwesend und soll antworten. — Aber der Fragesteller, Herr Menzel, ist nicht da. Die Frage 37 wird dann entsprechend der Geschäftsordnung behandelt.
Die Fragen 38 und 39 des Abgeordneten Müntefering sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. — Herr Staatssekretär, es tut mir leid, daß Sie warten mußten.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Die Fragen 40 und 41 der Abgeordneten Frau Rönsch (Wiesbaden) sowie die Fragen 42 und 43 der Abgeordneten Frau Männle sollen auf Wunsch der Fragestellerinnen ebenfalls schriftlich beantworet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Frau Staatsminister Dr. Adam-Schwaetzer ist zur Beantwortung der Fragen anwesend.
Ich rufe die Frage 44 des Abgeordneten Reuter auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß sich der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Republik Irland als „Gutachter" für die Ausweisung von Mülldeponien im Main-KinzigKreis betätigt?
Bitte schön, Frau Staatsminister.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1118815700
Herr Abgeordneter, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Der von Ihnen Angesprochene hat in dem zitierten persönlichen Brief, der nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und der an einen anderen Abgeordneten des Main-Kinzig-Kreises gerichtet war, seine Meinung zu einer Frage geäußert, durch die er persönlich betroffen ist, da er dort ein bebautes Grundstück besitzt. Er hat dabei nicht „politisch" argumentiert, sondern zu Sachproblemen temperamentvoll Stellung genommen. Eine Einmischung in eine politische Auseinandersetzung ist von seiner Seite somit nicht gegeben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118815800
Zusatzfrage, Herr Reuter.

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1118815900
Ich habe eine Verständnisfrage, die mir bitte nicht anzurechnen ist: War das die Antwort auf beide Fragen oder auf eine Frage?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Das war die Antwort auf die Frage 44, so wie sie aufgerufen war.

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1118816000
Frau Staatsminister, Sie sagen, daß der Botschafter einem Abgeordneten des Main-Kinzig-Kreises eine private Angelegenheit vorgetragen habe. Ist es denn üblich, daß Botschafter für private Angelegenheiten Briefköpfe mit der Formulierung „Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Dublin" verwenden und dann unterschreiben?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Botschafter hat geglaubt, gegenüber einem Abgeordneten des Hessischen Landtages seine Identität nicht verschweigen zu sollen.

(Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN)

Der private Charakter seiner Stellungnahme ist aus dem gesamten Inhalt des Briefes deutlich erkennbar.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118816100
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1118816200
Dann wollte ich noch gerne wissen, Frau Staatsministerin: Ist Ihnen bei der Durcharbeitung in Ihrem Hause nicht aufgefallen, daß der Herr Botschafter in dem von Ihnen als privat deklarierten Brief auch schreibt:
Beiliegend finden Sie eine etwas elegische Betrachtung aus meiner Feder, die die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" im März dieses Jahres veröffentlicht hat und die justament genau den gleichen Sachverhalt zum Inhalt hatte.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, auch Mitarbeiter des auswärtigen Dienstes sind selbstverständlich als Staatsbürger berechtigt und haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, sowohl in Briefen an Abgeordnete oder Landräte — falls er auch Ihnen geschrieben haben sollte — als auch in Zeitungen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118816300
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski, bitte schön.




Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1118816400
Frau Staatsminister, vertreten Sie wirklich die Auffassung, daß man seine Identität nur dann kundtun kann, wenn man dazu den öffentlichen Briefkopf, der im Grunde genommen doch teilweise für eine Institution steht, verwendet?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, es gibt viele Möglichkeiten, seine Identität deutlich zu machen. Der von Ihnen Angesprochene hat den von Ihnen angemerkten Weg dazu benutzt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118816500
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Reuter auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Verhalten eines Berufsdiplomaten, der in einem Schreiben vom 14. November 1988, das dem Bundesminister des Auswärtigen vorliegen muß, sich in eine politische Auseinandersetzung in seinem Heimatkreis einmischt und sich völlig undiplomatisch im Ton vergreift?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Botschafter betätigt sich nicht als Gutachter. Er wurde weder dazu berufen, noch hat er sich diese Stellung je angemaßt.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118816600
Zusatzfrage, Herr Reuter.

Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1118816700
Ich hätte die Zusatzfrage, ob es denn im diplomatischen Sprachgebrauch üblich ist, daß man in solchen Schreiben, die von Ihnen als privat deklariert und auf Botschafterpapier mit diplomatischer Post befördert wurden, Formulierungen wie „Eine solche Tat blutigen Wahnwitzes wäre ein Verbrechen an unserem Erbe an Natur. " findet. Sind denn solche Formulierungen mit dem Sprachgefühl eines Diplomaten in Einklang zu bringen, Frau Staatsminister?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich freue mich, daß auch Diplomaten noch in der Lage sind, wirklich temperamentvoll zu Fragen des Umwelt- und Naturschutzes Stellung zu nehmen.

(Heiterkeit bei der SPD)


Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1118816800
Wenn es ihr eigenes Grundstück betrifft. — Ich darf vielleicht noch eine Zusatzfrage stellen. Frau Staatsminister, da Sie kein Unrechtsbewußtsein erkennen lassen, frage ich Sie: Wäre es denn nicht sachlich geboten, daß sich ein Diplomat dann, wenn er sich einmal im Ton vergreift, entschuldigt, hier bei dem so gescholtenen Beigeordneten des Main-Kinzig-Kreises?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich gehe davon aus, daß der Briefschreiber zu den Formulierungen, so, wie er sie gewählt hat, steht. Er hat sie als Privatmann gewählt. Insofern sind Sie bei mir an der falschen Adresse.

(Reuter [SPD]: Das Gefühl habe ich auch!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118816900
Herr Kühbacher möchte noch eine Zusatzfrage stellen.

Klaus-Dieter Kühbacher (SPD):
Rede ID: ID1118817000
Frau Staatsminister, könnten die Gerüchte zutreffen, daß sich der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Irland mit dieser etwas sehr drastischen Sprache für die Umweltorganisation der UNO empfehlen möchte?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, über die mögliche weitere Verwendung des Botschafters in Irland werden wir sicherlich nicht im Deutschen Bundestag spekulieren.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817100
Sie sind mir zuvorgekommen; sonst hätte ich dem Abgeordneten Kühbacher trotz der Ironie in seiner Fragestellung sagen müssen, daß das nicht zum Thema und nicht zur gestellten Frage paßt.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Klejdzinski auf:
Wie vereinbart die Bundesregierung die Aussage in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN (Drucksache 11/5438) „Die Bundesregierung begrüßt die stetigen Fortschritte der Demokratisierung und der Verwirklichung der Menschenrechte in der Republik Korea" (Frage 12) mit den Ausführungen im Menschenrechtsbericht des US-State Department an den Kongreß bezüglich Südkorea (Seite 842 ff.), das Problem der politischen Gefangenen, deren Zahl im letzten Jahr trotz Amnestien noch angestiegen sei, stelle trotz genereller Verbesserung der Menschenrechtslage das wichtigste der verbliebenen Menschenrechtsprobleme Südkoreas dar?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich sehe in der Aussage der Bundesregierung und des Menschenrechtsberichts des State Department keinen Widerspruch. Auch die Antwort des State Department stellt fest, daß sich unter Präsident Roh Tae Woo die Menschenrechtslage in Südkorea grundlegend geändert hat. Anders als während der 5. Republik wurde der Pressesektor weitestgehend liberalisiert. Die Justiz erhielt eine größere Unabhängigkeit. Korruptions- und Foltervorwürfe werden strafrechtlich verfolgt, und die Polizei geht zurückhaltender gegen Demonstranten vor als unter Präsident Chun Doo Hwan. Allerdings ist der Bundesregierung bekannt, daß die Zahl der wegen angeblicher politischer Verfehlungen Verhafteten im Jahre 1989 wieder deutlich angestiegen ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817200
Herr Dr. Klejdzinski, erste Zusatzfrage.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1118817300
Frau Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß es, wenn man zufälligerweise nachgelassen hat, bestimmte Präventivmaßnahmen durchzuführen, oder wenn man aufgehört hat, die eine Methode anzuwenden, und nur noch die andere anwendet, zwar ein relativer Fortschritt ist, aber nicht mit dem übereinstimmt, was wir unter Anwendung von Menschenrechten verstehen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, was die Interpretation der Einhaltung von Menschenrechten anbetrifft, bin ich sicher, daß wir sehr weitgehend übereinstimmen. Die Bundesregierung bedauert die erwähnten Verhaftungen und hält sie, da sie sich ja im wesentlichen auf nicht genehmigte Reisen und Kontakte in den Norden Koreas beziehen, für problematisch. Wir könnten darauf hinweisen, daß wir selber in einem geteilten Land derartige Praktiken nie angewandt haben, auch nicht in



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
Zeiten, die längst nicht so von Entspannung geprägt gewesen sind wie die heutigen Zeiten. Trotzdem bleibt festzustellen, daß sich die Menschenrechtslage in weiten und in bestimmten Bereichen in Korea unter dem gegenwärtigen Präsidenten zum Besseren gewendet hat.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817400
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage, Herr Dr. Klejdzinski.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1118817500
Unabhängig davon, daß ich Ihre Auffassung teile, daß sich die Menschenrechtslage gebessert hat, frage ich Sie: Ist es nicht trotzdem angezeigt, daß wir weiterhin gegen die jetzigen Verletzungen protestieren?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, während des Besuchs des Präsidenten von Südkorea hier in der Bundesrepublik Deutschland sind diese Fragen angesprochen worden. Wir haben keinen Zweifel daran, daß unsere andere Auffassung, was die Behandlung dieser Menschen betrifft, auch so verstanden worden ist, wie sie gemeint war.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817600
Dann rufe ich Frage 47 des Abgeordneten Dr. Klejdzinski auf:
Hat die Bundesregierung anläßlich des Besuchs des Präsidenten der Republik Korea, Roh Tae Woo, am 20. und 21. November 1989 auch Gespräche mit ihm über die hohe Zahl der politischen Gefangenen in Südkorea geführt, die — wie in den regelmäßigen Jahresberichten von amnesty international zum Ausdruck kommt — Folter und Menschenrechtsverletzungen erdulden müssen?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, im Verlaufe des Staatsbesuches hat die Bundesregierung nachdrücklich auch Haftfälle angesprochen, die menschenrechtlich relevant sind. Die koreanischen Gesprächspartner wiesen in ihren Antworten auf die besondere Lage ihres Landes hin.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817700
Eine Zusatzfrage, Herr Klejdzinski.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1118817800
Frau Staatsminister, kann man die besondere Lage des Landes allein als Begründung dafür anführen, daß Menschenrechte nicht eingehalten werden?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wir können uns nie damit einverstanden erklären, daß elementare Menschenrechte, die auch in Dokumenten niedergelegt sind, die wir alle unterschrieben haben, nicht eingehalten werden. Deswegen spricht die Bundesregierung solche Fälle, wo es ihr möglich ist, nachdrücklich an.
Ich habe in der Antwort auf eine Zusatzfrage zu Ihrer vorigen Frage bereits darauf hingewiesen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland, ja in einer ähnlichen Situation lebend, entsprechende Probleme in einer anderen Weise behandelt haben. Wir haben das in dieser Weise auch gegenüber unseren koreanischen Gesprächspartnern zum Ausdruck gebracht.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118817900
Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1118818000
Frau Staatsminister, kann ich denn unabhängig davon, daß man sicherlich einen Prozeß feststellt, der den Vorstellungen ähnelt, die wir haben, davon ausgehen, daß Sie auch weiterhin aktiv jegliche Menschenrechtsverletzung aufgreifen und immer wieder darauf verweisen, auch im Rahmen der freundschaftlichen Kontakte zu unseren koreanischen Freunden?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wir tun das gegenüber allen Staaten, aus denen uns Verletzungen der Menschenrechte bekanntwerden, und zwar sowohl in speziellen Fällen als auch generell gegenüber Vertretern dieses Landes.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818100
Wir kommen zur Frage 48 der Abgeordneten Frau Vennegerts:
Besitzt die Bundesregierung, wenn schon keine eigenen, dann doch Informationen aus dem Augenschein ihrer Diplomaten vor Ort im Iran oder aus der Tätigkeit der ja noch-bundeseigenen Firma Fritz Werner darüber, daß das G-3-Gewehr u. a. im Golfkrieg eingesetzt wurde und weiterhin im Iran im Einsatz ist?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, die Bundesregierung hat zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, daß das G-3-Gewehr im Golfkrieg eingesetzt wurde und im Iran möglicherweise weiterhin im Einsatz ist. Nach Kenntnis der deutschen Botschaft in Teheran gehört das G-3-Gewehr zur Ausrüstung der iranischen Streitkräfte. Es gibt jedoch keine gesicherten Informationen darüber, in welchem Umfang das G-3-Gewehr eingesetzt und in welcher Stückzahl es im Iran gefertigt wurde. Diesbezüglich wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Vennegerts, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN — Drucksache 11/5399 vom 18. Oktober 1989 — zu Frage 5 verwiesen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818200
Eine Zusatzfrage, Frau Vennegerts.

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118818300
Frau Staatsministerin, dann trifft es also zu, daß das G-3-Gewehr der Firma Heckler & Koch auf der Grundlage der seinerzeit von der Bundesregierung an die Schah-Regierung übertragenen Lizenz weiterhin im Iran produziert wird? Nach Ihren Ausführungen muß das ja so sein.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, ich kann Ihnen nicht sagen, ob das Gewehr heute noch produziert wird. Wir gehen nach den Informationen unseres Botschafters im Iran davon aus, daß es nach wie vor im Einsatz ist. Das bedeutet aber nicht, daß es unbedingt noch produziert werden muß. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818400
Bitte schön, Frau Vennegerts.

Christa Vennegerts (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118818500
Wurde denn diese Lizenz irgendwann einmal zurückgenommen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Nein, Frau Abgeordnete, die Lizenz wurde nicht zurückge-



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
nommen, da es sich um einen Vertrag handelt, der mit der Lizenzvergabe erfüllt wurde.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818600
Die Fragen 49 und 50 des Abgeordneten Conradi werden nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Jäger auf:
Welche Schritte wird die Bundesregierung aus der besonderen deutschen Verantwortung im Hinblick auf den Hitler-StalinPakt im Jahr 1990 gegenüber der sowjetischen Regierung unternehmen, um die baltischen Völker bei der Durchsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts zu unterstützen?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Verwirklichung des in der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung festgehaltenen Rechts auf freie Selbstbestimmung stellt in der Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Sowjetunion ein grundlegendes Element dar, das auch die gesamteuropäische Entwicklung bestimmt.
Im Rahmen des KSZE-Prozesses hat sich die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den 34 Teilnehmerstaaten zur Wahrung des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker bekannt. Die Fortsetzung des KSZE-Prozesses ist der Weg, um dem Selbstbestimmungsrecht überall Geltung zu verschaffen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818700
Bitte schön, Herr Jäger, eine Zusatzfrage.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1118818800
Frau Staatsminister, da ich nach der besonderen deutschen Verantwortung gefragt habe, die sich zweifelsfrei aus dem Hitler-Stalin-Pakt ergibt, möchte ich wissen, ob die Bundesregierung über die allgemeine Befürwortung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker hinaus konkrete und spezielle Schritte unternommen hat oder noch unternehmen wird, um in Erfüllung dieser gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung vom Sommer des vergangenen Jahres zu erreichen, daß die Sowjetunion die ihr daraus erwachsenen Verantwortungen auch tatsächlich wahrnimmt.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung stellt alle ihre Bemühungen in den bilateralen Beziehungen mit der Sowjetunion auf die Grundlage der deutsch-sowjetischen Erklärung vom Juni 1989. Das bezieht sich selbstverständlich auch auf die Fragen des Selbstbestimmungsrechts, die von Ihnen angesprochen worden sind. Da dies die Grundlage unserer Arbeit ist, wird damit auch Ihre Frage beantwortet.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118818900
Herr Jäger zur nächsten Zusatzfrage.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1118819000
Frau Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß auch die drei baltischen Völker nicht weniger als unser eigenes deutsches Volk einen Anspruch auf die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts haben, da sie sich ja nie in irgendeiner freien Abstimmung im Sinne einer Zugehörigkeit zur Sowjetunion geäußert haben?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß sich die Bundesregierung vorbehaltlos zum Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker bekennt. Es ist dies ein Recht — darüber haben wir gerade im Zusammenhang mit den Reformbewegungen in Mittel- und Osteuropa in den letzten Monaten viel gesprochen — , das durch die Völker ausgeübt werden muß. Das ist, wie gesagt, auch die Grundlage der Politik der Bundesregierung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118819100
Frage 52 des Abgeordneten Stiegler soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zu Frage 53 des Abgeordneten Schreiner:
Wie bewertet die Bundesregierung die Verhaftung der deutschen Soziologin Dr. Hella Schlumberger am 10. Januar 1990 in Siirt/Türkei wegen „kurdischer Propaganda", und welche Aktionen hat sie bisher zu ihrer Freilassung unternommen?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Verhaftung von Frau Schlumberger ist ein bedrückender Vorgang, den wir nicht hinnehmen werden. Unmittelbar nach Bekanntwerden hat unser Botschafter in Ankara das dortige Außenministerium um umgehende Freilassung von Frau Schlumberger ersucht. Bundesminister Genscher persönlich hat das Thema am 12. Januar in Bonn gegenüber dem stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten mit aller Deutlichkeit angesprochen, um eine schnelle Freilassung von Frau Schlumberger zu erreichen. Auch Staatssekretär Sudhoff hat am gleichen Tage den türkischen Botschafter einbestellt und ihn aufgefordert, Frau Schlumberger auf freien Fuß zu setzen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118819200
Zusatzfrage, Herr Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1118819300
Frau Staatsminister, nachdem nun die türkische Staatsanwaltschaft in dem Prozeß eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren beantragt hat und erkennbar ist, daß zumindest bislang die Interventionsbemühungen des Herrn Außenministers erfolglos geblieben sind, frage ich, was die Bundesregierung im Rahmen der deutsch-türkischen Zusammenarbeit zu unternehmen gedenkt, falls es zu einer Verurteilung von Frau Schlumberger kommt.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung wird sich in den nächsten Tagen weiter darum bemühen, daß Frau Schlumberger sofort auf freien Fuß gesetzt wird, und sie wird dazu alle geeigneten Schritte unternehmen, sowohl hier in Bonn als auch in Ankara.
Im übrigen wird der weitere Fortgang des Prozesses selbstverständlich von unserer Botschaft begleitet, und Frau Schlumberger erhält alle Unterstützung, die notwendig ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118819400
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1118819500
Frau Staatsminister, ich darf Sie dann fragen, ob die Bundesregierung über den skan-



Schreiner
dalösen Fall von Frau Schlumberger hinaus erwägt, bestimmte Formen der bisherigen Zusammenarbeit mit der Türkei, etwa Polizeihilfe oder technische Zusammenarbeit, zu überprüfen, solange in der Türkei keine wesentlichen Änderungen in Richtung Menschenrechte — insbesondere im Bereich des politischen Strafrechts und der nach wie vor nicht unüblichen Folterpraxis — zu erwarten sind.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Bundesregierung geht es als erstes darum, eine deutsche Staatsbürgerin, die in der Türkei auf Grund einer Rechtslage, die in unserem eigenen Rechtssystem keinen Bestand haben würde, verhaftet worden ist, umgehend wieder auf freien Fuß zu bekommen, so daß sie in die Bundesrepublik ausreisen kann. Dies ist das vorrangige Ziel unserer Bemühungen, und ich denke, dies muß aus humanitären Erwägungen auch das vorrangige Ziel unserer Bemühungen sein. Hier werden wir deshalb nicht nachlassen.
Darüber hinaus sind wir in kontinuierlichem Gespräch auch mit der türkischen Regierung über die Lage der Menschenrechte in der Türkei, und wir sind auch in kontinuierlichem Gespräch über die Frage der Minderheiten und ihrer Behandlung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118819600
Frage 54 des Abgeordneten Gansel soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Frau Staatsminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Die Fragen 55 und 56 des Abgeordneten Hiller (Lübeck), 57 des Abgeordneten Dr. Müller und 58 des Abgeordneten Stiegler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Fragen 59 und 60 des Abgeordneten Dr. Emmerlich sowie 61 des Abgeordneten Schulze (Berlin) wurden zurückgezogen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schmidt (Nürnberg), Dr. Däubler-Gmelin, Adler, Amling, Bachmaier, Becker-Inglau, Bernrath, Dr. Böhme (Unna), Bulmahn, Catenhusen, Conrad, Dr. Dobberthien, Egert, Ewen, Faße, Fischer (Homburg), Fuchs (Köln), Fuchs (Verl), Ganseforth, Gilges, Dr. Götte, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Jahn (Marburg), Jaunich, Kuhlwein, Leidinger, Luuk, Dr. Martiny, Matthäus-Maier, Müller (Düsseldorf), Dr. Niehuis, Peter (Kassel), Renger, Rixe, Schanz, Schmidt (Salzgitter), Seuster, Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Steinhauer, Stiegler, Terborg, Dr. Timm, Traupe, Weiler, Weyel, WieczorekZeul, Wittich, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien — Hilfen mit Rechtsanspruch und Maßnahmen für eine kinder- und familienfreundlichere Gesellschaft
— Drucksache 11/2532 — b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schmidt (Nürnberg), Adler, Bachmaier, Bekker-Inglau, Blunck, Bulmahn, Catenhusen, Conrad, Dr. Däubler-Gmelin, Egert, Faße, Fuchs (Köln), Fuchs (Verl), Ganseforth, Dr. Götte, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Kastner, Kuhlwein, Luuk, Matthäus-Maier, Müller (Düsseldorf), Dr. Niehuis, Odendahl, Peter (Kassel), Renger, Schulte (Hameln), Seuster, Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Dr. Sonntag-Wolgast, Steinhauer, Stiegler, Terborg, Dr. Timm, Dr. Wegner, Weiler, Weyel, Wieczorek-Zeul, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Konzept zur Sexualaufklärung — Drucksache 11/4978 —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunkts 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Götte.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1118819700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab kurz nach Weihnachten in den Medien und unter den Politikern eine heftige Diskussion um das Glockengeläute am 28. Dezember. Dabei wurden Stimmen laut, die meinten, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche sei ein Maßstab für Verantwortungslosigkeit und Verderbtheit — so habe ich gehört — unter Frauen. Ich meine, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist vielmehr ein Maßstab dafür, welche Defizite an Humanität und Sozialstaatlichkeit in einer Gesellschaft noch vorhanden sind.
In der Bundesrepublik ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in sechs Jahren zwar um 22% gesunken, aber mehr als 100 000 Abbrüche jährlich zeigen, daß wir noch längst nicht alles getan haben, was möglich wäre, um schwangeren Frauen in Konfliktsituationen zu helfen, ihre Probleme zu lösen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen — leider ist von der CDU kaum jemand da — , wir haben uns lange genug darüber gestritten, ob die Zahl der Abbrüche mit Hilfe des Strafrechts gesenkt werden kann. Sie wissen: Wir Sozialdemokraten sind der festen Überzeugung, weder Strafandrohung noch Glockengeläut, noch staatlich vorgeschriebene Ratschläge helfen Frauen in Konfliktsituationen weiter, sondern allein konkrete, berechenbare, zuverlässige Hilfe, echte Beratung, Arbeitsschutz und Vorrechte bei der Arbeitssuche.
Die Kolleginnen und Kollegen von der CSU haben immer wieder betont, sie wollten nicht nur reden, sondern auch helfen. Nun geben wir ihnen Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen, indem sie unserem Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien zustimmen und auch unser Konzept für eine verbesserte Sexualerziehung unterstützen.
Angesichts der hohen Zahl immer noch vorkommender Schwangerschaftsabbrüche und angesichts der Tatsache, daß so viele Familien, insbesondere die Alleinerziehenden, unterhalb der Armutsgrenze leben, können Sie doch nicht ernsthaft glauben, mit



Frau Dr. Götte
dem Erziehungsgeld sei alles getan, was zu tun möglich und nötig ist.
Was antworten Sie denn einer jungen Mutter, die nach dem Auslaufen des Erziehungsgeldes plötzlich mit 50 DM Kindergeld auskommen soll? Das reicht ja noch nicht einmal für die Pampers. Was raten Sie denn einer Frau, die für ihre beiden Kinder in unmittelbarer Nähe ihres Wohnortes weder einen Krippen- noch einen Kindergartenplatz bekommen kann und deshalb ihren Beruf aufgeben muß, obwohl sie vielleicht darauf angewiesen ist, mitzuverdienen? Wie wollen Sie denn einer schwangeren Frau helfen, die einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Die Zahl der Frauen, die solche Arbeitsverträge bekommen, ist dank Ihrer Hilfe, der Hilfe der Bundesregierung, sprunghaft angestiegen. Wie wollen Sie denn dieser Frau helfen, die einen solchen Arbeitsvertrag hat und die weiß: Der läuft aus, noch ehe das Kind geboren ist, und wird deshalb auch nicht verlängert werden?
Wir fordern in unserem Antrag: Die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse ohne sachlichen Grund ist aufzuheben. Es liegt nun an Ihnen, Frau Verhülsdonk, den Frauen zu erklären, warum Sie gegen einen solchen Antrag sind. Wir wollen, daß ein Rechtsanspruch auf einen Kinderkrippen- und Kindergartenplatz besteht. Sie konnten sich nicht entschließen, dies im Jugendhilferecht zu verankern. Sie konnten sich bisher auch nicht dazu durchringen, die öffentliche Hand zu verpflichten, mit gutem Beispiel voranzugehen und gerade schwangeren Frauen eine bevorzugte Einstellungschance zu geben, wie wir es in diesem Antrag fordern. Warum halten Sie diesen Vorschlag denn für so verfehlt? Sie wissen aus eigener Anschauung aus der Arbeit in Ihren Bürgerbüros und auch aus mehreren Anhörungen im Deutschen Bundestag genauso wie wir, daß die Leistungen für Schwangere und Kinder nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht mehr ausreichen. Natürlich handeln wir uns den Widerspruch der kommunalen Spitzenverbände ein, wenn wir Leistungsverbesserungen im Bundessozialhilfegesetz fordern. Aber wenn wir Frauen im Bundestag diesen Kampf nicht aufnehmen, wer soll es denn sonst tun?
Unser Antrag enthält andererseits auch Forderungen, die die Sozialhilfeträger entlasten, so z. B. die Forderung, daß die Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslosengeld bei Schwangeren verkürzt und die Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld verlängert werden soll. Das wäre wiederum etwas, was den Kommunen entgegenkommt.
Ein wichtiger Teil unseres Antrags beschäftigt sich mit den Wohnungsproblemen. Hier kann ich der Regierung massive Vorwürfe nicht ersparen. Einerseits zu behaupten, man wolle alles tun, um die Lage von Familien mit kleinen Kindern zu verbessern, und andererseits gleichzeitig die Mittel für den sozialen Wohnungsbau drastisch zu kürzen, wie Sie das über Jahre hinweg getan haben, das paßt nicht zusammen.
Ich hatte letzte Woche in meinem Bürgerbüro eine junge Mutter eines zweijährigen Kindes, die einen Studenten liebt, von dem dieses Kind stammt. Sie ist jetzt zum zweitenmal schwanger, ebenfalls von diesem Studenten. Sie hat keine Wohnung. Es ist unvorstellbar, was sich diese Frau alles anhören mußte über den Wahnsinn, sich ein zweites Kind zu leisten, wenn man nicht verheiratet ist, auch wenn der Mann zu der Familie steht, und zu wagen, ein zweites Kind zu bekommen, obwohl sie nach zwei Jahren immer noch keine gemeinsame Wohnung gefunden hat. Es ist unvorstellbar, was einer solchen Frau in unserer Gesellschaft alles an den Kopf geworfen wird. Selbst das Studentenwerk — der Vater der demnächst zwei Kinder ist ja Student — hat sich geweigert, für diese junge Familie eine Wohnung bereitzustellen, da sie keinen Trauschein vorweisen können. Das sind Realitäten, mit denen wir uns täglich auseinander setzen müssen.
Wir Sozialdemokraten erneuern unsere Forderung, den sozialen Mietwohnungsbau wieder so zu fördern, wie das unter der Regierung Helmut Schmidt geschehen ist, und auf Bundesländer und Kommunen einzuwirken, die mit öffentlichen Mitteln geförderten Wohnungen bevorzugt wohnungssuchenden Schwangeren, Alleinerziehenden, Kinderreichen und jungen Familien zuzuweisen.
Ungewollte Schwangerschaften sollten gar nicht erst entstehen. Dieselben Leute, die neulich beim Glockenläuten so aktiv waren, haben vor nicht allzulanger Zeit die Verwendung von Verhütungsmitteln noch zur Sünde erklärt; sie tun es zum Teil heute noch.
Es ist noch gar nicht so lange her — ich spreche da aus bitterer Erfahrung aus meiner Zeit als Landtagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz — , da gab es in den CDU-regierten Bundesländern und in Bayern heftigen Widerstand gegen die Verpflichtung der Schulen zum Sexualkundeunterricht. Es ist eine Schande, daß erst die Bedrohung durch AIDS hinzukommen mußte, ehe die Notwendigkeit der Sexualerziehung in den Schulen halbwegs anerkannt wurde. Wir verstehen unter Sexualerziehung — das möchte ich gleich anmerken — natürlich nicht nur die Information über Schwangerschaftsverhütung, sondern wir definieren Sexualerziehung als Erziehung zur Liebesfähigkeit und zur Übernahme von Verantwortung, die durchaus schon im Kindergarten anfangen muß. Auch dafür gibt es Programme und Modelle, die aber viel zuwenig umgesetzt werden.
Daß diese Bundesregierung als eine ihrer ersten Amtshandlungen die mit viel Geld erstellten Aufklärungsschriften der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung einstampfen ließ und sage und schreibe acht Jahre gebraucht hat, um ein neues Konzept vorzulegen, das kein umfassendes Konzept ist, sondern an einem Punkt ansetzt, bestätigt uns in der Annahme, daß hier von einem, sagen wir einmal: etwas verkrampften Verhältnis zur Sexualerziehung ausgegangen werden muß.
Uns Politikern wird so oft vorgeworfen, wir redeten nur und täten zuwenig. Unsere beiden Anträge geben Ihnen Gelegenheit, zu beweisen, daß dem nicht so ist. Hier haben wir ganz konkrete Ansätze vorgelegt, wie wir schwangeren Frauen helfen können. Wir wollten zeigen, daß es uns ernst damit ist, wenn wir sagen: Wir wollen werdendes Leben schützen, wir wollen jungen Familien helfen.



Frau Dr. Götte
Wenn Sie diesem Antrag zustimmen, können Sie unter Beweis stellen, daß es auch Ihnen ernst ist. Ich hoffe, daß Sie unsere Anträge nicht einfach in Bausch und Bogen ablehnen, sondern daß Sie Punkt für Punkt darauf eingehen und wenigstens zum Teil damit einverstanden sein können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118819800
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1118819900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Götte, ich meine, Sie und Ihre Fraktion machen es sich sehr einfach, wenn Sie das schwierige Thema Lebensschutz jetzt dahin auflösen wollen, daß Sie Fallbeispiele, die jeder von uns kennt, nehmen und sagen, darauf reagieren wir so oder so oder so, und dafür machen wir Anträge, und das machen wir dann, und dann ist das Thema für uns erledigt.

(Zuruf von der SPD: Ist doch nicht erledigt! — Zuruf von den GRÜNEN: Sie machen lieber gar nichts!)

Leider ist es damit nicht erledigt. Ich denke, gerade die SPD hat allen Grund, darüber nachzudenken, ob das Thema so zu erledigen ist. Ich spreche nämlich von dem, was Sie auf Ihrem Grundsatzparteitag in Berlin diskutiert haben. Da ist bei Ihnen eine ganz neue Weichenstellung eingetreten, von der heute die Rede sein muß, wenn man über das Thema Lebensschutz spricht. Ich will das auch tun.

(Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Es geht um Hilfe für Schwangere!)

Es werden hinterher andere noch auf Einzelheiten eingehen.
Es hat sich nämlich erwiesen, daß die SPD einen Konsens, der in diesem Hause einmal bestanden hat, daß Lebensschutz aus straftrechtlichen Regelungen und aus Hilfen im Einzelfall bestehen muß, verlassen hat; das ist halt ein Thema, das nicht vorweg außer acht gelassen werden kann. Wir wissen ja, die SPDFrauen wollen, daß der § 218 ganz abgeschafft wird

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das stimmt nicht! Wir wollen die Entkriminalisierung der Frauen!)

— doch, das war so, das ist auch nicht bestritten worden — , daß es keinen strafrechtlichen Schutz mehr geben soll; das war der Antrag. Wir kennen Ihre Anträge, liebe Frau Kollegin.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Offensichtlich nicht!)

Sie argumentieren, allein das Selbstbestimmungsrecht der Frau soll gelten, der Staat soll sich aus seiner öffentlichen Verantwortung für den Lebensschutz ganz zurückziehen. Er soll darauf verzichten, mit den Mitteln des Strafrechts das Bewußtsein seiner Bürger zu stärken, daß menschliches Leben auch im vorgeburtlichen Stadium grundsätzlich unverfügbar ist. Dann gibt es die anderen in Ihrer Partei, die immer noch darauf stehen, daß die gefundene gesetzliche Regelung, die mühsam genug zustande gekommen ist, Grundlage des Lebensschutzes sein soll; sie stehen
also zum Verfassungsauftrag und auch zu den strafrechtlichen Regelungen.
Worauf haben Sie sich geeinigt? Wenn ich mich auf die Pressemeldungen, die von Ihnen selbst abgegeben worden sind, stütze, dann muß ich feststellen: Sie haben sich in diesem Konflikt auf eine beschämende Kompromißformel geeinigt.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Wir wollen werdendes Leben schützen!)

— Ja, und jetzt rede ich davon, wie Sie es wollen. Das ist der Punkt meiner Auseinandersetzung, Frau Kollegin Götte. — Laut SPD-Grundsatzprogramm soll der geltende § 218 zwar im Gesetzbuch stehen bleiben, aber er soll nicht mehr angewandt werden. Die Strafbarkeit der Abtreibung habe nähmlich nur zu Bedrohung und Demütigung von Frauen geführt.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Allerdings! — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: So ist es!)

Das ist der einzige Punkt, den Sie zum Strafrecht noch gemeinsam sagen können. Was Sie, meine Damen und Herren von der SPD, in Berlin unter der Überschrift „Fortschritt 90" verabschiedet haben, ist für den Lebensschutz des ungeborenen Kindes in Wahrheit ein Rückschritt.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Frau Dr. Götte [SPD]: Sie bringen wieder alles durcheinander!)

Der Staat soll sich in einer Frage, bei der es für das ungeborene Kind um Leben und Tod geht, von der strafrechtlichen Verfolgung völlig zurückziehen, und das auch dann, wenn es im einzelnen Fall überhaupt keinen Rechtfertigungsgrund für die Abtreibung gibt.

(Jäger [CDU/CSU]: So ist es! — Frau BeckOberdorf [GRÜNE]: Wer entscheidet denn, ob es dafür einen Grund gibt oder nicht?)

Was ist das für eine Rechtsordnung, in der Verstöße gegen geltendes Recht nicht mehr geahndet werden sollen? Wo endet ein solcher Weg? Es gibt in unserem Lande heute auch schon Stimmen, die in der Frage des Lebensrechts von krankem, altem und behindertem Leben für eine individuelle Beurteilung eintreten. Soll dann vielleicht der nächste Schritt sein, daß sich der Staat auch in diesem Felde aus der Anwendung des Strafrechts zurückziehen soll?

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut! — Conradi [SPD]: Niedertracht ist das!)

Meine Damen und Herren, in Ihren beiden Anträgen bekennen Sie sich allerdings noch — sie waren vor dem Parteitag gestellt — zum geltenden Strafrechtsparagraphen 218. Sie verweisen sogar darauf, daß das Gesamtkonzept, nämlich strafrechtlicher Schutz und Hilfe für Mütter in Notlagen, zu einer Verbesserung des Bewußtseins um den eigenständigen Wert ungeborenen menschlichen Lebens geführt habe. Tatsächlich können wir in unserer Gesellschaft eine größere Sensibilisierung zugunsten des ungeborenen Lebens feststellen. Dies ist allerdings keineswegs das Verdienst der SPD, muß ich Ihnen sagen, sondern es ist vor allem eine Folge der Fortschritte, auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin und der



Frau Verhülsdonk
Embryonenforschung. Hier gibt es eine breite Übereinstimmung quer durch alle Parteien, daß jegliche Form der Embryonenforschung, die den Embryo schädigen könnte, selbst in frühestem Stadium unter Strafe gestellt werden muß.
Auch die christlichen Kirchen konstatieren durchaus Fortschritte bei der Bewußtseinsbildung. Vor wenigen Wochen haben sie dennoch in einer vielbeachteten gemeinsamen Erklärung mit dem Untertitel „Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens", die übrigens auch Sie öffentlich gerühmt haben, zu einer umfassenden und gemeinsamen Anstrengung aller Kräfte, also auch der Kräfte der SPD, in unserer Gesellschaft für das Leben aufgerufen. Mit Ihrem neuen Grundsatzprogramm haben Sie den Konsens mit dem christlichen Teil unserer Gesellschaft allerdings endgültig aufgegeben.

(Jäger [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Erfreulich ist immerhin — damit gehe ich jetzt auf Ihren Antrag ein —, daß alle aus den Erfahrungen der letzten Jahre gelernt haben. So gibt es keinen Streit darüber, daß man das ungeborene Kind nicht gegen den Willen seiner Mutter schützen kann und daß es deshalb vielfältiger gesellschaftlicher und politischer Hilfsangebote bedarf, damit Frauen auch in Notsituationen ja zu ihrem Kind sagen konnten.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das war ein Lernprozeß bei den Konservativen!)

— Frau Kollegin, wenn man die Reden aus den 70er Jahren nachliest, dann zeigt sich, daß auch die SPD vieles nicht gewußt hat, was sie heute weiß. Da haben wir alle vieles nicht gewußt, was wir heute wissen.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Ich habe gerade gesagt: Das war ein Lernprozeß bei den Konservativen!)

— Deswegen sage ich ja: Erfreulich ist, daß es darüber keinen Streit mehr gibt.
Zu diesen Hilfsmaßnahmen gehören Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie Sie sie in Ihrem Antrag nennen, ebenso wie Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, um die wir uns ja alle kümmern.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wer kümmert sich?)

Es gehören dazu auch spezielle Hilfen für Alleinerziehende.

(Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Sie haben lange nicht mehr versucht, ein Kind in einem Kindergarten anzumelden!)

— Ja, ich rede gleich von Kindergärten, Frau Kollegin Beck-Oberdorf.
Es mutet jedoch wie eine Flucht nach vorn an, wenn ausgerechnet die SPD der Bundesregierung und der Union Belehrungen über familienfreundliche Politik erteilen will. Ich will heute gar nicht erneut über die Versäumnisse in den 70er Jahren reden, als Sie die Regierungsverantwortung getragen haben. Da haben Sie das alles nämlich noch nicht gewußt und auch nicht getan. Da hat Familienpolitik bekanntlich nicht stattgefunden, obwohl Geld für alles andere da war.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: So ein Unsinn! — Frau Dr. Götte [SPD]: Wer hat den Versorgungsausgleich geschaffen?)

Das haben wir hier ja oft diskutiert.
Ich will einen anderen Punkt für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der SPD von heute nennen. Wie war es denn, als die Finanzminister der SPD im Bundesrat einhellig wie ein Mann, muß ich sagen, gegen gesetzliche Regelungen, die ein verbessertes Angebot von Kindergartenplätzen enthalten sollten, votiert haben?

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Das war einmütiger, ein einstimmiger Ablehnungsbeschluß. Dabei muß man wissen, daß Kindergärten zu den Aufgaben von Ländern und Kommunen gehören, daß der Bund hier bestenfalls eine Rahmengesetzgebungsaufgabe hat, die er ja wahrnehmen wollte. Hier im Deutschen Bundestag fordern Sie nun die Bundesregierung auf, etwas zu tun, was Ihre Länder nicht zu tun bereit sind und dem sie nun widersprechen.
Zu den Städten und Gemeinden ist zu sagen: Es gibt ja sehr zahlreiche Städte und Gemeinden, in denen die SPD die Verantwortung hat. Sie können mir jetzt nicht mit dem Argument kommen, sie hätten kein Geld dafür. Wir alle wissen und lesen das ja auch ständig, daß sich die Finanzlage der Städte und Gemeinden wesentlich gebessert hat. Also müßte man doch eigentlich erwarten, daß Sie, wenn Sie alle davon durchdrungen sind, daß der Lebensschutz am Einzelfall und an der Hilfe ansetzen muß und daß ein großes Defizit bei den Kindergartenplätzen besteht
— dies ganz besonders in den SPD-regierten Ländern; denn die CDU-Länder haben Kindergartengesetze gemacht und haben mehr Plätze geschaffen — , Ihren Einfluß über die Delegierten Ihrer Parteitage in diese Richtung hin einsetzen und daß dort endlich etwas passiert, damit das in Angriff genommen wird.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das tun wir doch zusätzlich!)

— Ich sehe nichts davon. In Nordrhein-Westfalen passiert nichts, aber auch rein gar nichts.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wer ist denn das Schlußlicht bei der Kindergartenversorgung? Niedersachsen!)

Das ist nur ein konkretes Beispiel für die Mogelpakkung, als die sich Ihr Antrag bei näherem Hinsehen erweist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118820000
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1118820100
Ja, bitte. Vizepräsident Westphal: Bitte schön, Herr Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1118820200
Frau Kollegin Verhülsdonk, können Sie mir bestätigen, daß es bis zum heutigen Tage kein einziges von der SPD regiertes Bundesland gibt, das irgendeine freiwillige Leistung in Sinne einer



Jäger
Stiftung „Mutter und Kind" oder auch eine gesetzliche Leistung, wie sie die SPD hier im Bundestag fordert, in seiner Gesetzgebung verwirklicht und damit den Müttern hilft?

Roswitha Verhülsdonk (CDU):
Rede ID: ID1118820300
Herr Kollege, Sie bestätigen das, was ich eben gesagt habe. Es ist so.

(Frau Schmidt-Bott [GRÜNE]: Das war ja wieder eine gute Vorlage! — Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wenn wir Jäger [Wangen] nicht hätten, wüßten wir gar nicht, worüber wir lachen könnten!)

In manchen Forderungen, die Sie stellen, ist Ihr Antrag auch überholt. Bekanntlich hat die Union von Anfang an dafür gesorgt, daß das Erziehungsgeld zusätzlich zur Sozialhilfe gezahlt wird. Das ist eine Sache, die insbesondere für ledige Mütter von allerhöchster Bedeutung ist. Wir haben inzwischen auch geregelt, was Sie noch beantragen, daß während der Dauer einer Ausbildung das Erziehungsgeld weitergezahlt wird. Da war sicherlich ein Handlungsbedarf; das ist inzwischen gemacht.
Ich will auch etwas zu dem Themenkomplex „Schutz des ungeborenen Lebens" und zu der Frage der Verhütung von ungewollten Schwangerschaften durch verbesserte Sexualaufklärung sagen. Auf diesem Gebiet ist ja bekanntlich in den vergangenen Jahrzehnten viel experimentiert worden: in Schulen — das fing in Ihrer Regierungszeit an — , in Medien und in Beratungseinrichtungen.
In einer pluralen Gesellschaft — das wissen wir alle — ist die Sexualaufklärung ein schwieriges Feld. Es ist deshalb erfreulich, daß die Bundesregierung ein breit gefächertes Aufklärungsprogramm, bis hin zu der vielgelobten Fernsehsendung „Der Liebe auf der Spur", auf den Weg gebracht hat,

(Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: In RTL Plus, nachts um 12!)

und zwar ohne Widerspruch damit in der Gesellschaft auszulösen; denn Angebote, die in weiten Kreisen Anstoß erregen, helfen bei diesem Thema nicht weiter. Deshalb möchte ich Sie, Frau Ministerin Lehr, ermutigen, den beschrittenen Weg mit Sachverstand und Einfühlungsvermögen fortzusetzen.
Sie von der SPD übernehmen in Ihrem Antrag ungeprüft das nicht unumstrittene Konzept von Pro Familia und wollen dies allen als Modell aufoktroyieren. Dem können wir nicht zustimmen.
Die CDU-geführte Bundesregierung hat seit der Regierungsübernahme im Oktober 1982 in kontinuierlichen Schritten erhebliche Verbesserungen für die Familien durchgesetzt. Ich denke, Frau Ministerin Lehr wird dazu noch einiges sagen. Auch die Steuerreform ist ein Beispiel für die Verbesserung der Familienpolitik.

(Conradi [SPD]: Weiß Gott, das EhegattenSplitting!)

Ich leugne nicht, daß auch wir CDU-Frauen ebenso wie alle Frauenverbände und wie auch Sie noch eine lange Liste von Maßnahmen haben, die zugunsten von Familien und Müttern nach und nach durchgeführt werden sollen und die wir auch für nötig erachten. Dabei ist uns aber klar — das ist einem immer klar, wenn man in der Regierungsverantwortung steht — , daß Prioritäten gesetzt werden müssen. Alles auf einmal ist nicht finanzierbar.
Wir sind aber ein gutes Stück vorangekommen. Vor allen Dingen werden Kinder heute nicht mehr wie noch im vorigen Jahrzehnt überwiegend als Karrierebremse und als Last definiert. Es gibt erfreulicherweise wieder viele junge Paare, die wissen, daß Kinder das Leben bereichern. Ich denke, daß alle Anstrengungen, die diesem Ziel dienen, fortgesetzt werden sollen. Sie haben darin unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Götte [SPD]: Kein Wort zu unserem Antrag!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118820400
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118820500
Man ist es ja gewohnt, hier vor leerem Hause zu sprechen. Aber es ist natürlich zusätzlich ärgerlich, wenn hier über eine entscheidende Frage für Frauenleben in dieser Gesellschaft verhandelt wird, die, wie wir aus Erfahrung wissen, nach wie vor von Männern entschieden wird, und wenn wir uns über diese Fragen auseinandersetzen, sind die Männer nicht anwesend. Sehen Sie sich einmal die Bänke an!

(Kraus [CDU/CSU]: Wo sind denn die grünen Männer? — Unverschämtheit!)

— Ich habe niemanden ausgenommen; ich habe mich vielmehr über die Männer im allgemeinen ausgelassen.
Ein Großteil der Herren in diesem Hohen Haus weiß mit Sicherheit sehr wenig über den Alltag von und mit Kindern und maßt sich trotzdem an, mit männlicher Mehrheit von hier aus Gesetze zu machen, und wird auch noch in der Gesellschaft kräftig unterstützt von Gerichten und Vertretern der Kirchen, wie wir durch die Hexenprozesse in Memmingen und dieses Glokkenläuten wieder schmerzlich erfahren mußten.
Doch nun hat ja Frau Verhülsdonk von der Heraufsetzung der Sensibilität für den Lebensschutz gesprochen. Da allerdings muß man sich einmal auseinandersetzen, was hinter dieser moralischen Floskel denn an tatsächlichen Verhältnissen in dieser Gesellschaft steht.
Erstens geht es mit der Frage der Wohnung los. Frau Kollegin Götte hat davon schon gesprochen. Die Politik der Bundesregierung hat mit dazu beigetragen, daß billiger und großzügiger Wohnraum, also sozial nutzbarer Wohnraum für z. B. alleinerziehende Mütter und für kinderreiche Familien, rasant verknappt worden ist.

(Geis [CDU/CSU]: Vor allen Dingen in Nordrhein-Westfalen!)

Es gibt eine katastrophale Wohnungsnot; der freie Wohnungsmarkt ist praktisch tot, und das merken ganz besonders die, die wenig Geld zur Verfügung haben. Das sind entweder Familien mit vielen Kindern, oder es sind alleinerziehende Frauen. Statt dessen zündeln Sie mit Hilfe des geplanten Beratungsge-



Frau Beck-Oberdorf
setzes am § 218 und betreiben teure Kampagnen zum Lebensschutz wie in Baden-Württemberg.
Zweitens Kinderfreundlichkeit: Auf den Straßen der Bundesrepublik wird vor allem und vorrangig für der Bundesdeutschen liebstes Kind Platz gemacht, nämlich das Kind aus Chrom und Blech. Diese Regierung, die ständig den Schutz des ungeborenen Lebens im Munde führt, stellt sich taub und stumm, wenn es um Tempo 30 in der Stadt geht, um Verkehrsberuhigung, um die Eindämmung der Autoflut, um den Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs. Eine solche Politik betreibt allerdings nur, wer nichts vom Leben mit Kindern versteht, wer nicht aus Erfahrung weiß, daß der Lebensraum von Kindern durch das Auto überall eingeengt ist und daß Mütter und Kinder über das passende Alter hinaus aneinandergekettet werden, weil die Mütter ständig damit beschäftigt sind, ihre Kinder vor den Autos zu retten und zu bewachen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Das ist eine unglaubliche Einengung von Mobilität sowohl für die Kinder als auch für die Frauen.

(Geis [CDU/CSU]: Spielen Sie doch nicht das eine gegen das andere aus!)

— Sie machen es ja nicht. Sie machen eine Pro-Automobil-Politik. Statt dessen bietet Herr Schwarz-Schilling mit seinen paar Kabelprogrammen dann Video für die Kinder an. Das ist innerhalb dieses Lebensmusters folgerichtig, in dem wir uns bewegen müssen.
Das dritte Beispiel ist die Umweltvergiftung. Gerade gestern abend war in den „Tagesthemen" ein Bericht von dem Dioxin-Kongreß in Karlsruhe zu sehen. Dort wurde uns erklärt, daß die Dioxin-Belastung in der Muttermilch inzwischen so hoch ist, daß sie für Säuglinge dem Hundertfachen der Belastung eines Erwachsenen entspricht. Allerdings gibt es da, wie ich höre, nicht das Geschrei und die Unruhe, daß hier Lebensschutz im Sinne von Kindern betrieben werden müßte.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Geis [CDU/CSU]: Sollen wir deshalb die Kinder abtreiben?)

Das bleibt vom Lebensschutz übrig, wenn man an einigen realen Beispielen überprüft, was Sie damit eigentlich meinen.
Das zur Seite der Kinder.
Kommen wir zur Seite der Frauen. Für die Frauen, die wegen der persönlichen und politischen Verweigerungshaltung der Männer immer noch die Hauptverantwortung für die nachwachsende Generation haben, halten Sie nur moralische Appelle, nicht aber die Absicherung von Chancen bereit, sich auch mit Kindern überall dort so entfalten zu können, wie und wo Frauen es möchten.

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist unwahr, und Sie wissen genau, daß es unwahr ist!)

— Dann haben Sie keine Ahnung von dem Leben von Frauen im Beruf mit Kindern. Dann haben Sie keine Ahnung, wovon Sie reden. Es ist immer und immer wieder dargelegt und bewiesen worden, wie schwer
es Frauen in Ausbildung und Beruf haben, wenn sie für ein oder mehrere Kinder verantwortlich sind.
Sie haben keine Gesetze gemacht, die einen Rechtsanspruch von Kindern auf Kindergartenplätze garantieren.

(Jäger [CDU/CSU]: Aber wir haben mehr Kindergärten gemacht als da, wo Sie mitregieren!)

Sie haben ein Erziehungsgeldangebot für 15 Monate gemacht und scheinen davon auszugehen, daß die Kinder nach 15 Monaten anfangen, sich selbst zu betreuen.

(Geis [CDU/CSU]: Sie haben ja gar nichts gemacht! Sie machen nichts, Sie reden nur!)

Es gibt keine Kleinkind-Krippen, es gibt keine öffentlichen Betreuungsangebote, und in den Schulen geht das Elend erst richtig los, weil dann die Kinder nach zwei Stunden Unterricht oft wieder vor der Tür stehen. Die Mütter sollen diese Löcher stopfen und mit ihrem privaten Einsatz wieder auffangen.

(Geis [CDU/CSU]: Am besten ist, wir schaffen die Kinder ganz ab! Dann reden wir in Ihrem Sinne! Dann dürfen wir überhaupt keine Kinder mehr haben!)

Aber dahinter, meine Herren, steckt eben Methode: Sie sähen die Frauen lieber als Hausfrau und Mutter zu Hause, immer parat für die Kinderbetreuung, ohne Ansprüche auf unabhängige Existenzsicherung und Verwirklichung im Beruf. Für Sie, für die Herren, fällt dabei noch ab, daß auch Sie noch ein Mittagessen auf den Tisch bekommen und gut betreut werden.

(Jäger [CDU/CSU]: Was ist das für ein Niveau!)

— Das ist das, worum es geht, und das ist der Konflikt.
Die Frauen lassen sich heutzutage aber nicht mehr blenden; sie wissen ganz genau, was es bedeutet, aus dem Beruf auszusteigen. Diese Regierung hat schließlich keine Gesetze gemacht, die ihnen den Wiedereinstieg in den Beruf garantieren, die ihnen die Abqualifizierung bei Teilzeitbeschäftigung ersparen — es ist belegt, daß es die Abqualifizierung bei Teilzeitbeschäftigung in wirklich rasanter Weise gibt — , die ihnen die gleichberechtigte und vollwertige Teilhabe am Erwerbsleben sichert, z. B. durch ein Quotierungsgesetz. Daß die Frauen für Kindererziehungsleistungen mit Altersarmut bezahlen, ist spätestens seit der Rentendebatte öffentliches Allgemeinwissen.
Eine Gesellschaft, die Frauen und Männern die Entscheidung für Kinder so schwer macht, decouvriert sich vollends, wenn sie gleichzeitig mit dem Strafrecht Frauen dazu zwingen will, ungewollte Schwangerschaften auszutragen.

(Vorsitz: Vizepräsident Stücklen)

Eine Gesellschaft, die so wenig Wertschätzung für geborenes Leben und für diejenigen zeigt, die die Hauptverantwortung dafür übernehmen, ist in ihrem Engagement für das ungeborene Leben nicht ernst zu



Frau Beck-Oberdorf
nehmen. Und das wissen die Frauen, Frau Verhülsdonk.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die von der Bundesregierung geplanten Änderungen der Praxis des § 218 durch ein neues Beratungsgesetz

(Jäger [CDU/CSU]: Unglaubliche Horrorreden sind das!)

werden denn auch von der Mehrzahl der Frauen als das verstanden, was sie sind: der Versuch, Frauen die eigenverantwortliche Verfügbarkeit über ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Fortpflanzungsfähigkeit abzusprechen und sie, die gerade im Hinblick auf die nachkommende Generation die Verantwortlichen sind, zu Personen zu stempeln, die im Stadium der Schwangerschaft nicht eigenverantwortlich handeln können.

(Geis [CDU/CSU]: Nur eigenverantwortlich? Und für das Kind?)

Das ist der Kern. Sie sprechen den Frauen ab, daß sie eigenverantwortlich handeln können und daß sie selber am allerbesten wissen, ob sie ein Kind zur Welt bringen wollen und großziehen können. Da sollen dann Beratungsgremien her. Das ist eine entwürdigende Entmündigung von Frauen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118820600
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118820700
Bitte; wenn die Uhr stehenbleibt.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118820800
Bitte schön.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1118820900
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie sagen wollen, daß die Frage, ob ein noch nicht geborenes Kind den Anspruch auf Leben hat, in die Verantwortung der Mutter gestellt ist?

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wessen denn sonst?)


Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118821000
Ja.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1118821100
Stimmen Sie dann darin mit mir überein, daß dies ein totaler Widerspruch zu unserer gesamten Rechtsordnung ist, die niemals zulassen kann, daß die Frage, ob ich leben darf oder nicht leben darf, in die Verantwortung eines Dritten gestellt ist?

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118821200
Das ist kein totaler Widerspruch. Denn auch Sie selber müßten wissen, daß es nicht umsonst im Strafrecht eine Unterscheidung zwischen dem § 211 und dem § 218 gibt. Diese juristische Trennung im Strafrecht zeigt sehr wohl, daß selbst innerhalb des Strafgesetzbuchs eine rechtliche Unterscheidung vorgenommen worden ist.

(Geis [CDU/CSU]: Aber das ist doch keine systematische Trennung!)

Sie können sagen, daß Sie ethisch anderer Ansicht sind. Das ist vollkommen in Ordnung. Darüber geht die gesellschaftliche Auseinandersetzung. Sie können sich aber nicht auf das Strafgesetzbuch berufen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118821300
Eine weitere Zwischenfrage, bitte.

Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1118821400
Würden Sie mit mir übereinstimmen, daß der Unterschied zwischen dem Strafmaß des § 211 und dem Strafmaß des § 218 nicht in der Systematik der Strafbarkeit der Tötung von Leben begründet ist, sondern eine Frage der Wertung der Schwere der Tat selber ist, daß es also nicht um die Frage geht, ob es — das ist ja die Ausgangsfrage gewesen — in die Verantwortung eines Dritten gelegt wird, ob ich leben darf oder nicht?

Marieluise Beck-Oberdorf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118821500
Das, Herr Kollege, was Sie jetzt betreiben, halte ich für Sophismus.

(Jäger [CDU/CSU]: Ach!)

Es geht darum, daß in diesem Strafrecht eine Unterscheidung vorgenommen worden ist.

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist sophistisch, was Sie da antworten!)

Letztlich geht es um eine ethische Frage, nämlich um die, daß der Konflikt überhaupt nicht gelöst werden kann, daß hier ein ungeborenes Leben und das Leben einer Frau, die schon da ist, unter Umständen in ihren Interessen gegeneinanderstehen. Die Frage ist nur, wer das dann entscheidet. Und es ist, meine ich, einfach unmenschlich, daß Sie tatsächlich bereit sein wollen, mit dem Strafrecht eine Frau zu zwingen, gegen ihren Willen in ihrem Bauch ein Leben wachsen zu lassen, es zur Welt zu bringen und dann großzuziehen. Das ist etwas, was einfach menschlich nicht geht. Ich kann Ihnen sagen — das wissen vielleicht auch Sie; wir wissen es sehr gut — : Was kommt denn bei der Generation unserer Mütter, die vielfach vielleicht sehr viel festere ethische Weltbilder als wir hatten, am Ende ihres Lebens zum Vorschein? Bei den Frauen, egal, ob religiös oder nicht, kommt in der Regel zum Vorschein, daß sie irgendwann in ihrem Leben einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hab en.

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist eine unglaubliche Unterstellung! Unglaublich!)

Wollen Sie diese Frauen zu Mörderinnen erklären? Sie können das nicht machen. Das ist ein ethischer Konflikt, der mit dem Strafrecht nicht lösbar ist.

(Geis [CDU/CSU]: Deswegen haben wir doch den Unterschied zwischen § 211 und § 218! Sie müssen sich genauer orientieren! — Jäger [CDU/CSU]: Eine Beleidigung von Millionen von Frauen ist das, was Sie da gesagt haben!)

Die grüne Position zu den Fragen, die hier zur Diskussion stehen, ist sehr klar:
Erstens. Der beste Schutz ungeborenen Lebens ist der Schutz des geborenen Lebens, d. h. die tiefgreifende — ich meine wirklich: tief greifende — kinderfreundliche Umgestaltung unserer Gesellschaft.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Jäger [CDU/CSU]: Das sagen ausgerechnet Sie!)

Davon sind wir meilenweit entfernt.



Frau Beck-Oberdorf
Zweitens. In Schwangerschaftskonflikten haben Strafrecht und Zwang zur Beratung nichts zu suchen,

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist eine Einstellung! Das ist ja schrecklich!)

sehr wohl aber ein breites Angebot für freiwillige qualifizierte Beratung ohne Bevormundung. Wie Sie mit diesem freiwilligen Angebot umgehen, wie die Familienberatungsstellen, wie die Frauentherapiezentren ständig um ihre Existenz bangen müssen, von Monat zu Monat, dazu sollten Sie sich mal verhalten.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Verhülsdonk [CDU/CSU]: Frau Kollegin, das ist Ländersache! Wenden Sie sich mal an die! — Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD] [zu Frau Verhülsdonk gewandt]: Schauen Sie sich mal die CDU-regierten Länder an!)

Drittens. Durch qualifizierte zielgruppenorientierte Sexualaufklärung und die Verfügung über Verhütungsmittel lassen sich ungewollte Schwangerschaften am besten vermeiden, wie auch belegbar ist.
Die beiden vorliegenden Anträge der SPD unterstützen wir in ihren Forderungen. Das Sofortprogramm sieht konkrete Erleichterungen für Mütter und schwangere Frauen vor, die im Gegensatz zur MutterKind-Stiftung der Bundesregierung mit ihrem Almosencharakter tatsächlichen Unterstützungscharakter haben.

(Geis [CDU/CSU]: Sie wollen gar nichts tun!)

Es kann, wie im Antrag ja bereits eingeräumt, die Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft nicht beseitigen, aber die Situation der Mütter etwas verbessern.

(Geis [CDU/CSU]: Sie schlagen Abtreibung vor! — Frau Weiler [SPD] [zu Abg. Geis gewandt]: Unverschämt!)

— Das ist ein Unsinn, was Sie da reden. Sie reden wissentlich Unsinn.
Was den von der SPD geforderten freien Zugang zu Verhütungsmitteln angeht, möchte ich an unseren Antrag zur Finanzierung von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen erinnern, den damals auch die SPD mit dem Argument, es sei nicht zu finanzieren, abgelehnt hat.
Ein letztes Wort zu dem Vorwurf, wir würden Abtreibung vorschlagen: Das ist schlichtweg Unsinn. Ich habe Ihnen sehr deutlich dargelegt, daß die erste Priorität eine wirkliche Gestaltung dieser Gesellschaft — und das umfaßt alle Politikbereiche — ist, damit Menschen mit Kindern so frei und so glücklich leben können, wie es nur irgend möglich ist, und vor allen Dingen Frauen nicht ihre eigenen Lebenschancen und ihre Selbstverwirklichung zurücknehmen müssen, weil sie ein Kind auf die Welt bringen. Natürlich weiß im Augenblick jede Frau, die „Karriere" machen möchte, daß sie am allerbesten fährt, wenn sie auf den Wunsch nach einem Kind verzichtet. Natürlich weiß jede Frau, daß die Einschränkungen durch ein Kind extrem sind.
Ich beharre allerdings darauf, daß es in einer Gesellschaft unmenschlich ist, eine Frau zum Austragen eines Kindes zu zwingen.

(Geis [CDU/CSU]: Aber Tötung ist doch unmenschlicher, oder nicht?)

Was bedeutet das für eine Lebenschance des Kindes?
Wir beharren auch darauf, daß wir das Recht auf freie Selbstentscheidung für Frauen brauchen. Da allerdings besteht der Unterschied.

(Beifall bei den GRÜNEN — Geis [CDU/ CSU]: Töten ist noch unmenschlicher, oder nicht? — Jäger [CDU/CSU]: Eine lebensund frauenfeindliche Rede! — Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE] [das Rednerpult verlassend]: Das lassen Sie mal die Frauen selber entscheiden!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118821600
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1118821700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zeitpunkt Anfang Januar der Beratung von zwei Anträgen zu gesellschaftspolitisch sehr wichtigen Themen, die bereits 1988 und 1989 gestellt worden sind, macht deutlich, wie sehr das Parlament mit einer Fülle von anderen Beratungsgegenständen eingedeckt war, so daß wir früher nicht beraten konnten. Ich bedaure sehr, daß eine Beratung dieser beiden Themen zu einem früheren Zeitpunkt nicht möglich war, denn rückblickend möchte ich vermuten, daß gewisse Entscheidungen, z. B. beim Jugendhilferecht, eine andere Wendung genommen hätten, wenn die in den Anträgen zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen auch, muß ich jetzt sagen, von den sozialdemokratischen Finanzministern in SPD-regierten Bundesländern verinnerlicht und umgesetzt worden wären.
Die in den beiden Anträgen erhobenen Forderungen und vor allen Dingen die Begründungen sind meines Erachtens teilweise durchaus bedenkenswert und decken sich in verschiedenen Teilen auch mit Forderungen der FDP-Frauen und vor allen Dingen mit Forderungen, die auch ich hier im Deutschen Bundestag schon erhoben habe. Sie machen sehr deutlich, was zur Verbesserung der Lage ungewollt schwangerer Frauen und auch gewollt schwangerer Frauen und Mütter wünschenswert und notwendig wäre. Sie weisen meines Erachtens jedoch auch nach, daß Sie das alte Rollenverständnis noch sehr verankert haben. Natürlich zeigen diese Anträge auch den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch in den SPD-regierten Bundesländern auf.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Sicher!)

Der Inhalt läßt mich der Versuchung nicht widerstehen, nach der Glaubwürdigkeit des sozialdemokratischen Hoffnungsträgers Oskar Lafontaine, des Ministerpräsidenten meines Bundeslandes, in diesem Zusammenhang zu fragen.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Eine gute Frage!)

Beim Studium der beiden Anträge ist mir erneut und mit aller Deutlichkeit bewußt geworden, welche gravierenden Defizite in der Tat noch bei der Sexual-



Frau Würfel
aufklärung und bei der Lage der Schwangeren und Mütter in unserer Gesellschaft zu finden sind. Ich bekenne, daß sich in den zurückliegenden Jahren während der sozialliberalen Koalition dieser Problemstellungen ganz offensichtlich auch nicht in dem Maße angenommen wurde, wie es erforderlich gewesen wäre, und daß ich mir in der jetzigen Koalition eine nachhaltigere Umsetzung meiner frauenpolitischen Vorstellungen gewünscht hätte.
Wir haben hier im Plenum des Deutschen Bundestages wiederholt die noch nicht ausreichenden gesellschaftlichen Hilfen für Schwangere und Familien angesprochen. Wir müssen eingestehen, daß für uns Frauen- und Familienpolitikerinnen und -politiker nach wie vor die Notwendigkeit besteht, auf die Defizite in diesen Bereichen hinzuweisen und dafür zu sorgen, daß in der Frauen- und Familienpolitik in den nächsten Jahren, d. h. auch in der nachfolgenden Koalition, entscheidende weitere Verbesserungen erfolgen müssen.

(Beifall bei der FPD)

Es steht außer Frage, daß die Weichen bereits in dieser Koalition in die richtige Richtung gestellt worden sind. Dennoch ist es meines Erachtens unerläßlich, gerade in diesem Bereich bei Eintritt in neue Koalitionsverhandlungen deutliche Signale zu setzen.
Der Zustrom von Aus- und Übersiedlern — Sie wissen, daß darunter sehr viele Familien mit kleinen Kindern sind — fordert uns auf diesem Gebiet noch mehr heraus, als es bisher der Fall war. Diese Mütter, meine Damen und Herren, sind daran gewöhnt, Familienpflichten und Beruf miteinander vereinbaren zu können. Sie erwarten sich durch die Ausübung einer Berufstätigkeit bei uns mit der entsprechenden Entlohnung selbstverständlich eine Teilhabe an unserem wirtschaftlichen Aufschwung. Leider können wir Ihnen weder Kinderkrippen noch eine ausreichende Zahl Kindertagesplätze, noch Ganztagsschulen für ihre Kinder und auch nicht für unsere Kinder anbieten.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Leider wahr!)

Dabei wäre es bei diesem Personenkreis gerade wichtig, für eine schnelle Integration aller Familienmitglieder in unser Gesellschaftssystem zu sorgen.
Hier möchte ich einmal anmerken, daß die Übersiedler bei uns garantiert keine Einschränkung der Sozialleistungen erwartet haben, für die sich leider auch Oskar Lafontaine in der Vergangenheit stark gemacht hat. Es ist schon verwunderlich, wie in diesem Fall argumentiert wird. Denn wir müssen uns doch eingestehen, daß die hier zur Debatte stehenden SPD-Anträge Rechtsansprüche fordern, die zu einem starken Ausbau des Sozialetats führen würden. Bei den komplexen Fragestellungen, die durch den Zustrom von Aussiedlern und Übersiedlern in unserem Land aufgeworfen werden, mutet es natürlich jetzt etwas anachronistisch an, wenn im SPD-Antrag eine bevorzugte Arbeitsvermittlung für schwangere Frauen gefordert wird und die Ersteingliederung und Wiedereingliederung in das Berufsleben vorrangig für junge Mütter betrieben werden soll.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118821800
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1118821900
Aber selbstverständlich. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1118822000
Da Sie von Sozialpolitik reden, Frau Kollegin, erlaube ich mir die Frage, ob Sie die 600 DM Kindergeld im Jahr für eine alleinerziehende Verkäuferin im Vergleich zu dem maximalen Ehegattensplitting-Vorteil von 24 000 DM im Jahr für ein kinderloses Ehepaar als einen besonderen Ausdruck Ihrer familienfreundlichen Sozialpolitik halten.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1118822100
Nein, das halte ich nicht. Ich werde auch versuchen, dort Änderungen vornehmen zu lassen, sobald ich das kann.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke, bei der Situation, die wir zur Zeit in der Bundesrepublik vorfinden, können wir uns nicht allein und nicht in dieser Massivität den schwangeren Frauen und ihren Bedürfnissen zuwenden, sondern wir müssen gleichermaßen an die älteren Frauen denken und auch — wenn ich mir das zu sagen erlauben darf — an meine Generation. Denn auch wir, die wir uns jahrelang den Familienpflichten gewidmet haben, wollen so leicht wie möglich in das Berufsleben zurückkehren und nicht eine solche Menge an Hürden vorfinden, wie sie uns jetzt in der Bundesrepublik geboten werden.
Was den Mangel an bedarfsgerechten Wohnungen angeht, den Sie in Ihrem Antrag zu Recht aufgeführt haben, so betrifft dieser Mangel gegenwärtig natürlich alle Bevölkerungskreise. Ich glaube, daß niemand verstehen könnte, wenn wir Ihrem Anliegen in diesem Punkt folgten und schwangere Frauen bei der Vermittlung von Wohnungen bevorzugt berücksichtigen würden. Allerdings macht die Forderung als solche deutlich, daß es mehr Gerechtigkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen bei uns geben muß. Aber wir dürfen dabei keinesfalls eine Ausgrenzung anderer vornehmen.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Aber jetzt sind sie doch benachteiligt!)

Die Palette der zu Recht von Ihnen erhobenen Forderungen im Hinblick auf eine Verbesserung der Situation Schwangerer, Alleinerziehender und Familien ist groß.

(Abg. Frau Dr. Götte [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich darf weitermachen. — Bei der Diskussion zum Kinder- und Jugendhilferecht hat sich allerdings gezeigt, wie wenig durchsetzungsfähig diese Forderungen im Ernstfall sind. Unsere jetzige Bundestagspräsidentin und damalige Frauen- und Familienministerin erhob — wie viele andere Kolleginnen und Kollegen — bei der Ausgestaltung eines neuen Kinder- und Jugendhilferechts zu Recht die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind für die Dauer von drei Jahren. Ich glaube, ich brauche hier nicht noch einmal deutlich zu machen, wie unerträglich lange Wartezeiten auf einen Kinder-



Frau Warfel
gartenplatz für die Betroffenen sind. Und ich möchte auch anführen, daß Kinder daneben das Zusammensein mit Gleichaltrigen brauchen, weil nur dann soziales Lernen möglich ist, und daß für unsere Aus- und Übersiedlerkinder der Kindergarten ja der Ort ist, wo sie die notwendigen sozialen Kontakte zu den einheimischen Kindern knüpfen können und wo sie die deutsche Sprache spielerisch erlernen können.
Und dann muß man einfach einmal eingestehen, daß das alles ziemlich erbärmlich gelaufen ist. Denn auch diese einleuchtenden Gründe für einen Ausbau der Kindergärten — wenigstens der Kindergärten — haben auch die sozialdemokratischen Landesfinanzminister nicht veranlassen können, dem von uns ursprünglich geforderten Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zuzustimmen. Sie waren es leider, die diese Forderung im Einvernehmen mit anderen zu Fall brachten. Die Festschreibung eines „bedarfsgerechten Ausbaus von Kindertagesstätten" , wie es jetzt heißt, liegt im Ergebnis unter unserer Zielsetzung. — Frau Götte, ich glaube, Sie sehen, daß ich Ihre Forderungen und Anträge nicht in Bausch und Bogen verdamme, wie Sie es vorhin gesagt haben, sondern nur in Teilen etwas kritisch anzumerken habe.
Einen Übergang zum zweiten Thema, der Sexualaufklärung, kann ich nun darin finden, daß Sie, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, bei Ihren Forderungen zur Verbesserung der Lage Schwangerer die Verantwortlichkeit des Mannes dabei völlig außen vor lassen.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das steht gerade nicht drin!)

— Doch! — Im Grunde genommen zementieren Sie damit das alte Rollenverständnis allein schon dadurch, daß Sie Forderungen aufstellen, wie die schwangere Frau und Mutter ihr Leben alleinverantwortlich meistern kann.
Lafontaine als der angeblich große Vordenker für die Gesellschaft der Zukunft geht da wesentlich anders vor, jedenfalls verbal und in seinen Publikationen. Was die Umsetzung seiner Vorstellungen zum Wohle der Frauen und Kinder im Saarland anlangt, wo er jetzt immerhin fünf Jahre lang die Möglichkeit der Anwendung seiner publizierten Vorstellungen hatte, so ist dies ein bemerkenswert trauriges Kapitel.

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wer glaubt, die saarländischen Mütter und Kinder fänden günstigere Lebensbedingungen vor als die Mütter und Kinder in anderen Bundesländern, täuscht sich leider gewaltig.

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Zwar gibt es großspurige Veröffentlichungen über das angebliche „Kinderland Saar" . Jedoch klaffen auch hier Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Ja, man kann direkt sagen, daß Lafontaine die Familien im Saarland im Stich gelassen hat.

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Von einem konkreten Engagement für Kinder und Frauen sowie Familien ist weit und breit nichts zu sehen.

(Geis [CDU/CSU]: Das muß man einmal hören!)

Im Gegenteil: Seit Lafontaine im Saarland regiert, sind eine ganze Reihe familienpolitischer und frauenfreundlicher Leistungen abgeschafft worden;

(Geis [CDU/CSU]: Das muß man einmal registrieren! — Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

sinnvolle neue Leistungen sind nicht hinzugekommen.
Ich möchte Ihnen jetzt zeigen, wie das im einzelnen aussieht: Als erste Maßnahme wurde das Familiengründungs- und Geburtendarlehen gestrichen. Es wurde eine Landesstiftung Mutter und Kind", die Schwangeren in vielen anderen Bundesländern zur Verfügung steht, verhindert.

(Geis [CDU/CSU]: Aha!)

Es kam zu einer Kürzung der Investitionszuschüsse für Kindergärten.

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört! — Geis [CDU/CSU]: Aber Kindergärten werden gefordert!)

Es kam nicht zur Einführung eines landeseigenen Erziehungsgeldes, wie CDU-regierte Bundesländer es haben. Und es kam darüber hinaus zu einer Streichung des Familienhilfefonds für einmalige und außergewöhnliche Hilfen.

(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wer wäre nicht bereit, im vorliegenden Fall von einem Sozialabbau im großen Stil auf Kosten der Kinder, Frauen und Familien zu sprechen?

(Geis [CDU/CSU]: Das muß man einmal wissen!)

Nachdem Lafontaine fünf Jahre lang — entgegen seinen publizierten Vorstellungen — nun wirklich kein Herz für Kinder, Alleinerziehende, schwangere Frauen und Familien gezeigt hat, verwundert es nicht — und mich schon gleich gar nicht —, mit welcher Kaltschnäuzigkeit er bereit war, die Möglichkeiten für Mütter, Schwangere und Familien mit Kindern aus der DDR zu beschneiden.

(Geis [CDU/CSU]: Genau!)

Das Ganze hat System. Auch Oskar Lafontaine wird sich daran messen lassen müssen, wie er mit den Problemen der Frauen und Familien im Saarland umgegangen ist und in Zukunft umzugehen bereit ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Für mich haben das Kind einer Übersiedlerin und auch die Mutter dieses Kindes dieselben Bedürfnisse wie alle Mütter und Kinder. Deshalb müssen sie nach meinem Verständnis auch dieselben Möglichkeiten haben wie wir alle.

(Zuruf von der SPD: Dieselben — ja!)

Aus Zeitgründen kann ich zum Thema Sexualaufklärung nun nur noch weniges sagen. Ich stimme Ihren Forderungen nach einer deutlich verbesserten Se-



Frau Würfel
xualaufklärung unter Einbeziehung einer Sozialpädagogik durch umfangreiche Maßnahmen zu. Ich teile Ihre Auffassung und habe sie ja auch schon hier, im Deutschen Bundestag, ausführlich vertreten.
Eine demokratisch orientierte und auf ein friedliches Zusammenleben hin orientierte Gesellschaft verlangt nach Partnerschaft und verantwortungsbewußtem Handeln auf allen Ebenen. Der Friede nach innen bei allen Völkern Gesamteuropas wird auf Dauer nur zu gewinnen und zu erhalten sein, wenn sich der Gedanke der uneingeschränkten Partnerschaft zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft durchsetzt. Das Verlangen nach Anwendung der Menschenrechte und nach mehr Gerechtigkeit betrifft auch Frauen und Kinder bei ihren Bedürfnissen. Es wäre zu wünschen, wenn der Mann der Zukunft in seiner Eigenschaft als Freund, als Vater, als Ehemann in der Gesellschaft seine Teilhabe an mehr Verantwortung für das vorgeburtliche Geschehen, für die Kindererziehung und die Wahrnehmung der Familienpflichten von sich aus einklagen würde,

(Geis [CDU/CSU]: Da stimme ich Ihnen voll zu!)

und dies aus dem Verständnis heraus, daß er persönlich sehr gewinnen würde, wenn das alte Rollenklischee für ihn verschwände.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD])

Ein Rollenklischee, das ihn dazu verdammt hat, außerhalb der Familie leben zu müssen und nicht teilhaben zu können am Aufwachsen seiner Kinder.
Um nun einer verantwortlichen Teilhabe an der Sexualität gerecht zu werden, bedarf es in der Tat einer umfassenden Sexualaufklärung, die Sie ja mit sehr guten Argumenten untermauert haben. Ich denke, wir werden im Ausschuß noch im einzelnen darüber zu reden haben, wie wir — vielleicht gemeinsam — das eine oder andere hier im Deutschen Bundestag in der Zukunft durchbringen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118822200
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt (Nürnberg).

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1118822300
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen! Liebe Uta Würfel, vielleicht hätten wir diese Diskussion nach dem 28. Januar führen sollen; dann wäre vielleicht manches an deiner Rede ein klein bißchen anders ausgefallen. Darum möchte ich erst einmal auf diesen einen Punkt eingehen.
Ich war vor ganz kurzer Zeit im Saarland, und ich habe mir Zahlen angeschaut. Das Saarland steht an zweiter Stelle, was die Versorgung mit Kindergartenplätzen betrifft — direkt nach Rheinland-Pfalz; man soll bestimmte Länder auch loben. Saarland steht an zweiter Stelle, weit, weit vor Bayern, weit, weit, vor Niedersachsen, das mit einem großen Abstand das Schlußlicht ist.
Im Saarland wurden in den fünf Jahren der Regierungszeit von Oskar Lafontaine die Investitionen und Personalkosten für Kinderkrippen verzehnfacht. Im
Saarland gibt es jetzt — allerdings erst seit kurzem — den Anfang eines Hortgesetzes, um wenigstens dazu zu kommen, Ganztagseinrichtungen zu errichten — und dies vor dem Hintergrund eines Landes, das mit immensen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und das in den vergangenen fünf Jahren Arbeitslosigkeit erfolgreich zu reduzieren versucht hat. Ich muß sagen, wenn alle Bundesländer für Familien in dieser Zeit so viel täten, wäre ich sehr, sehr zufrieden.

(Beifall bei der SPD — Jäger [CDU/CSU]: Das ist aber eine dürftige Liste, die Sie da vorgetragen haben, angesichts der Mängel, die Frau Würfel erwähnt hat!)

— Wie gesagt, ich mache das jetzt aus dem Stegreif. Ich war nicht auf das Saarland, sondern auf unsere Anträge vorbereitet. Insoweit kann ich als Fränkin mit einem längeren Leistungskatalog aus dem Saarland jetzt nicht aufwarten. Herr Jäger (Wangen), entschuldigen Sie bitte dieses Versäumnis!
Nun zu der Frage, ob der Vorrang, den wir schwangeren Frauen bei den Wohnungen einräumen, angesichts der Übersiedlerzahlen nicht gerechtfertigt ist. Ich kenne die Zahlen aus Nürnberg, ich kenne die Zahlen aus München. Wir haben sehr umfangreiche Statistiken darüber, wo denn nun eigentlich die Problemgruppen sind. Ich glaube, wir beide dürften wahrscheinlich auch dann, wenn wir plötzlich ohne Wohnung dastehen, keine besonderen Schwierigkeiten haben, ganz schnell eine neue Wohnung zu finden; wir beide garantiert nicht.
Ich weiß aber, daß gerade alleinerziehende Frauen zu denen gehören, die mehr als ein Jahr warten müssen, wenn sie sozialwohnungsberechtigt sind, bis sie eine geeignete, von ihnen bezahlbare Wohnung finden, insbesondere dann, wenn diese Frauen auch noch mit einem dicken Bauch auf Wohnungssuche gehen müssen. Ich habe das einmal getan. 1971/72 — und damals hatten wir eine bessere Wohnungsversorgung — habe ich im schwangeren Zustand eine Wohnung gesucht, und ich war keine alleinerziehende Frau. Ich weiß, wie das ist. Ich glaube, auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwierigkeiten, der zunehmenden Zahlen von Übersiedlern und Aussiedlern ist unsere Forderung richtig.
Als dritten Punkt hast du angesprochen, daß wir in unserem Antrag die Frage der Partnerschaft in der Sexualität vermeiden würden. Ich möchte aus diesem Antrag zitieren: „Ziel muß es sein, eine partnerschaftliche und angstfreie Verantwortung für Sexualität und Verhütung zu vermitteln und klarzustellen, daß Schwangerschaftsverhütung eine gemeinsame Verantwortung von Mann und Frau ist. " Ich zitiere nur den einen Satz; es wiederholt sich an anderen Stellen. Vielleicht haben wir an mancher Stelle auch etwas versäumt; ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuß.
Nun zu dem, was Sie gesagt haben, Frau Verhülsdonk. Ich wehre mich dagegen, es so zu verstehen, wie Sie sich geäußert haben. Sie haben nämlich versucht, Abtreibung, Schwangerschaftsabbrüche in die Nähe von Euthanasie zu rücken. Ich glaube, das können Sie nicht so gemeint haben. Wenn doch, dann



Frau Schmidt (Nürnberg)

wäre es in meinen Augen eine schlimme Entgleisung.
Nun haben Sie hier unseren Parteitagsbeschluß zitiert und zu konstruieren versucht, daß wir uns aus einem Konsens verabschieden. Ich behaupte, Sie haben sich schon lange aus dem Konsens verabschiedet. Mit der Absicht, ein Schwangerenberatungsgesetz zu schaffen — ich weiß nicht, ob wir darauf noch einmal zurückkommen werden — , haben Sie sich aus dem Konsens schon lange verabschiedet. Sie haben das auch damit getan, daß Sie klare Äußerungen, die zu dem Vorfall von Memmingen notwendig gewesen wären, vermissen ließen.
Damit hier nichts unwidersprochen bleibt, möchte ich jetzt zitieren, was wir in Berlin tatsächlich beschlossen haben. Ich zitiere den gesamten Absatz zum Schwangerschaftsabbruch. Wir haben dort gesagt: „Wir wollen Lebensverhältnisse schaffen, in denen sich Frauen nicht zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen sehen. " Unser Antrag eines Sofortprogramms ist ein Baustein — ich betone, ein Baustein —, der dazu beitragen soll, diese Lebensverhältnisse zu schaffen. Wir wissen jedoch, daß wir nicht alle menschlichen Konflikte lösen können. Es wäre eine Anmaßung, wenn wir glaubten, wir könnten mit unseren politischen Mitteln diese Konflikte wirklich lösen. Das wird niemals möglich sein.
Wir haben weiterhin gesagt: „Die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs hat nicht zum Schutz werdenden Lebens, sondern seit jeher mehr zur Bedrohung und Demütigung von Frauen geführt. " Lesen Sie die Protokolle von Memmingen im Detail, und schauen Sie sich an, wie dort Frauen behandelt worden sind! Wenn dann nicht jeder Frau — egal, welche ethischen, moralischen und religiösen Überzeugungen sie haben mag — schwarz vor Augen wird, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Memmingen ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Neuwied ist der nächste Fall, und es gibt noch viele andere Prozesse, die wir mit dem reformierten § 218 doch wahrhaftig nicht gewollt haben.
Es geht weiter: „Das Strafrecht ist kein geeignetes Mittel für die Lösung von Schwangerschaftskonflikten. " Dies war von jeher unsere Überzeugung. Wir haben immer gesagt: Hilfe statt Strafe. Strafe ist kein geeignetes Mittel, einen Schwangerschaftskonflikt zu lösen. Deshalb wollen wir die erforderlichen gesetzlichen Regelungen außerhalb des Strafrechts treffen. Also keine ersatzlose Streichung, denn wir wissen, es bedarf bestimmter Regeln. Strafe ist kein geeignetes Mittel, deshalb Regelungen außerhalb des Strafrechts.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wir haben weiter gesagt: „Wir wollen werdendes Leben schützen, und das kann nur mit dem Willen, nicht gegen den Willen der Frau geschehen. " Das haben Sie selber gesagt: Gegen den Willen der Frau ist es nicht möglich, werdendes Leben zu schützen. Deshalb erkennen wir die Verantwortung und das Selbstbestimmungsrecht der Frau an. Was dagegen zu sagen ist, das muß mir erst noch jemand erklären.

(Frau Verhülsdonk [CDU/CSU]: Frau Kollegin, Sie haben mich in keinem Punkt widerlegt!)

Wir wissen, daß es keinen Staat und keine Gesellschaft ohne Abtreibungen gibt, unabhängig davon, ob dort drakonische Strafmaßnahmen erfolgen oder eine totale Freigabe gilt. Das ist erklärlich aus der Einmaligkeit dieses Konflikts, nämlich der untrennbaren Abhängigkeit von zwei Leben voneinander, eines Konflikts, dessen Einmaligkeit von vielen nicht begriffen wird. — Leider ist der Herr Geis nicht mehr da; er begreift es wirklich nicht. Auch ein Bischofsamt in Fulda schützt vor diesem Nichtbegreifen nicht.
In unserer Fraktion ist seit der Diskussion um Memmingen und das geplante, zu den Akten gelegte, wieder hervorgeholte, endgültig abgesagte und doch wieder geplante Schwangerenberatungsgesetz der Posteingang zum § 218 sehr hoch. Frauen und Männer schreiben beinahe gleich häufig. Das Bezeichnende dabei ist, daß bei den Briefen der Männer 80 bis 90 % die Aufforderung enthalten, die sogenannte soziale Indikation zu streichen, und damit also versuchen, Leben mit dem Strafgesetzbuch zu schützen. Dagegen fordern uns 80 bis 90 % der Zuschriften der Frauen auf, das Schwangerenberatungsgesetz zu verhindern, den § 218 zu liberalisieren oder ihn ganz zu streichen.
Ich glaube, das zeigt auch die Art des Konflikts: Frauen und Mütter wissen, daß sie keine Möglichkeit haben, über eine größere oder kleinere Distanz gegenüber ihrem Kind zu entscheiden. Die Verantwortung, die sie mit der Geburt des Kindes eingehen, ist eine lebenslange. Frauen und Mütter wissen aber auch, daß die Väter ihrer Kinder diese Entscheidungsmöglichkeit sehr wohl haben. Die Entscheidung, in welchem Umfang sie nicht nur Väter werden, sondern auch Väter sein wollen, wird leider von viel zu vielen so getroffen, daß sie sich vom Vatersein gänzlich verabschieden und nicht einmal die materielle Existenz ihrer Kinder sichern.
Schwangerschaftskonflikte sind immer vielschichtig. Sie umfassen viel mehr als die materiellen Umstände und die äußeren Lebensbedingungen der Frau. Sie umfassen die psychische Situation ebenso wie die Angst vor dem Verlassenwerden und die Sorge, einem Kind oder einem weiteren Kind nicht gewachsen zu sein. Meiner Ansicht nach würden wir uns übernehmen, wenn wir glauben würden, daß wir Zuversicht und Optimismus, das Gefühl, geliebt zu werden und geborgen zu sein, vom Gesetzgeber oder vom Arzt oder von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen verordnen könnten.
Deshalb behaupten wir auch nicht, daß wir mit den beiden Anträgen, die wir hier vorgelegt haben, ein Gesamtlösungsmodell dieses komplizierten Themas vorlegen. Hinzu kommen muß die Entkriminalisierung der Frauen, hinzu kommen muß die freiwillige Beratung, hinzu kommen muß ein verbessertes und überall plurales Beratungsangebot mit besserer materieller Ausstattung.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)




Frau Schmidt (Nürnberg)

Um noch einmal zur Beratung zu kommen: Frau Ministerin, ich hoffe, wir hören heute von Ihnen endgültig, was nun eigentlich los ist. Entscheiden Sie das eigentlich, oder entscheidet das Herr Seiters? Wurde dazu eine Koalitionsvereinbarung getroffen, oder wurde sie das nicht? Wie lange sollen eigentlich dieses Spiel und diese Verunsicherung noch weitergehen?
Den Lebensschützern und Teilen der katholischen Kirche wird signalisiert, es komme noch, und mit der FDP wird gleichzeitig vereinbart, es sei vom Tisch. Das wird dann so den einschlägigen Frauenorganisationen mitgeteilt.
Wir fordern in diesem Punkt von Ihnen jetzt endlich Klarheit. Sie sind die federführende Ministerin und sollten sich von den Männern nicht dauernd in Ihren Kompetenzbereich hineinregieren lassen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Diese Verunsicherung hat in der Zwischenzeit übrigens zu vielem geführt, das dem geltenden § 218 widerspricht. Z. B. behaupten Ärzte, sie dürften keine Indikation stellen und stellen Frauen deshalb weg. Z. B. wird die Beratung durch Verordnungen und Gesetze wie in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern zum Rechtfertigungszwang der Frauen; das ist dann keine Beratung mehr. Es führt dazu, daß aus diesen Ländern in andere Länder gegangen wird, um Beratung, Indikation und vor allen Dingen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen.
Sie sind unseres Erachtens auf dem falschen Weg. Sie werden mit derartigen Restriktionen Leben nicht schützen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen Leben schützen, das Leben von Müttern und Kindern und auch werdendes Leben. Wir wissen aus dem benachbarten Ausland, z. B. den Niederlanden, daß dies dort besonders gut gelingt — also vergleichsweise wenig Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden —, wo eine liberale Gesetzgebung, die die Straf- und Entscheidungsfreiheit der Frauen beinhaltet, und eine unverkrampfte zielgruppenorientierte Aufklärung sowie verläßliche Hilfen zusammentreffen.
Wir haben Ihnen heute mit unseren beiden Anträgen zwei Bausteine vorgelegt, um ein derartiges Konzept zu verwirklichen. Wir werden noch in diesem Jahr im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verbesserungen vorlegen, um unserem Ziel der Straf- und Entscheidungsfreiheit der Frauen näher zu kommen. Wir brauchen Hilfen auch mit Rechtsanspruch.
Unser Konzept ist aus einer Befragung von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen entstanden. Wir haben sie bundesweit durchgeführt und haben die Notsituationen, die am häufigsten auftreten und die Frauen in bestimmten Fällen dazu bringen, über einen Schwangerschaftsabbruch nachzudenken und ihn auch durchzuführen, in diesem Antrag aufgeführt. Das ist besser als die Stiftung „Mutter und Kind" mit ihren willkürlichen Zahlungen ohne irgendeinen Rechtsanspruch.
Wenn in unserem reichen Land Kleinanzeigen wie diese aus einer heutigen Tageszeitung „Biete 500 DM für einen Kindergartenplatz" möglich sind, dann stimmt etwas nicht, dann ist der verbindliche Rechtsanspruch auf Kindergartenbetreuung überfällig.
Wir haben mit unseren Anträgen auf wichtige Probleme junger Familien hingewiesen. Würden wir sie lösen, gäbe es vielleicht einige Schwangerschaftskonflikte weniger, würden wir werdendes Leben vielleicht wirksam schützen. Gäbe es bei uns bundesweit eingeführt sexualpädagogischen Unterricht und Erziehung zur Partnerschaft und nicht die alleinige Verantwortung der Frauen für Schwangerschaftsverhütung, gäbe es wahrscheinlich einige ungewollte Schwangerschaften weniger. Ich kann Sie nur auffordern: Werfen Sie Ihre Ideologie von vorvorgestern über Bord, sorgen Sie mit uns gemeinsam für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft, nicht nur Plakate, sondern durch Taten. Dies wäre in jeder Hinsicht der beste Lebensschutz.

(Frau Verhülsdonk [CDU/CSU]: Dazu habe ich Sie eben ja auch aufgefordert! Tun Sie mal was, und reden Sie nicht nur!)

— Gerne!

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118822400
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Schmidt (Spiesen).

Trudi Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1118822500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure ebenso wie Frau Würfel, daß wir über diesen Antrag der SPD, der ja bereits vom 21. Juni 1988 datiert, erst heute debattieren, wurde doch ein Großteil dessen, was die SPD in ihrem Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien fordert, bereits von uns während dieser Legislaturperiode erfüllt.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Ein Punkt wurde erledigt!)

— Aber das Programm heißt so: Frauen, Mütter und Familien!
Ich möchte hier nur einige Beispiele aufzählen; es geht auch um Familien. Zu dem, was Frau Würfel vorhin über die Situation im Saarland gesagt hat, kann ich also sagen: Wir hatten diesen hohen Stand an Kindergartenplätzen schon vor dieser Regierung. Was Herr Lafontaine gestrichen hat, waren Leistungen, die vorher eingeführt wurden.
Kurz zu dem, was diese Regierung bis jetzt gemacht hat: Seit 1. Januar 1988 Erhöhung der steuerlichen Ausbildungsfreibeträge, Erhöhung des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehende, am 1. Januar 1990 weitere Erhöhung, Verlängerung der Zahlung des Erziehungsgeldes, Verlängerung des Erziehungsurlaubs von 12 auf 15 Monate, ab 1. Juli 1990 auf 18 Monate. Das Fernziel ist — das sage ich jetzt ganz persönlich — drei Jahre; eine solche Regelung besteht in einigen EG-Staaten. Das Erziehungsgeld wird auch bei einer Beschäftigung bis zu 19 Stunden pro Woche gezahlt, Erziehungsgeld auch für Auszubildende ohne Unterbrechung ihrer Ausbildung, bei Mehrlingsgeburten Erziehungsgeld für jedes der Kinder, Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrags, Anhebung des Kindergeldzuschlags, am 1. Juli 1990 Anhebung des Kindergeldes für das zweite Kind, am 1. Januar 1990 Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetra-



Frau Schmidt (Spiesen)

ges und Einführung eines linearen Steuersatzes; Manteltarifverträge mit Angabe über Teilzeitarbeit, Sonderprogramm des BMJFFG zur beruflichen Wiedereingliederung; Installierung von Frauenplänen im öffentlichen Dienst und in vielen Privatunternehmen, zahlreiche Betriebsvereinbarungen mit Wiedereingliederungszusagen nach der Familienphase in großen Unternehmen.
Aber, meine Damen und Herren, diese Erfolge genügen uns auch noch nicht. Wir wissen, daß noch erhebliche Defizite beim Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen bestehen. Aber ich erinnere nochmals, wie es Frau Verhülsdonk schon getan hat, an die Aufgabe der Länder und Gemeinden, Kindergartenplätze dem Bedarf entsprechend für alle Altersgruppen mit flexiblen Öffnungszeiten zur Verfügung zu stellen.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Da macht es sich der Bund zu leicht!)

Gleichzeitig fordere ich die Bundesregierung auf, Betrieben weitere steuerliche Anreize zur Schaffung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu bieten, um jungen Müttern, insbesondere den alleinerziehenden, die ja meistens nicht motorisiert sind, weite Wege zum Hort oder zur Kinderkrippe zu ersparen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ein größeres Angebot an betrieblicher Kinderbetreuung vorhanden wäre, könnten diese Mütter ihre wöchentliche Arbeitszeit verlängern, da die Erwerbstätigkeit zur wirtschaftlichen und sozialen Sicherung führen soll.
Im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit wird derzeit ein Modellprojekt zur betrieblichen Kinderbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Bedeutung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorbereitet.
Eine weitere Möglichkeit wäre auch, bei dem insgesamt unzureichenden Angebot an Ganztagsbetreuungsplätzen Betriebe zu motivieren, Belegplätze in öffentlichen Kindergärten zu finanzieren und die Arbeitszeiten für Mütter und Väter familienfreundlicher zu gestalten, so daß das bestehende Angebot auch eher genutzt werden kann. Die Bundesregierung sollte mit gutem Beispiel vorangehen und in den eigenen Behörden und Unternehmen Kindertagesstätten einrichten.
In einigen Bundesbehörden gibt es bereits solche Tagesstätten, z. B. im Bundestag, BMI, BMF, BMVg, AA, BMJFFG. Mitarbeiter anderer Bundesbehörden können diese Einrichtungen ebenfalls in Anspruch nehmen. Vom Bundesrechnungshof wird zwar immer darauf verwiesen, daß der Bund keine Zuständigkeit zur Einrichtung von Kindertagesstätten besitze. Dieser Ansicht bin ich aber nicht. Der Bund ist Arbeitgeber, zu dessen Fürsorgepflicht auch gehört, Möglichkeiten zu schaffen, durch die Familie und Beruf besser miteinander vereinbart werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Maßnahmen zur Kinderbetreuung sollten auch im Rahmen des Benachteiligtenprogramms gefördert werden, um jungen Müttern auch in diesem Programm eine Ausbildung bzw. nach der Geburt ihrer Kinder die Fortsetzung ihrer Ausbildung zu ermöglichen.
Für 320 000 Frauen, die jährlich nach der Familienphase in den Beruf zurückkehren wollen, gibt es immer noch kein ausreichendes Angebot. Es sollte deshalb ein Rechtsanspruch auf Wiedereingliederungsmaßnahmen für Männer und Frauen im Arbeitsförderungsgesetz verankert werden. Eine wichtige Hilfe für Eltern wäre auch ein Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung.
Meine Damen und Herren von der SPD, zu Ihrem weiteren Antrag, dem Konzept zur Sexualaufklärung, noch einige kurze Ausführungen. Mit großem Bedauern stellen wir fest, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche immer noch sehr hoch ist, und das trotz der angebotenen Hilfen und Verbesserungen im Bereich der Familienpolitik. Dazu gehört auch die Stiftung „Mutter und Kind", die Sie ja gerne abschaffen würden.

(Conradi [SPD]: Das Ehegattensplitting!?)

Hierfür wurden im Jahre 1989 130 Millionen DM zur Verfügung gestellt. 250 000 Mütter haben die Stiftungsmittel bis heute in Anspruch genommen.
Um nun die Zahl ungewollter Schwangerschaften zu verringern, sind wir ebenfalls der Ansicht, daß Sexualerziehung und -aufklärung in größerem Umfang angeboten werden müssen. Hier hat die Bundesregierung im Gegensatz zu Ihrer Behauptung ja schon einiges getan.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Ja, jetzt, aber es hat acht Jahre gedauert!)

Wie auch Frau Verhülsdonk schon erwähnte, gibt es eine neue Filmserie mit dem Titel „Der Liebe auf der Spur", die zur Zeit in einigen Regionalfernsehanstalten ausgestrahlt wird. Dazu steht noch eine Reihe von Materialien zur Verfügung.
Außerdem ist ein Modellprojekt zur Verhütung von Teenagerschwangerschaften vorgesehen. Dabei hoffe ich aber, daß Sexualaufklärung in Zukunft ganz besonders junge Männer zu einem verantwortlichen Sexualverhalten erzieht. Sie stehlen sich leider immer noch allzuoft aus dieser Verantwortung.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das ist wahr!)

Unsere Auffassung zur Sexualerziehung ist wertorientiert, d. h. junge Menschen müssen das notwendige Wissen erhalten, um verantwortlich darüber entscheiden zu können, ob und wann sie ein Kind haben wollen. Partnerschaft und Verantwortung im Umgang mit Sexualität werden als vorrangig betrachtet.
Was Ihre Aussage zur Einstampfung einer Aufklärungsschrift anbelangt, darf ich Sie doch einmal bitten, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre eigene Anfrage zu den Vertriebsverboten für Aufklärungsmaterialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Hand zu nehmen. Dann stellen Sie fest, daß Ihre Broschüre „Muß-Ehen muß es nicht geben" bis zum letzten Exemplar verteilt worden ist. Eingestampft wurde allerdings die siebenteilige Filmserie „Betrifft Sexualität" und die dazugehörende Ar-



Frau Schmidt (Spiesen)

beitsmappe, die von Ihrer Regierung noch kurz vor der Wende neu aufgelegt worden ist. Diese war mit unserer Auffassung von verantwortlichem Umgang mit Sexualität in einzelnen Passagen nicht vereinbar. Die Rücknahme erfolgte aber erst nach der Weigerung einiger Autoren, diese Passagen zu ändern.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118822600
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1118822700
Frau Kollegin, ist Ihnen die Tatsache bekannt, daß im Land Rheinland-Pfalz die damalige Kultusministerin Hanna-Renate Launen die Broschüre „Muß-Ehen muß es nicht geben" vor der Verteilung in den Schulen durch Verbot bewahrt hat, und zwar mit der Bemerkung „Diese Broschüre, die ich mich geniert habe, meinen jungen Schreibkräften zu zeigen, wird an rheinland-pfälzischen Schulen nicht verteilt werden"?

Trudi Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1118822800
Es kann sein, Frau Dr. Götte, aber ich weiß das nicht. Ich habe hier nur zitiert, was aus dieser Antwort der Bundesregierung hervorgeht.
Eines möchte ich aber noch feststellen: Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, jungen Menschen die Verantwortung für den Umgang mit Sexualität vollständig abzunehmen. Deshalb kann diese Verantwortung auch nicht zu einer Frage der Finanzierung reduziert werden.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118822900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wegner.

Dr. Konstanze Wegner (SPD):
Rede ID: ID1118823000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte eigentlich ganz anders anfangen, aber Ihre Ausführungen, Frau Kollegin Würfel, animieren mich zu einer Bemerkung. Ich habe mich über weite Teile Ihrer Rede sehr gefreut, weil Sie uns eigentlich in allen sachlichen Punkten zugestimmt haben. Bloß haben Sie gravierende Zweifel an der Frauen- und Kinderfreundlichkeit von Oskar Lafontaine geäußert. Ich kann Ihnen versichern, daß das nicht zutrifft, und ich kann Ihnen auch sagen: Wenn Oskar Lafontaine erst Kanzler ist, werden die SPDFrauen schon sehen, daß er auch zu dem steht, was er jetzt versprochen hat.

(Beifall bei der SPD — Frau Verhülsdonk [CDU/CSU]: Mit Worten sind Sie immer stark! — Die Taten möchten wir sehen!)

Er ist bestimmt kein Frauenfeind, sicher nicht,

(Frau Beck-Oberdorf [GRÜNE]: Nein, ganz im Gegenteil, er liebt die Frauen! — Conradi [SPD]: Ist das verboten?)

auch kein Kinderfeind.
Nun möchte ich zum Thema zurückkommen und etwas zum Konzept der Sexualaufklärung sagen. Das Ziel dieses Antrages ist es ja, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche weiter zu senken. Ich muß sagen, daß die Debatte über die Zahl der Abbrüche nicht immer sachlich geführt wird. Gerade von Ihrer Seite wird sehr häufig mit einer dauernd steigenden Zahl von Abbrüchen argumentiert. Das ist nicht zutreffend; denn dabei wird sehr häufig übersehen, daß wir jetzt eine sehr viel bessere statistische Erfassung von Abbrüchen haben, und die Ergebnisse dieser Erfassung werden mit einem realen Anstieg verwechselt. In Wahrheit ist es so, daß wir nach den Ermittlungen von „pro familia" davon ausgehen können, daß die Abbruchzahlen rückläufig sind. Das gilt erwiesenermaßen vor allem für die Abbrüche bei Minderjährigen und auch bei den Frauen bis 25 Jahre. Dies ist sicher ein Erfolg. Den sollte man nicht geringschätzen.
Dennoch ist — daran führt gar kein Weg vorbei — die Zahl von Abbrüchen, die wir gegenwärtig haben, zu hoch. Man hat natürlich keine letzte Klarheit über die Zahlen, aber es werden über 100 000 sein. Sie schätzen im Frauenbericht ja sogar, daß es pro Jahr 200 000 sind. Diese Zahl also ist nach wie vor zu hoch, und damit können und wollen wir uns nicht zufriedengeben.
Es gibt immer noch Gruppen in unserer Gesellschaft, die einfach mangelhaft verhüten. Das kann aus einer ganzen Reihe von Gründen geschehen. Es kann aus einfacher Unaufgeklärtheit geschehen, es kann aus Angst vor Nebenwirkungen geschehen oder auch wegen schlechter Verfügbarkeit der Verhütungsmittel oder einfach auch aus Unkenntnis der Vielfalt der Methoden, die es gibt.
Aus diesem Grunde haben die Hamburger Staatsrätinnen und Senatorinnen vor knapp einem Jahr die Bundesregierung aufgefordert, endlich eine Studie auf den Weg zu bringen, die bundesweit die Ursachen der vorhandenen Defizite und die Möglichkeiten zur Verbesserung von Verhütungsmethoden erforschen soll.
Meine Damen und Herren, darüber hinaus fehlt es in unserer Gesellschaft nicht nur an Sexualaufklärung. Es fehlt auch an einem schlüssigen sexualpädagogischen Konzept. Ein solches Konzept sollte Sexualität als etwas Positives, als etwas Vielfältiges und alle Altersgruppen Betreffendes behandeln und zu einem angstfreien, unverklemmten, aber auch verantwortlichen Umgang mit ihr erziehen und die Fähigkeit dazu vermitteln. Genau dies geschieht heute aber nicht oder nur höchst unzureichend.
Viele Eltern fühlen sich einfach einer solchen Aufgabe nicht gewachsen, und der Sexualkundeunterricht in Schulen ist — das ist schon angesprochen worden — , sofern er überhaupt stattfindet, meistens unzureichend. Auch in den Beratungsstellen kommen Sexualpädagogik und -aufklärung heute viel zu kurz, weil man sich dort in der Regel wegen der knappen Geldmittel auf reine Schwangerschaftskonfliktberatung beschränken muß. Das ist im Grunde jammerschade; denn was unsere Gesellschaft brauchte, ist nicht nur Unterrichtung, wie man sich in Konfliktsituationen, die durch gesetzliche Vorgaben entstehen, entscheiden soll,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht durch Gesetze!)

sondern genauso eine Erziehung zu mehr Partnerschaft, zu mehr Zuwendung, ja, vielleicht zu mehr
Zärtlichkeit nicht nur unter Männern und Frauen, son-



Frau Dr. Wegner
dern überhaupt in der Gesellschaft und auch in Familien.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Würfel [FDP])

Daran fehlt es in vielen Bereichen.
Unser Antrag zu dieser Problematik fordert deshalb die Entwicklung eines solchen umfassenden Aufklärungskonzepts für bestimmte Zielgruppen wie Jugendliche, Eltern heranwachsender Kinder, Ausländerinnen und Ausländer. Er bezieht aber auch ältere oder behinderte Menschen ein, also Personengruppen, bei denen das Thema Sexualität in unserer Gesellschaft weitgehend verdrängt wird, obwohl es selbstverständlich auch dort existiert. Wer die letzte Nummer des Spiegel gesehen hat — wenn er es nicht schon vorher wußte — , findet da einiges Anschauungsmaterial leider auch darüber, wie unter Umständen Fachleute darauf reagieren.
Sexualaufklärung und Sexualpädagogik sollten nach unserer Vorstellung in den Lehrplänen der Schulen verankert werden und künftig im Angebot von Einrichtungen der Erwachsenenbildung, der Jugendfreizeitstätten und der Gesundheitsämter enthalten sein. Lehrer, Jugendleiter, Sozialarbeiter und Altenpfleger sollten entsprechend aus- und fortgebildet werden. Man sollte zu dieser Aus- und Fortbildung die Beratungsstellen für Familienplanung hinzuziehen, weil sie die Erfahrung haben. Das heißt aber auch, daß man sie personell entsprechend ausstatten muß. Denn jetzt haben sie diese Möglichkeit nicht.
Ich möchte noch einige wenige Worte zu dem sagen, was wir nicht wollen. Wir haben gesagt: Eine Senkung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche läßt sich nach unserer festen Überzeugung nur durch verbesserte Aufklärung, durch Schaffung einer kinderfreundlichen Gesellschaft und durch Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen u n d Männer — wohlgemerkt! — erreichen. Wir begrüßen es, wenn die Regierung in diese Richtung Schritte unternimmt. Aber Einschüchterungsprozesse, wie einer in Memmingen gelaufen ist, Mahnläuten oder permanente Agitation gegen die soziale Indikation oder die schleichende Aushöhlung der geltenden Gesetzgebung, wie sie in einigen Bundesländern in der Praxis betrieben wird, ist mit Sicherheit nicht der richtige Weg.

(Beifall der Abgeordneten Frau Würfel [FDP])

Nicht der richtige Weg ist auch ein Beratungsgesetz, das auf Überredung statt auf Beratung setzt, und auch nicht kurzfristige und kurzatmige Hilfen wie die Stiftung „Mutter und Kind".

(Beifall bei der SPD)

Nicht der richtige Weg, Frau Ministerin, ist auch Ihre 20 Millionen DM teure Bewußtseinskampagne mit dem Titel „Kinder machen Freude". Ihre Kollegin in Baden-Württemberg, Frau Schäfer, hat eine ähnliche Kampagne für 6 Millionen DM inszeniert. Das Geld zur Finanzierung wurde pikanterweise durch eine Kürzung der Mittel für Stadtranderholung bereitgestellt, die gerade sozial schwachen Kindern zugute kommen sollte.

(Beifall der Abgeordneten Frau Dr. Götte [SPD])

Genausowenig liegt der richtige Weg in dem, was der baden-württembergische Kultusminister Meyer-Vorfelder betreibt, der derzeit die Schüler durch Hochglanzbroschüren im Vielfarbendruck über den Schutz des werdenden Lebens aufklärt. In diesen Broschüren steht aber kein Wort darüber, wie man verhütet. Das ist unser Anliegen. Das wollen wir Ihnen nahebringen.
Ich komme zum Schluß. Die Pro Familia hat früher einmal ein sehr schönes Motto gehabt, meine Damen und Herren. Das lautete: Jedes Kind hat das Recht, erwünscht zu sein. Ich denke, dieses Motto gilt nach wie vor, und in seiner Bejahung müßten wir alle uns hier eigentlich einig sein. Seiner Verwirklichung dienen unsere Anträge. Deshalb bitten wir um Zustimmung.
Danke.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1118823100
Das Wort hat die Frau Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Dr. Lehr.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118823200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ihren Anträgen für ein Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien und für ein Konzept zur Sexualaufklärung greift die SPD zwei Bereiche auf, die auch nach ihren eigenen Bekundungen für den Schutz des ungeborenen Lebens besonders vordringlich sind. Darüber könnte man sich freuen, denn Hilfen für schwangere Frauen in Not sind wünschenswert, Materialien zur Sexualaufklärung und zur Familienplanung sind gewiß wichtige Beiträge zur Vermeidung von unerwünschten Schwangerschaften.
Sieht man sich jedoch den Inhalt der Anträge etwas genauer an und verfolgt man auch die heutige Diskussion, so stellt sich doch sehr schnell heraus, daß es weniger um die Maßnahmen als solche geht als vielmehr um eine in vielen Passagen nicht ganz sachliche Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung. Wohnungspolitik, Verkehrspolitik, Arbeitspolitik sind eingeschlossen.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Die muß man auch mit ansprechen!)

Die etwas weniger sachliche Auseinandersetzung zeigt sich z. B. daran, daß nach wie vor unhaltbare und auch unsachliche Aussagen zur Bundesstiftung „Mutter und Schutz — Schutz des ungeborenen Lebens" gemacht werden und daß zahlreiche Verbesserungen im Bereich der Hilfen für schwangere Frauen, Mütter und Familien, wie sie Frau Schmidt eben aufgezählt hat — von der Verlängerung des Erziehungsurlaubs bis hin zur Reform des Kinder- und Jugendhilferechts — , von Ihnen nicht erwähnt wurden.
Auch die Auseinandersetzung mit dem Entwurf eines Schwangerenberatungsgesetzes hat mit dem ei-



Bundesminister Frau Dr. Lehr
gentlichen Inhalt dieses Gesetzes fast nichts zu tun. Da Sie, Frau Schmidt, mich aber gefragt haben, wie es nun steht: Die von Ihnen genannte Vereinbarung mit der FDP aus letzter Zeit kenne ich nicht. Über das Schwangerenberatungsgesetz gibt es nach wie vor keine Einigung innerhalb der Regierungskoalition. Es gilt weiterhin, was Herr Staatsminister Dr. Stavenhagen am 9. November 1989 im Bundestag erklärt hat
— ich zitiere — :
Es gibt in der Koalition Meinungsverschiedenheiten über dieses Schwangerenberatungsgesetz, die bisher nicht ausgeräumt werden konnten. Die Bundesregierung wird diesen Gesetzentwurf erst einbringen, wenn diese Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt werden können.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Und was wollen Sie, Frau Ministerin?)

— Voraussetzung für die Einbringung des Gesetzentwurfs ist, daß die Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt sind.

(Frau Dr. Götte [SPD]: Was wollen S i e denn? Was ist denn Ihr Standpunkt?)

Die Glaubwürdigkeit der heute zur Diskussion stehenden beiden Anträge in bezug auf ein Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien und für ein Konzept zur Sexualaufklärung wird auch in Frage gestellt, wenn man die Aussagen aus den 70er Jahren zur Aufgabe der Schwangerschaftskonfliktberatung in damaligen Erklärungen und Entschließungsanträgen der SPD mit dem vergleicht, was heute gegen die Politik der jetzigen Bundesregierung angeführt wird. Wer objektiv die Politik seit 1976 verfolgt hat, stellt fest, daß zwar das Strafrecht damals verändert worden ist, die Maßnahmen für tatsächliche Hilfen für schwangere Frauen und Familien aber erst nach Übernahme der Regierung durch den Bundeskanzler Helmut Kohl eingesetzt haben.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118823300
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Götte?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118823400
Bitte, wenn es nicht auf meine Zeit angerechnet wird.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118823500
Bitte sehr.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1118823600
Frau Minister, daß es zum Beratungsgesetz unterschiedliche Auffassungen zwischen SPD und CDU gibt, wußten wir ja schon. Frau Schmidt hatte Sie gefragt, welche Position Sie denn als Ministerin nun einnehmen. Die wäre für uns sehr wichtig zu wissen. Vielleicht können Sie darauf eine Antwort geben.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118823700
Ich nehme die Position ein, daß das Beratungsgesetz erst dann ins Kabinett eingebracht wird, wenn Übereinstimmung in der Koalition vorhanden ist.

(Conradi [SPD]: Eine starke Antwort!)

Die SPD muß sich nun fragen lassen, warum sie denn Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre die jetzt von ihr geforderten Maßnahmen nicht selbst durchgeführt hat. Sie muß sich auch fragen lassen, warum viele der angesprochenen Maßnahmen in SPD-regierten Ländern weit hinter dem zurückbleiben, was im Interesse der schwangeren Frauen und des Schutzes des ungeborenen Lebens notwendig wäre.
Eine deutliche Irreführung der Öffentlichkeit ist die Behauptung, die Bundesregierung habe es in den zurückliegenden Jahren an positiven Maßnahmen in bezug auf die Schwangerschaftsverhütung fehlen lassen.
Ebenso ist die Behauptung, daß staatliche Anstrengungen zur Sexualaufklärung und Sexualerziehung deutlich nachgelassen hätten, zurückzuweisen. Das Gegenteil ist richtig. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Filmreihe „Der Liebe auf der Spur", die in den dritten Fernsehprogrammen in der Bundesrepublik mit großem Erfolg gelaufen ist. Zu den Filmen gibt es ein Begleitbuch, das jungen Menschen und ihren Erziehern sachgerecht und umfassend Informationen über Sexualität anbietet. Bei den Trägern der Beratungsarbeit werden Fortbildungsmaßnahmen und Schriften mit jährlich ca. 500 000 DM gefördert, Maßnahmen, die in diesem Jahr noch ausgeweitet werden.
Selbstverständlich halten wir, auch zur Vermeidung von Teenagerschwangerschaften, eine gezielte und sachliche Sexualaufklärung für äußerst notwendig. Eine bessere Prävention muß dazu führen, daß Teenager mit der Sexualität verantwortungsvoll umzugehen lernen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stellt im Auftrag des BMJFFG Aufklärungsschriften zur Verfügung, die auch Methoden der Empfängnisverhütung einschließen. Sexualpädagogische Arbeitshilfen für die Jugendarbeit werden zur Zeit in der Praxis erprobt.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben in Verbindung mit den übrigen christlichen Kirchen unter dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens" eine gemeinsame Erklärung zu den Aufgaben beim Schutz des Lebens herausgegeben, für die ich sehr dankbar bin. Die Kirchen halten es für notwendig und für aussichtsreich, sich in der gesamten Gesellschaft über bestehende Gegensätze hinweg auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen: „Wir wollen, soweit es in unseren Kräften steht, dazu beitragen, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden" , heißt es in der Schrift.
Die Maßnahmen, die die Bundesregierung in den vergangenen Jahren für einen besseren Schutz des ungeborenen Lebens ergriffen hat, befinden sich in Übereinstimmung mit den Vorschlägen, die die christlichen Kirchen für einen Konsens zur Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen machen, nämlich einmal die Stärkung der Verantwortung in Partnerschaft und Sexualität, die Vertiefung und Förderung der Achtung vor der Würde des ungeborenen Lebens, die Änderung solcher Verhältnisse, die der Annahme des ungeborenen Lebens im Wege stehen — das ist sicher auch Ihr Ziel — und schließlich das Wecken der Bereitschaft von Frauen und Männern, daß sie im Schwangerschaftskonflikt das ungeborene Leben annehmen.



Bundesminister Frau Dr. Lehr
Es ist offenkundig, daß die Maßnahmen zur Sexualaufklärung und Familienplanung, die Informationen der Bundesregierung über das vorgeburtliche Leben und die Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft wie die umfangreichen Maßnahmen zur Förderung der Familie diesen Forderungen der christlichen Kirchen entsprechen.
Es läßt sich nicht leugnen, daß alle diese Maßnahmen, die Einführung von Erziehungsgeld bis hin zu Hilfen für Alleinerziehende, zumindest die Bedingungen für eine Entscheidung zum Kind in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert haben. Gewiß, es muß noch einiges getan werden, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Neben familienfreundlicher Arbeitszeit denke ich daher vor allem an die Ausweitung der Betreuungsangebote für Kinder.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch die SPD-regierten Länder dort, wo sie unmittelbar verantwortlich sind, bei der Kinderbetreuung, in der Jugendhilfe und bei der Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots an Beratungsstellen für schwangere Frauen, mehr leisten würden als bisher. Hier hat die SPD die Möglichkeit, konkret zu zeigen, wie wichtig ihr der Schutz des ungeborenen Lebens ist. Mehr Übereinstimmung zwischen dem, was in den Anträgen und in der heutigen Debatte gefordert wird, und dem, was dort, wo die SPD die Regierungsverantwortung hat, getan wird, würde die Glaubwürdigkeit wesentlich erhöhen.
Jeder von uns weiß, daß es schwierig ist, gerade in diesem Bereich die notwendige Unterstützung zu finden. Wir wollen es uns nicht dadurch schwerer machen, daß wir von der eigenen Unfähigkeit, schneller vorwärtszukommen, dadurch abzulenken versuchen, daß wir die Bemühungen anderer kritisieren und diffamieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118823800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Anträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/2532 und 11/4978 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Chemikaliengesetzes
— Drucksachen 11/4550, 11/5121 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß)

— Drucksache 11/6227 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Lippold (Offenbach) Müller (Düsseldorf)
Frau Dr. Segall Frau Garbe
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 11/6216 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Waltemathe Schmitz (Baesweiler)

Dr. Weng (Gerlingen) Frau Vennegerts

(Erste Beratung 151. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß)

zu dem Antrag der Abgeordneten Schmidbauer, Carstensen (Nordstrand), Dörflinger, Eylmann, Fellner, Dr. Friedrich, Dr. Göhner, Harries, Dr. Lippold (Offenbach), Niegel und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Kleinert (Hannover), Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Verbot von Pentachlorphenol (PCP)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur 9. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen
— Drucksachen 11/3599, 11/2465 Nr. 2.27, 11/4653 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Lippold (Offenbach) Müller (Düsseldorf)
Frau Garbe
Zu Tagesordnungspunkt 7 a liegen ein Änderungs- und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/2638 und 11/6239 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6245 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll die Aussprache auf eine Stunde begrenzt werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1118823900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat bereits 1986 Leitlinien zur Umweltvorsorge durch Vermeidung und Verminderung von Schadstoffen beschlossen. Vorsorge gegen Umweltbelastungen, die durch Stoffeinträge entstehen, gehört schon bislang zu den Schwerpunkten der Politik der Bundesregierung.



Dr. Lippold (Offenbach)

Bei dem überragenden Nutzen, den chemische Stoffe für die Zivilisation und für die Weiterentwicklung unserer Kultur haben, darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß die intensive, alle Lebensbereiche erfassende und ständig wachsende Nutzung von Stoffen auch mit Risiken für Mensch und Umwelt verbunden ist.
Zur Reduzierung dieser Risiken besteht bereits derzeit ein umfassendes Gesetzes- und Regelwerk. Auch die Eindämmung der Gefahren für Mensch und Natur durch die Verwendung schädlicher chemischer Stoffe sowie die Vorsorge gegen unkontrollierte Gefährdungen aus dem Bereich der Chemie sind zentrale Anliegen der Politik der Bundesregierung.
Die jetzt zu verabschiedende Novelle reiht sich somit in das ehrgeizige politische Programm der Bundesregierung zu einer vorsorgenden Beherrschung der Umweltrisiken unserer Industriegesellschaft ein. Unser Leitmotiv kann dabei nicht die Angst vor den Gefahren und Risiken der Industriegesellschaft sein, die ihren Ausdruck in dem Wunsch findet, in die vermeintliche Geborgenheit eines Lebens in Frieden mit der Natur zurückzukehren und aus einer komplexen, konfliktbehafteten und in ihren Folgewirkungen auf die Umwelt als Last empfundenen Wirklichkeit auszusteigen.
Technischer Fortschritt, den wir aus Gründen des Umweltschutzes benötigen, setzt bei wachsender Komplexität deshalb die Entwicklung einer Sicherheitskultur der Industriegesellschaft voraus, die nicht nur die Fehlerhaftigkeit der Technik, sondern auch den Irrtum des Menschen und seine begrenzte moralische Integrität als Risiken bei der Nutzung moderner Technologien in ihre Überlegungen mit einbezieht.
Da Irren nun einmal menschlich ist, wir andererseits den technologischen Risiken nicht mit der Schaffung eines inhumanen Überwachungsstaates begegnen wollen, kann unsere Antwort auf die technologischen Herausforderungen nur die Entwicklung einer Sicherheitsphilosophie sein, die auf mehrfache, unabhängige, technische und organisatorische Sicherheitssysteme setzt. Dieser Sicherheitsphilosophie entspricht die Bundesregierung mit ihrem Entwurf eines ersten Gesetzes zur Änderung des Chemikaliengesetzes. Wir haben damit, wie Sie wissen, das chemikalienrechtliche Instrumentarium erheblich weiterentwickelt und auch ganz erheblich verstärkt. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung des Schutzes von Mensch und Umwelt vor schädlichen Einwirkungen, die von gefährlichen Stoffen und Zubereitungen ausgehen.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das sehe ich aber ganz anders! — Frau Teubner [GRÜNE]: Dann müßte das Gesetz aber ein bißchen anders aussehen!)

Was beinhaltet die neue Sicherheitskultur, das neue Sicherheitsdenken? Die Sicherheitskultur bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst, daß die Wirkungen eines Stoffes auf Mensch und Umwelt schon bei der Entwicklung jedes neuen Stoffes von vorneherein berücksichtigt werden. Deshalb wird eine Vorschrift in das Chemiekaliengesetz eingeführt, die sicherstellt, daß auch von der Anmeldepflicht ausgenommene Stoffe künftig bereits ab einer Verkehrsmenge von 100 kg auf wesentliche Sicherheitsaspekte überprüft werden.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Und die hochgiftigen? Da sind doch 100 kg viel zuviel!)

Sicherheitskultur bedeutet in diesem Bereich auch, daß neue Stoffe nicht nur deshalb völlig ungeprüft bleiben können, weil sie entweder lediglich innerbetrieblich verwendet oder aber in Länder außerhalb der EG exportiert werden. Die Neuregelung sieht im Interesse der mit diesen Stoffen beschäftigten Arbeitnehmer und zur besseren staatlichen Einschätzung des Störfallrisikos eine Sicherheitsprüfung auch dieser Stoffe vor.
Für eine verbesserte Sicherheitskultur in unserem Land müssen vordringlich möglichst umfassende Kenntnisse über eventuell gefährliche Auswirkungen von Chemikalien ermittelt werden. Auf der Basis dieser Erkenntnisse erst können die richtigen produkt- und medienbezogenen Maßnahmen getroffen werden. Daher ist es insbesondere Zweck des Gesetzes, die notwendigen Informationen zu beschaffen, um Klarheit über Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit eines Stoffes oder einer Zubereitung zu erlangen. Dieser Schwerpunkt ist deshalb ausdrücklich in § 1 des Gesetzes aufgenommen worden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Novelle sieht in einer Vielzahl von Detailpunkten eine Ausweitung der Befugnisse der Anmeldestelle, der das Chemikalienrecht vollziehenden Landesbehörden und nicht zuletzt der als Verordnungsgeber in der Pflicht stehenden Bundesregierung vor. Wir senken darüber hinaus die Eingriffschwelle für Verbote und Regelungen deutlich und erkennbar ab.
Die Novelle, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist von Anfang an von zwei Seiten angegriffen worden. Die einen haben sie „Papiertiger" oder „vergiftete Reform" genannt, weil wir am Prinzip des Anmeldeverfahrens und auch an realistischen Mengenschwellen für die Gefährlichkeitsprüfung festhalten, anstatt ein umfassendes Zulassungsverfahren für Industriechemikalien vorzusehen — dies will die Opposition. Ich halte diese Kritik für sachlich ungerechtfertigt. Das Anmeldeverfahren hat sich bewährt und wird beibehalten. Abgesehen davon: Hier sind wir als nationaler Gesetzgeber voll in harmonisiertes EG-Recht eingebunden.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Wir können wirklich bald nach Hause gehen: Entweder ist es die EG, oder es sind die Länder!)

Die andere Seite, die Wirtschaft, hält dieses Gesetz für wesentlich zu weitgehend, für die Wirtschaft zu stark belastend.
Ich sage ganz deutlich: Wir fühlen uns zwischen diesen beiden Kritikpunkten in der Mitte ausgesprochen wohl. Wir wollen, obwohl wir in die EG eingebunden sind, auf der Basis der EG ein höheres Schutzniveau im Chemikalienbereich verwirklicht haben. Mit der Einheitlichen EG-Akte wird vorgegeben, daß wir zu neuen Sicherheitspflichten, zu neuen Umweltschutzpflichten auch im Rahmen der EG kommen sollen. Wir möchten, daß diese Vorgabe der Einheitlichen Akte auch bei der Umweltschutzgesetzgebung



Dr. Lippold (Offenbach)

und insbesondere im Chemiekalienbereich bei der '7. Änderungsrichtlinie zum Chemikaliengesetz umgesetzt wird.
Für mich heißt das insbesondere, daß der bequeme Kompromiß des kleinsten gemeinsamen Nenners in diesen Bereichen nicht mehr der Maßstab für die europäische Integration sein darf, auch nicht in der Chemiepolitik.
Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag deutlich gemacht, daß wir von der in Vorbereitung befindlichen EG-Richtlinie erwarten, daß die Bundesregierung darauf hinwirkt, daß weitergehende Regelungen des Chemikaliengesetzes in die 7. Änderungsrichtlinie übernommen werden. Dies gilt insbesondere für die Mitteilungspflichten über neue Stoffe ab 100 kg, die Mitteilungspflichten über neue Zwischenprodukte und Exportstoffe und die Regelung der Zweitanmelderproblematik aus Gründen des Tierschutzes.
Ferner gehen wir davon aus — auch das sagt der Entschließungsantrag aus —, daß sich die Bundesregierung bei der 7. Änderungsrichtlinie dafür einsetzen soll, daß die Prüfnachweise auf fruchtschädigende Eigenschaften in frühere Prüfstufen verlagert werden, daß das Prüfprogramm der Grundstufe in ökotoxikologischer Hinsicht erweitert wird, insbesondere auch bezüglich einer gesicherten Entsorgung, daß bei der Anmeldung eines neuen Stoffes auch die Analysemethoden zur Feststellung des Verbleibs des Stoffes in der Umwelt anzugeben sind.
Zur neuen Sicherheitskultur gehört auch die Altstoffkonzeption, die die Bundesregierung bereits früher, im vergangenen Jahr, vorgelegt hat und die eine erste zusammenfassende und auch geschlossene Regelung dieses ausgesprochen wichtigen Bereichs bringt. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß die Änderung, über die wir heute beraten, hierfür die rechtliche Basis abgibt, so daß wir auf der gesicherten Basis einer rechtlichen Regelung die Altstoffkonzeption, die im internationalen Bereich vorbildlich ist, weiterführen können. Wir werden auch in diesem Bereich darauf drängen, daß die Arbeiten zügig fortgeführt werden.
Das beinhaltet, daß bei den zuständigen Stellen mehr Personal zur Verfügung stehen muß. Wir werden in den weiteren Anträgen dafür sorgen, daß hier die entsprechenden Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß Personal nicht überfordert wird, sondern daß nötige Kapazitäten auch in diesem Bereich herbeigeschafft werden. Allerdings muß man sehen, daß gerade auf diesem Markt der Bereich sehr eng ist. Ökotoxikologen haben eine lange Ausbildung, es sind sehr wenige ausgebildet. Wir werden also auch sehen müssen, daß hier zusätzliche Kapazität geschaffen wird, damit wir unsere Aktivitäten ausweiten und beschleunigen können.
Bislang hat sich die Kooperation, die wir mit der Wirtschaft in diesem Bereich gefahren haben, bestätigt. Ich glaube, daß wir davon ausgehen können, daß wir, wenn wir die internationalen Vergleiche sehen, hier bestens dastehen.
Insgesamt möchte ich abschließend sagen, daß wir mit diesem heute vorliegenden Novellierungsentwurf ein weiteres wesentliches Stück mehr Sicherheit, ein weiteres wesentliches Stück mehr Umweltschutz, aber auch mehr Gesundheitsschutz für die Bevölkerung in unserem Land entwickeln. Die Katastrophen, wie man weiß, in anderen Ländern haben wir zum Anlaß genommen, unsere Sicherheitskultur wesentlich zügiger zu schaffen als die Länder, in denen die Katastrophen geschehen sind. Ich glaube, das ist ein positiver Punkt, der insbesondere der Bundesregierung zugute gehalten werden muß.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118824000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller (Düsseldorf).

Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1118824100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1984 hat der Informationsdienst „Chemie und Umwelt" den Begriff der Chemiepolitik ins Gespräch gebracht. Die These war, daß angesichts des gewaltigen qualitativen und quantitativen Wachstums chemischer Stoffe in den letzten Jahrzehnten — ich zitiere — „es nahezu unglaublich ist, daß die Reglementierung trotz der schwerwiegenden Umweltprobleme, trotz der gewaltigen industriepolitischen Bedeutung noch immer kein eigenständiger Politikbereich ist". Wenn man aus dieser Forderung des Informationsdienstes, die damit begründet wurde, daß man sozusagen auf der Flugbahn eines biologischen Bumerangs sei, den man aber nicht in den Griff bekommt, die Forderung nach einer vorausschauenden Chemiepolitik ableitet, ist dies mehr als richtig.
Meine Damen und Herren, die Chemie ist eine Art janusköpfige Technologie. Wir wissen, daß wir nicht auf die Chemie verzichten können, wir wissen aber auch, daß, wenn wir unkritisch mit der Chemie umgehen, gewaltige Probleme entstehen, die meines Erachtens zu Recht mit dem Begriff der „Risikogesellschaft" beschrieben werden.
Dazu einige Fakten. Wir haben literaturmäßig mehr als vier Millionen chemische Stoffe erfaßt; jährlich kommen etwa 40 000 hinzu. Allein das Altstoffinventar der Europäischen Gemeinschaft umfaßt mehr als 100 000 Stoffe. Es ist zwar richtig, daß diese Stoffe insgesamt nicht alle eingesetzt werden, aber es ist ebenso richtig, daß wir nur von einem Bruchteil dieser Stoffe die tatsächlichen Wirkungen auf Umwelt und Gesundheit kennen, und daß wir vor allem nicht wissen, welche unzähligen Anreicherungs- und Kombinationsmöglichkeiten es in den verschiedensten Dosis-Wirkungs-Beziehungen gibt.
Ich glaube, wir kommen als erstes nicht an der Tatsache vorbei, daß wir eine Art chemische Zeitbombe haben, die uns zunehmend überfordert, weil wir nicht in der Lage sind, mit ihr vernunftgerecht umzugehen.
Wir haben als zweiten Fakt ein gewaltiges Größenwachstum. Nach den Aussagen der chemischen Industrie hat sich in den letzten 30 Jahren der Umfang der chemischen Produktion in der Bundesrepublik verzehnfacht. Dies ist verbunden mit einer großen, mit einer riesigen Vergrößerung des Inventars giftiger und krebserzeugender Stoffe, aber auch leicht entzündlicher und explosiver Gase und Flüssigkeiten.



Müller (Düsseldorf)

Der dritte Fakt: Wir haben die ungelösten Probleme mit großen Risiken bei der Entsorgung.
Mit anderen Worten, trotz des unbestreitbaren großen Zuwachses des Wissens der heutigen Menschheit über das Naturgeschehen müssen wir eingestehen, daß viele mögliche Reaktionen der ökologischen Systeme, besonders jener, die nicht völlig im Gleichgewicht sind, durch den Einfluß chemischer Stoffe nicht mehr vorhersehbar sind, ganz im Gegenteil, daß selbst kleinste Störungen gewaltige Veränderungen bewirken können.
Wenn man insbesondere die Forschung in den letzten zehn Jahren, also die Forschungen, die vor allem auf der Basis der Belanossow-Studie, d. h. der Untersuchungen über mögliche chemische Reaktionen, von 1958 entstanden sind, kennt, dann weiß man, daß wir heute auch bei chemischen Prozessen überhaupt nicht sagen können, wie chemische Prozesse bei geringfügigen Störungen auf das ökologische System insgesamt zurückschlagen können, und daß da im Grund genommen Risiken nicht vorhersehbar sind. Das ist die Erkenntnis der Chaostheorie, die wir leider noch viel zu wenig auch in unseren Instrumenten und Regelungsmechanismen berücksichtigen. Die Chemie ist ähnlich wie das Wetter. Es ist zwar deterministisch modelliert, aber trotzdem ist es nicht vorhersehbar. Und das ist genau das, was wir leichtsinnig immer mehr aufs Spiel setzen.
Insofern müssen wir sehen, wie es um die industriellen Gesellschaften steht. Ich bin im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Lippold, da nicht ganz so schnell bei der Hand, zu sagen: Es gibt keine Alternative innerhalb und außerhalb der Industriegesellschaft. Für mich ist die Frage nicht entschieden. Wenn ich genau das sage, muß ich sehen, daß die inneren Mechanismen der Industriegesellschaft aus sich heraus immer mehr Komplexität erzeugen, immer größere Beschleunigungen im Umgang mit der Natur hervorrufen, immer mehr eine Globalisierung der Umweltprobleme erreichen und immer mehr sozusagen zur Externalisierung der Folgen auf die Zukunft führen.
Dies kann ich nicht sozusagen auf Technik oder einzelne Mechanismen reduzieren. Ich muß ernsthaft, Herr Kollege Lippold, sagen: Es muß meines Erachtens auch ein wenig mit den Mechanismen des Industriesystems selber zusammenhängen. Also ich wäre da nicht so leichtfertig, schon hier ein definitives Urteil über die Problematik industrieller Zusammenhänge zu fällen, wie es meines Erachtens bei Ihnen angeklungen ist.

(Zuruf des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU])

Denn wir kommen nicht an der Tatsache vorbei — auch Sie, Herr Göhner, kommen nicht daran vorbei —, daß in den letzten 150 Jahren, also in der Geschichte der Industriegesellschaft, in den Wechselprozessen zwischen Ökonomie und Natur mehr von der Umwelt kaputtgegangen ist als durch alle früheren Gesellschaftsformen über Tausende von Jahren.

(Zustimmung der Abg. Frau Teubner [GRÜNE])

An diesen Punkten kommen wir nicht vorbei.
Ich nenne etwas anderes, was erschreckend ist und was wir meines Erachtens im Bundestag viel zu wenig behandeln. Wenn ich die Veränderungen im Nährstoffkreislauf der Natur von 1700 bis heute ansehe, stelle ich fest: Mehr als 50 % der Verschlechterungen an diesem System sind in den letzten 30 Jahren aufgetaucht, in den letzten 30 Jahren von fast 300 Jahren!

(Frau Teubner [GRÜNE]: Stimmt!)

Ich meine, das sind Tatsachen, die wir sehr viel ernster zur Kenntnis nehmen müssen. Das betrifft also sozusagen die Veränderungen an den globalen Systemen ebenso wie die Veränderungen des Nährstoffhaushalts durch industrielle Tätigkeiten.
Das hat zwei Schwerpunkte: den Energieumsatz und den Einsatz chemischer Stoffe. Wir diskutieren hier nicht über einzelne Stoffe.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Gefahr erkannt, Gefahr leider nicht gebannt!)

— Das ist völlig richtig. Das ist der Punkt. Nur, durch sozusagen Verdrängung dieser Tatsachen schaffe ich nicht die Voraussetzung, um die Lösung zu diskutieren. Deshalb sage ich: Mir ist das, was wir Antworten auf sehr tiefgehende Probleme nennen, manchmal zu einfach. Ich glaube, wir müssen diese Probleme auch im Bundestag mehr reflektieren.
Deshalb bedaure ich, daß diese Debatte über die Chemiepolitik faktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit am Ende der heutigen Tagesordnung durchgeführt wird.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig, richtig! Das bedauern auch wir!)

Die Chemiepolitik ist ein zentrales Feld künftiger Umweltpolitik. Wir können nicht so tun, als wäre das gewissermaßen ein Randbereich wie irgendeine Änderung einer vielleicht noch so wichtigen Richtlinie einer EG-Kommission. Es ist ein zentrales Thema für das Wechselverhältnis von Industrie und Natur, und es ist ein zentrales Thema für die Gestaltung der Lebens- und Wirtschaftsweisen in unserer Zukunft.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

Wir sind im Augenblick dabei, durch die Art unseres Energieeinsatzes und durch das ungeheure Wachsen chemischer Produkte die Erde zu einem einzigen globalen Experimentierlabor zu machen.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig! Ja!)

An diesem Punkt kommen wir objektiv nicht vorbei. Dabei unterstelle ich überhaupt niemandem, daß er sich nicht viel Mühe gibt, diese Probleme sozusagen zu regulieren. Ich unterstelle überhaupt nicht, daß nicht jeder versucht, das Beste zu tun. Nur, in den letzten zehn Jahren ist das Bewußtsein von der Zerstörung der Natur unglaublich und nicht vorhersehbar gewachsen. Trotzdem können wir den Ausverkauf der Natur nicht stoppen. Das ist die Realität. Die müssen wir meines Erachtens in solchen Zusammenhängen sehr viel intensiver reflektieren.
Es gibt zwei zentrale Probleme in Industriegesellschaften. Das eine Problem erleben wir heute in aller Deutlichkeit in den osteuropäischen Systemen, die



Müller (Düsseldorf)

Unfähigkeit, Innovation zu schaffen, Mißwirtschaft etc. Wir erleben hier die Auswirkungen dieses völlig verfehlten Glaubens seit den 20er Jahren, daß man eine Wirtschaft wie eine Maschine zentral lenken könne. Aber umgekehrt löst, wenn wir diese Erkenntnis haben, das noch lange nicht das Problem beispielsweise unserer Wirtschaftsordnungen, in denen wir eine ökonomische Übereffizienz im Verhältnis zur Natur haben. Insofern sollten wir uns da gar nicht so sehr auf das hohe Roß setzen. So richtig die Feststellung ist, daß ein zentralistisches System abgewirtschaftet hat, sowenig ist dadurch unser Grundproblem der Übereffizienz der Ökonomie im Verhältnis zur Natur gelöst.
Meines Erachtens kommen wir an bestimmten Tatbeständen einfach nicht vorbei, insbesondere nicht an dem erschreckenden Tatbestand, daß sich der Nährstoffhaushalt der Natur, die weltweite Umsetzung der Elemente Phosphor, Kohlenstoff etc. im Augenblick massiv verändert. Das sind alarmierende Tatbestände. Ich hoffe, daß wir sie in ihren Auswirkungen nicht erst feststellen müssen, wenn es zu spät ist.
Ich glaube, diese wenigen Bemerkungen machen schon deutlich, daß es bei der Chemiepolitik darum geht, die Eigendynamik technisch-ökonomischer Prozesse nach verantwortbaren Kriterien zu begrenzen. Ich glaube, daß der Schlüssel für eine moderne Ökonomie überhaupt im Setzen von Grenzen liegt. Das heißt, während die einen wirklich völlig unfähig sind, modernen Erfordernissen gerecht zu werden, ist das zentrale Problem unserer Ökonomie, daß wir einer beschleunigten Entwicklung zur Übereffizienz Grenzen setzen müssen im Hinblick auf zukünftige Lebensweisen.
Das steht in einer besonderen Weise im Zusammenhang mit der dominierenden Branche Chemie, die überdurchschnittliche Wachstumsraten aufweist und von einer sehr hohen Innovationsfähigkeit gekennzeichnet ist. Ich habe schon einmal gesagt, daß wir es uns nicht so leicht machen können, pro oder kontra Chemie zu diskutieren. Wir wissen ganz genau, daß viele lebensrettende Arzneimittel ohne Chemie nicht da wären. Wir wissen, daß viele Verfahren ohne Chemie nicht möglich wären. Wir wissen, daß es auch viele Produkte gibt, die das Leben erleichtern und die nur durch Chemie möglich sind. Wir wissen aber auch, daß wir mit der Chemie eine High Tech des nächsten Jahrhunderts haben, aber diese Technik mit Denkweisen, mit Regelungsmustern des letzten Jahrhunderts in den Griff zu bekommen versuchen.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig! Das ist das Dilemma!)

Das ist der zentrale Widerspruch, den wir bis heute in unserer Chemie- und Umweltpolitik noch nicht aufgelöst haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Grundphilosophie Abwehr von Gefahren, die wir in unseren ganzen Regelmechanismen haben, ist eine Philosophie, die sich nur auf erkannte, auf eingetretene Gefahren richtet, die aber von den Grundpositionen her nicht in der Lage ist, vorweggedachte Zukunft in Entscheidungen einzubeziehen. Das wird darin deutlich, daß diese Politik von nur zwei Grundelementen ausgeht: Das sind erstens polizeirechtliche Interventionsschwellen, und das ist zweitens eine Technikkontrolle durch Technik selbst, aber eben nicht durch verantwortliche zukunftsgerichtete Politik.
Insofern glaube ich, daß das Grundproblem in unserer Politik heute ist, daß wir sozusagen die Jahrhunderte verwechseln. Wir haben eine Denkweise, einen Fortschrittsbegriff, einen Begriff von Wirtschaft, die im Kern noch den Bedingungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und denen des letzten Jahrhunderts entsprechen. Aber die Realitäten heute sind völlig anders und mit diesen Regulierungsweisen überhaupt nicht mehr in Einklang zu bringen.
Deshalb ist es richtig, wenn beispielsweise Herr Professor Hulpke von Bayer, Leverkusen, sagt: Wir brauchen heute einen Abschied von der medienorientierten Umweltpolitik. Wir brauchen einen Abschied von einer Umweltpolitik, die erst reagiert, wenn die Schäden eingetreten sind, hin zu einer Umweltpolitik der, wie er es nennt, neuen Generationen, die von vornherein die Ausschaltung bestimmter Ursachen impliziert. Die Alternative hierzu ist der Schadstoff des Monats. Ich glaube, daß mit den vorgegebenen Regelungen, auch mit dem Chemikaliengesetz, mit diesem Dschungel, den wir dort haben, den ungeheuer unterschiedlichen Gesetzen, diese Probleme nicht zu lösen sind.
Ich will als letztes eine Bemerkung zur Rolle von Herrn Töpfer machen. Herr Töpfer hat 1979 als Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen den damals vorgelegten und dann verabschiedeten Entwurf der Bundesregierung als völlig unbrauchbar, wissenschaftlich nicht auf der Höhe bezeichnet. Nun nennt er eine Gesetzesnovellierung, die im Kern kaum Veränderungen vorsieht, auf einmal eine neue Sicherheitskultur.
Dann halte ich es lieber mit dem Professor Henschler, der eher ein konservativer Toxikologe ist. Sein Fazit ist: Dieses Gesetz ändert überhaupt nichts. Es ist und bleibt ein Gesetz im Interesse der Wirtschaft, aber nicht im Interesse der Umwelt.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das hat Henschler nie gesagt!)

— Das hat Henschler gesagt. Er hat dieses Zitat sogar schriftlich bestätigt. Ich habe das auf dem Schreibtisch. Man hat ihm den Zeitungsartikel nämlich per Telefax zugeschickt. Ich bin der Sache nachgegangen.

(Kiechle [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie zu weit!)

Man hat ihm diesen Zeitungsartikel zugeschickt und ihn gebeten, zu sagen, ob das richtig ist. Henschler hat unterschrieben und es zurückgefaxt. Es ist original von dem führenden Toxikologen in der Bundesrepublik. Er hat es so gesagt. Aber das paßt Ihnen natürlich nicht. Das kann ich verstehen. Aber trotzdem ist es die Wahrheit.
Mit anderen Worten: Es ist im Kern peinlich, was hier läuft: daß ein Gesetz, das derselbe Mann als Mitglied des Sachverständigenrats 1979 massiv kritisiert hat, von ihm jetzt als die neue Sicherheitskultur be-



Müller (Düsseldorf)

zeichnet wird. Das geht nicht. 1979 hat der Sachverständigenrat übrigens das Zulassungsverfahren gefordert, Herr Dr. Lippold.

(Frau Teubner [GRÜNE]: Sachverstand ist hier nicht!)

Ich frage mich, wo das heute ist.
Wir bleiben dabei: Dieses Gesetz entspricht nicht dem, was heute umweltpolitisch geboten ist. Es entspricht auch nicht dem, was industriepolitisch geboten ist, um beispielsweise langfristig Arbeitsplätze zu sichern. Denn das erfordert Sicherheit und klare Rahmengesetzgebung und nicht eine meines Erachtens antiquierte Politik.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Deshalb stellen wir noch einmal unseren Abänderungsantrag und für die dritte Lesung einen Entschließungsantrag zur Abstimmung.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118824200
Das Wort hat Frau Abgeordnete Segall.

Dr. Inge Segall (FDP):
Rede ID: ID1118824300
Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Müller, ich denke, wir werden in der Enquete-Kommission in diesem Jahr noch ausreichend Gelegenheit haben, um diese ganzen Zusammenhänge zu diskutieren.
Ganz interessant war, daß Ihr Bundeskanzler a. D. Brandt ganz deutlich gesagt hat, daß wir jetzt über dem Ost-West-Problem nicht den Nord-Süd-Konflikt vergessen sollten.

(Zustimmung bei der SPD)

Der Nord-Süd-Konflikt ist im wesentlichen in der ungeheuren Bevölkerungszunahme begründet.

(Müller [Düsseldorf] [SPD]: Nicht nur! In erster Linie in der Armut!)

Brandt sagte wortwörtlich — jedenfalls haben es die Zeitungen so zitiert — , daß dort alles diplomatische Reden ein Ende haben sollte. Wenn wir unsere Vorstellungen von Wohlfahrt auf diese Bevölkerung übertragen,

(Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist nicht zu machen!)

dann sind wir ganz sicherlich am Ende. Wir werden uns vielleicht beim Tropenwaldbericht noch über einiges einigen können, wenn es um das Revidieren morgen und übermorgen geht.
Nun zu unserem eigentlichen Thema. Die heute zu verabschiedende Novelle des Chemikaliengesetzes versucht die noch bestehenden Lücken und Defizite eines Gesetzes, das sich in seinen Grundzügen bewährt hat und das noch aus der alten sozialliberalen Koalition stammt — das muß ich einmal anbringen —, zu schließen. Durch die ausdrückliche Aufnahme des Vorsorgegedankens als Zweckbestimmung des Gesetzes wird einem Grundprinzip unserer Umweltpolitik Rechnung getragen. Mit diesem Grundgedanken soll das nun verbesserte Chemikaliengesetz einen wirksamen und vorsorgenden Schutz des Menschen und der Umwelt vor schädlichen Wirkungen gefährlicher Stoffe und Zubereitungen leisten.
Zur Erreichung dieses Zieles, also dem Schutz von Mensch und Umwelt, ist das Chemikaliengesetz in ein Gesamtkonzept eingebettet, das zwar immer noch nicht Ihrer Chemiepolitik, Herr Müller, entspricht, aber das von der Vorsorge im Bereich des Arbeitsschutzes über alle Bereiche der Produktion und daran anschließend des Verbraucherschutzes bis zur Abfallentsorgung reicht. Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts liegen z. B. die neugefaßte Störfallverordnung, das Ende letzten Jahres beschlossene UVP-Gesetz, die TA Abfall und das Bundes-Immissionsschutzgesetz, dessen Novellierung im Moment noch beraten wird.
Die Neufassung des Chemikaliengesetzes war einerseits erforderlich, um Änderungen des EG-Rechts in nationales Recht zu überführen. So beinhaltet die Novellierung die Umsetzung von EG-Richtlinien wie der Zubereitungsrichtlinie und der beiden GLP-Richtlinien. Neben dieser Angleichung an bestehendes EG-Recht enthält das neue Gesetz Vorschriften, die sich auf Grund der praktischen Erfahrungen des Vollzugs des geltenden Rechts ergeben haben und nun in das neue Chemikaliengesetz aufgenommen wurden. Diese Vorschriften bedeuten eine Erweiterung der Kennzeichnungs- und Mitteilungspflichten sowie ein allgemeines Absenken der Eingriffsschranken.
Wir Liberale begrüßen, daß mit der Erweiterung des Kennzeichnungsrechts jetzt auch die Möglichkeit einer positiven Kennzeichnung wie z. B. „FCKW-frei" gegeben ist. Sowohl durch die Möglichkeit einer positiven Kennzeichnung als auch einer Kennzeichnungspflicht „für Erzeugnisse, die gefährliche Stoffe oder Zubereitungen enthalten oder freisetzen können", wird ein Weg aufgezeigt, über das Verbraucherverhalten am Markt eine Entwicklung hin zur Produktion von umweltschonenden Erzeugnissen zu steuern. So kann der mündige Bürger mit seiner Kaufentscheidung zu mehr Umweltschutz beitragen.

(Beifall der Abg. Frau Folz-Steinacker [FDP])

In der Erweiterung der Mitteilungspflichten auf Zwischenprodukte, die nur innerbetrieblich verwendet werden, ist ein wichtiges Element für die Vorsorge im Arbeitsschutz zu sehen.
Es ist erfreulich, daß das novellierte Chemikaliengesetz auch dem Tierschutz stärkere Bedeutung zukommen läßt. Der Tierschutzaspekt wird z. B. in die Bestimmung zur Guten Laborpraxis aufgenommen, nach der Prüfverfahren mit Versuchstieren dann zu ersetzen sind, wenn es brauchbare Ersatzverfahren gibt. Auch die Lösung der Zweitanmelderproblematik hilft, die Zahl der Tierversuche zu begrenzen, und stellt gleichzeitig eine zufriedenstellende Regelung für einen funktionierenden Innovations- und Imitationswettbewerb dar.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Eine ganz zentrale Rolle kommt der Behandlung der Altstoffproblematik im novellierten Chemikaliengesetz zu. Durch die Bereitstellung neuer Verordnungsermächtigungen, die Mitteilungspflicht der Hersteller und Einführer alter Stoffe und die Verpflichtung,



Frau Dr. Segall
Stoffprüfungen zur Ermittlung gefährlicher Eigenschaften durchzuführen, sind Möglichkeiten geschaffen worden, im Falle eines Versagens des Kooperationsprinzips regelnd einzugreifen. Gleichzeitig bleibt aber das freiwillige Kooperationsprinzip gewährleistet. Der Staat kann und soll nur in den Fällen regelnd eingreifen, in denen eine Mitarbeit verweigert wird. Wir wollen also mit dem Gesetzentwurf nicht das Kooperationsprinzip antasten.
Wichtig ist aber die nun gegebene Handlungsmöglichkeit des Staates bei einem Versagen des Kooperationsprinzips. An dieser Stelle kann man nur an die Industrie appellieren, dieses Angebot wirklich wahrzunehmen und in dem Ausmaß zu kooperieren, in dem sie es bisher getan hat. Wir hoffen, daß es darüber hinaus noch weitere Möglichkeiten gibt.
Bei den Arbeiten an der Änderung der 7. EG-Richtlinie sollten wir darauf hinwirken — das geht also an die Bundesregierung, dem bei ihren Verhandlungen Sorge zu tragen —, daß unsere nationalen Vorstellungen über Umwelt- und Verbraucherschutz im Chemikaliengesetz auch auf EG-Ebene verwirklicht werden.
Dann habe ich noch einen ganz besonderen Wunsch und eine Hoffnung hinsichtlich der Wirkung des novellierten Chemikaliengesetzes und der anderen den Chemiebereich betreffenden Gesetze: daß sie zu einer Versachlichung der Debatte über Umwelt und Chemie führen.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Das durfte ja nicht fehlen!)

Hoffentlich kommt bald der Zeitpunkt, zu dem alle Alt- und Neustoffe erfaßt sind und wissenschaftlich gesicherte Angaben vorliegen, die uns dann die „Horrormeldung der Woche" endlich ersparen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118824400
Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.

Charlotte Garbe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118824500
Bedauerlicherweise, sehr geehrter Herr Präsident und meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir uns hier mit einem so wichtigen Basisthema so kurz und so spät befassen: Für die Gesundheitsreform verordneten die Geschäftsführer uns eine Drei-Stunden-Debatte. Das Chemikaliengesetz und weitere chemiepolitische Anträge behandeln wir mal eben so im Vorübergehen.

(Kraus [CDU/CSU]: Mit eurem Einverständnis! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Das ist nicht Zufall, das hat Methode!
Verehrte Kollegen und Kolleginnen, die Bundesregierung hat nunmehr den Vorsorgegesichtspunkt in das Chemikaliengesetz aufgenommen. Aber die Frage ist: wird er umgesetzt? Müßte vorsorgende Chemiepolitik nicht als allererstes dafür sorgen, daß die Muttermilch endlich wieder zum lebensspendenden Bronnen wird? Sind das nicht die Zielvorgaben, die wir brauchen? Aber die Realität ist: Die Belastungen steigen immer weiter an!
Wir wissen heute, daß den Säuglingen 100 Picogramm TCDD-Äquivalente, also Seveso-Dioxin, pro
Kilogramm Körpergewicht und Tag zugemutet werden. Die amerikanische Umweltbehörde EPA hält höchstens 0,006 Picogramm für duldbar. Kinder sollen auch in Zukunft leben dürfen. Dies ist unser aller Anliegen. Ich frage deshalb, wann Bischöfe endlich das Glockenläuten gegen diesen schleichenden Dioxintod verordnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer schützt denn unsere Kinder nach der Geburt, meine Herren und Damen? Leider sind die Diskutanten von vorhin nicht mehr da; es ist ein Jammer.
Die Frage, ob mit dieser Novelle zum Chemikaliengesetz nun endlich die Entgiftung eingeleitet wird, muß leider mit einem klaren Nein beantwortet werden. Durch die Beratungen ist der Entwurf sogar noch lascher als der ursprüngliche Entwurf aus dem Hause Töpfer geworden. Der Vorsorgegrundsatz bleibt also Makulatur. Mit dieser Novelle versäumt Herr Töpfer es nicht nur, Zielvorgaben in puncto Verbesserung der toxischen Gesamtbelastung zu formulieren, vielmehr wird die weitere Vergiftung vorausgeplant.

(Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!)

Denn wie anders, verehrte Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, ist es denn zu verstehen, daß den minimalen Verbesserungen in Sachen Altstoffproblematik, die sich die Regierung so gerne als wegweisende Feder an den Hut steckt, so grandiose Verschlechterungen gegenüberstehen? Mit der vorgesehenen Legalisierung des endgültigen Altstoffverzeichnisses darf der Markt zukünftig statt mit 35 000 nun mit mehr als 100 000 ungeprüften Altstoffen überschwemmt werden. Lediglich 20 Altchemikalien werden pro Jahr bewertet, aber Hunderte und Tausende dieser schleichenden Umweltgifte dürfen noch Jahre und Jahrzehnte verbreitet werden.
Nehmen wir das Lehrbeispiel Pentachlorphenol. Am 23. November 1989 hat das Bundeskabinett mal wieder ein Verbot für PCP ausgesprochen. Zum zweitenmal wurde sehr werbewirksam die wegen ihres Dioxingehaltes ungemein gefährliche Chemikalie PCP verboten. Das ist okay. Das Zeug hat in der Umwelt nichts verloren und viel Unheil und Leid verursacht. Wir unterstützen den Verbotsantrag.
Von Vorsorge kann man aber auch hier nicht sprechen. 1985 wurde in der Bundesrepublik die Herstellung eingestellt. Aber warum wurde denn jetzt nicht gleich Tetrachlorphenol sowie die ganze dioxinträchtige Stoffgruppe mit verboten? Das könnte man dann Vorsorge nennen, aber nicht das Verbot einer Einzelchemikalie.

(Frau Flinner [GRÜNE]: So ist das!)

Verehrte Kollegen und Kolleginnen, wir kritisieren an dieser Novelle zum Chemikaliengesetz, daß ein Riesenbrimborium uni die Verschärfung des § 17 gemacht wird, aber komplizierteste Verfahren beibehalten werden, um einen Einzelstoff tatsächlich am Markt zu verbieten. Mit einem Federstrich hingegen legalisieren die Verantwortlichen nach § 3 weitere 65 000 potentielle Verbotskandidaten.
Wir haben in einem Entschließungsantrag wesentliche Gesichtspunkte unserer Kritik zusammengefaßt. Und wir meinen: Eine vorsorgende Chemiepolitik



Frau Garbe
müßte die Weichen so stellen, daß wir uns auf die Millionen evolutionserprobte, natürliche Substanzen beschränken. Kollegen und Kolleginnen, mit Gift und Feuer wird sie der fehlentwickelte Affe, wie der verstorbene Biologe und frühe Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi uns Menschen der Gegenwart nannte, bald ausgelöscht haben, bevor diese Schätze von Jahrmillionen natürlicher Evolution überhaupt gesichtet und genutzt werden konnten. Das ist unverzeihlich, das ist die Unfähigkeit des fehlentwickelten homo sapiens, der mit seinen Problemen nicht fertig wird. Das ist der Tatbestand. Ich stimme dem Kollegen Müller voll zu.
Wir haben in 15 Einzeländerungsanträgen in den Ausschußberatungen versucht, wesentliche Änderungen des Chemikaliengesetzes zu erreichen. Sie haben es vorgezogen, unsere Vorschläge durch die Bank abzulehnen. Meine Herren und Damen von den Koalitionsfraktionen, Sie lehnten unsere Forderung ab, die Tonnenschwellen herabzusetzen, damit die neuen Stoffe vor ihrer umfassenden Vermarktung geprüft werden können. Sie lehnten unsere Forderung ab, die Prüfung auf neurotoxische, auf fruchtschädigende und auf immunbeeinträchtigende Wirkungen auszudehnen. Sie lehnten die Forderung ab, Chemie von der Wiege bis zur Bahre beurteilen zu lassen, also die Entsorgung vor der Vermarktung sicherzustellen. Sie lehnten das vorsorgende Verbot problematischer Stoffgruppen ab. Sie lehnten eine Demokratisierung der chemiepolitischen Entscheidungen ab. Sie lehnten es ab, Ersatzmethoden zum Tierversuch bei der Chemikalienprüfung festzuschreiben. Sie lehnten unsere Forderung ab, die Eingriffsschwellen zum Verbot von Stoffen abzusenken. Wir nehmen dies bedauernd — nein, entrüstet — zur Kenntnis. Wir sehen und fürchten, daß, die Giftlawine aus den Küchen der chemischen Industrie mit der von Ihnen beschlossenen Novelle des Chemikaliengesetzes nicht zähmbar sein wird.
„Natur ist Chemie", mit diesem Slogan geht der Verband der Chemischen Industrie hausieren. Die chemische Industrie hält die gesamte Novelle für völlig überflüssig. Der Umweltminister hat vor dem VCI, dem Verband der Chemischen Industrie, deutlich gesagt, daß die Regierung der chemischen Industrie nicht wehtun wolle. Doch ohne strenge Zügel tut die Chemie der Natur sehr weh. Natur ist nicht Chemie, Natur ist Leben, und dieses kostbare Leben kann durch ungebremsten Chemieeinsatz zerstört werden. Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen, haben es versäumt, mit dieser Novelle zum Chemikaliengesetz die Bremsen nachzustellen. Sie haben damit die Weichen auf Chemie in der Zukunft statt auf Leben in der Zukunft gestellt.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118824600
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidbauer.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1118824700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Müller, in der Tat wäre die Zeit zu kurz, um die grundsätzliche Problematik eines komplexen Systems hier mit Antworten abzuhandeln, die ein ebenso komplexes Denken verrieten. Ich gebe Ihnen recht, daß es sicherlich eine Frage sein wird, wie die Perspektive der Problematik „Chemie und Umwelt" aussieht. Es darf nicht dabei bleiben, daß wir das nur problematisieren. Das Erkennen ist wichtig, aber wir müssen auch den Mut haben, die Schritte zu gehen, die notwendig sind.

(Zuruf von den GRÜNEN: Macht es doch einmal!)

Frau Garbe, ich finde, es ist nicht hilfreich, ein solches Feindbild aufzubauen — bei all Ihrem Engagement in diesem Bereich, das nicht verkannt werden soll. Ich glaube, man kann nicht die Industrie in dieser Art in eine Ecke stellen und so tun, als ob dort Menschen ihren Dienst wahrnehmen, die ihre Verantwortung nicht spüren. Ich sehe es anders. Ich denke, die Führenden in dieser Indusstrie tragen ebenfalls eine Verantwortung, auch sie haben Kinder.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Die Kinder sind bloß mit dem Machwerk ihrer Väter nicht einverstanden!)

Die Gewerkschaft IG Chemie kommt zum Beispiel zu einem völlig anderen Ergebnis in der Beurteilung dieser Novellierung. Frau Garbe, man kann hier in der Tat nicht einfach mit Zahlen operieren. Lassen Sie es mich im Scherz sagen: Vielleicht wissen Sie bereits, daß im Kochsalz Chlor enthalten ist.

(Zurufe von den GRÜNEN)

— Das ist der Punkt. Sie können hier nicht einfach mit Zahlen operieren, sondern Sie müssen gewichten.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Wir sprechen von Chlorchemie und Chlorverbindungen!)

— Sie sagen, daß zigtausend Stoffe dazukommen, daß zigtausend Stoffe problematisch sind. Nein, da geht es um Prioritäten, und da müssen wir sehr wohl abwägen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir gehen mit dieser Novellierung auf unserem Weg, Umweltvorsorge zu betreiben, konsequent weiter voran. Wir schaffen eine Fülle neuer Vorschriften. Manchmal denke ich, es wäre besser, auch Grundprinzipien zu verändern. Aber im Augenblick gehen wir auf dem ordnungsrechtlichen Weg weiter. Wir verbessern den Schutz des Menschen und der Umwelt vor schädlichen Wirkungen gefährlicher Stoffe und Zubereitungen. Darüber hinaus erreichen wir mit dieser Novellierung auch erhebliche Verbesserungen für den Arbeitsschutz.
Ich denke, daß damit auch die Akzeptanz der Chemie, der Chemiepolitik und der chemischen Industrie verbessert wird. Das Umweltrecht und dieses Chemikaliengesetz kann auch wirksam werden, wenn die Industrie in der DDR hochmoderne Technologie einsetzt, und auch das kann zur Glaubwürdigkeit, zur Akzeptanz beitragen.
Ich habe mir heute einmal die Zahlen der jährlichen Schäden in der DDR geben lassen. Eine grobe Schätzung sagt: 30 Milliarden DM. Das zeigt uns, daß wir nur mit einer hochmodernen Technologie und mit ge-



Schmidbauer
setzlichen Rahmendaten und Vorgaben solche Schäden für die Zukunft verhindern können.
Das Chemikaliengesetz — das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein; deshalb will ich es ansprechen — schafft die rechtlichen Voraussetzungen, um z. B. die EG-Verordnung zur Verminderung der FCKW-Belastung sowie Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen gegen diese Verordnung durchzuführen. Dies ist wichtig. Dies ist ein zusätzlicher Schutz für die stratosphärische Ozonschicht. Dies wird durch § 14 dieses Gesetzes gewährleistet. Die Einführung einer Negativkennzeichnung informiert den Verbraucher über schadstoffreie Erzeugnisse. So wird der Verzicht auf Produkte mit schädlichen Wirkstoffen mit Hilfe marktwirtschaftlicher Mechanismen auch in diesem Gesetz entsprechend vorgegeben und damit geregelt.
Was die Alternativen zu FCKW und Halonen betrifft, so belegen sowohl der Bericht der EnqueteKommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " als auch der Bericht des Umweltbundesamtes „Verzicht aus Verantwortung", daß für diese in fast allen Anwendungsbereichen Alternativen existieren.
Die von uns im November 1989 im Umweltausschuß verabschiedete Beschlußempfehlung zum Verbot von FCKW und Halonen fordert drastische Maßnahmen und enge zeitliche Vorgaben.
Bundesumweltminister Töpfer hat mit dem vorgelegten Entwurf einer Verordnung zum Verbot solcher Stoffe einen wichtigen Schritt gemacht. Er basiert auf § 17 und § 21 des Chemikaliengesetzes. Dies ist ein wichtiger Punkt in der Konsequenz eines gemeinsam verabschiedeten Programmes vom März 1989. Jetzt ist das machbar, was für den Fall notwendig wird, daß Selbstverpflichtungen nicht greifen, daß die Mechanismen nicht ausreichen. Dann können wir auch zu einem Verbot kommen.
Ich finde es hervorragend, daß, während wir dieses Gesetz verabschieden, eine Anhörung zu dieser Verbotsregelung in Vorbereitung ist. Die Anhörungen sollen bereits in der nächsten Woche stattfinden. Damit soll dann gewährleistet werden, daß diese Stoffe in Druckgaspackungen und daß Kälte- und Kühlmittel dieser Art verboten werden. In der Übergangszeit wird es da noch ein paar Probleme geben. Es wird um die Frage der Ersatzstoffe gehen. Verpackungsmaterial und Kunststoffgeschirr sollen nicht mehr mit diesen Stoffen produziert werden. Auch im Bereich der Schaumstoffe werden diese Stoffe verschwinden. Im Reinigungs- und Lösungsmittelbereich sollen sie ebenfalls nicht mehr verwendet werden, die Löschmittel werden mit neuen Stoffen versehen werden. Ich meine, das ist eine ganz gute Sache. Dazu dient auch dieses Gesetz.
Ich finde es hervorragend — es wird so viel über Kooperation gesprochen — , daß die Firma Hoechst in diesen Tagen erklärte, das Ende der vollhalogenierten FCKW-Produktion sei bei ihr beschlossene Sache. Da erinnere ich an die vielen Diskussionen der letzten Monate, in denen behauptet wurde, daß das alles nicht funktioniere. — Nein, meine Freunde, wir sind jetzt am Ende eines Weges; wir steigen aus diesen Stoffen genauso aus, wie wir uns dies vorgenommen haben. Dazu dient dieses Gesetz. Das ist der Punkt, und Sie beklagen das!
In wenigen Monaten werden wir die erste Stufe, die Reduzierung der FCKW um 50 %, erreichen; da kann man sich auf diesen Hersteller verlassen. Ich bin sehr dankbar, daß wir nach mühevoller Kleinarbeit heute wissen, daß das Kooperationsprinzip bei der chemischen Industrie funktioniert, weil sie erkannt hat, daß es eine gemeinsame Verantwortung gibt.
Ich will nicht auf andere Punkte eingehen, weil ich sehe, daß die Redezeit abgelaufen ist. Ich glaube, daß wir mit der vorliegenden Novellierung auf der Grundlage des Vorsorge- und Kooperationsprinzips einen weiteren Schritt zur Umsetzung unserer Koalitionsvereinbarung getan haben. Ich möchte mich auch bei unserem Koalitionspartner, der FDP, für die Beratungen in diesem Zusammenhang bedanken, die schwierig waren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich denke, daß auch bezogen auf die Opposition die Dinge ordnungsgemäß und sehr fair gelaufen sind. Natürlich sind bestimmte Wünsche nicht zum Tragen gekommen, Frau Garbe; aber ich glaube, Sie spüren, daß wir uns als Ausschuß insgesamt bei diesen Gesetzen als lernfähig erwiesen haben. Ich möchte nicht sagen, daß der Ausschuß sehr rasch über solche Anträge der Opposition hinweggeht.
Ich denke, es ist uns gelungen, einen weiteren Beitrag zur Verbesserung unserer Umwelt zu leisten. Dies geht nur Schritt für Schritt, so sehr wir auch bedauern, daß diese Schritte immer kleine sind. Aber viele kleine Schritte ergeben gemeinsam einen großen Schritt.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118824800
Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.

Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1118824900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Pentachlorphenol gehört zu den Halogenverbindungen. Untersuchungen dieser Zubereitungen haben gezeigt, daß sie eine Reihe von „technischen" Verunreinigungen aufweisen: So enthält der Wirkstoff bis zu 5 % Dioxine und Furane. PCP ist biologisch schwer abbaubar und wirkt stark giftig auf die Umwelt.
Analysen des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Bundesgesundheitsamtes haben ergeben, daß auch bei niedrigen Raumluftkonzentrationen dieser Verbindung die Aufnahme der Schadstoffe nicht allein über die Inhalation der Raumluft erfolgt. Nach der Anwendung dieser Substanzen in Innenräumen sind langfristig alle Gegenstände im Raum, einschließlich der Kleidung der Bewohner, damit belastet, so daß die Aufnahme über Mund und Hautkontakt eine erhebliche Rolle spielt.
Durch Importe von im Ausland mit PCP behandelten Hölzern und Textilien wird jedoch z. B. die Ländervereinbarung von 1978 unterlaufen. Hinzu kommt — worauf die Gesellschaft für Strahlen- und Umwelt-



Weiermann
forschung hinweist — , daß bestimmte Grundierungen für Holztüren und Fensterrahmen beispielsweise PCP als Wirkstoff gegen Bläuepilze enthalten.
Die Bundesregierung hat im Frühjahr 1987 den Entwurf einer Verordnung zum generellen Verbot von PCP verabschiedet. Professor Palar, der früher bei der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung gearbeitet hat, sprach auf einer Veranstaltung des Bundesgesundheitsamtes von sage und schreibe 100 000 geschädigten Menschen. Gegenwärtig liegen etwa 2 135 Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft vor.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Es ist anläßlich dieser bekannten Gesundheitsgefahren mehr als bedauerlich, um nicht zu sagen fahrlässig, wenn es erst jetzt zu dem entsprechenden Verbot kommt.

(Beifall bei der SPD)

Denn schon im Jahre 1980 stellte der Rat der Europäischen Gemeinschaft fest, daß Pentachlorphenol und seine Verbindungen gefährliche Stoffe für den Menschen und auch für die Umwelt, insbesondere für die Gewässer, beinhalten. Zugleich befürchtet der Rat auf Grund der von einigen Mitgliedstaaten bereits erlassenen Beschränkungen negative Auswirkungen auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes und schlägt daher sogenannte Ausnahmeregelungen vor, durch die de facto die Weiterverwendung von PCP in der Vergangenheit möglich war. Auch das bedauern wir.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen, der im Herbst 1988 vorgelegt wurde, wurde erst im Juni 1989 — also wiederum ein dreiviertel Jahr später — einstimmig im Ausschuß beschlossen. Dies alles kommt relativ spät. Wir meinen, das sei nicht in Ordnung.

(Beifall bei der SPD)

Ich fasse zusammen, weil ich nicht allzu viel Zeit habe und sage: Im Hinblick auf die Gefahren für Gesundheit und Umwelt ist ein Verbot von Pentachlorphenol unabdingbar.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Der Richtlinienvorschlag der EG bleibt hinter diesem Verbot weit zurück. Ein generelles Verbot im nationalen Alleingang ist deswegen geboten und möglich angesichts der Tatsache, daß ein EG-weites Herstellungsverbot zur Zeit nicht durchsetzbar ist, gleichwohl aber zwingend notwendig erscheint.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Das PCP-Verbot ist ein Lehrstück für die Schwierigkeiten und Probleme der Chemiepolitik. Die Ländervereinbarungen, mit denen die ersten Regelungen zur Anwendung von PCP getroffen wurden, datieren aus dem Jahre 1978. Es mußte also ein rundes Dutzend Jahre vergehen, bis nun endlich wenigstens eine Verbotsregelung für den deutschen Raum getroffen werden kann.

(Zuruf von der SPD: Unglaublich!) — Das ist in der Tat unglaublich lange! —

Dabei kann ich der Bundesregierung den Vorwurf von dieser Stelle aus nicht ersparen, daß sie — und auch das ist schon charakteristisch für ihre Chemiepolitik — es nicht so eilig hatte und auch in der jüngsten Vergangenheit keine allzu große Eile gezeigt hat, wenn es um vernünftige Regelungen in Fragen der Chemiepolitik ging.
Zweitens. Die Notwendigkeit eines Verbots von PCP ist unbestritten. Für uns nicht ganz nachvollziehbar ist allerdings die Beschränkung auf Pentachlorphenol — Sie haben das eben bereits erwähnt — statt einer weitergehenden Regelung, die alle Chlorphenole einbezieht, deren Schädlichkeit und Gefährlichkeit ebenfalls unbestritten ist. Wir bedauern dies sehr.
Beim Bereich PCP stimmen wir heute zu. Wir können uns aber des Eindrucks nicht erwehren, daß es ein umfassendes Konzept für eine planvolle Chlorchemiebzw. Chemiepolitik von seiten der Bundesregierung nicht gibt. Sie ist jedenfalls nicht feststellbar.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1118825000
Zum Schluß erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Grüner.

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID1118825100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die umfassende Novellierung des Chemiekaliengesetzes und das Verbot des in Holzschutzmitteln enthaltenen Giftstoffes Pentachlorphenol — ein Verbot, das im Dezember vorigen Jahres in Kraft getreten ist; es war nicht in allen Beiträgen zu erkennen, daß das registriert worden ist — sind ein besonders gutes Beispiel für die Verbesserung der Chemikalienvorsorge im Stoffbereich.
Bei der systematischen Erfassung und Bewertung von Altstoffen hat die Bundesregierung nicht auf diese Novelle gewartet, sondern mit ihrer Altstoffkonzeption vom Dezember 1988 die Lösung dieses Problems intensiviert und vorangetrieben. Das Modell einer Kooperation zwischen Staat, Industrie und Wissenschaft hat sich hier grundsätzlich bewährt. Es ist übrigens die einzige Chance, die Probleme in den Griff zu bekommen.
Mit der neuen Regelung im Chemikaliengesetz wird der Bundesregierung darüber hinaus das ordnungsrechtliche Instrumentarium an die Hand gegeben, um gegebenenfalls die Altstoffbearbeitung im Verordnungswege durchsetzen zu können, wenn es Schwierigkeiten geben sollte.
Wesentlich verbessern wir die Kennzeichnungspflichten. Erstmalig ermöglicht der Regierungsentwurf eine Kennzeichnungspflicht für Erzeugnisse, die bestimmte gefährliche Stoffe oder Zubereitungen freisetzen können oder enthalten. Ermöglicht wird zugleich die sogenannte Negativkennzeichnung, also etwa das einheitlich zu verwendende Etikett „FCKWfrei". Die Kennzeichnung führt durch die Information der für Umwelt- und Gesundheitsfragen heute hochsensiblen Verbraucher zu erwünschten marktkonformen Steuerungseffekten.
14584 Deutscher Bundestag — l i. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990
Parl. Staatssekretär Grüner
Der besseren Information des Staates und der Verbraucher über potentielle Gefahren von Chemikalien dient die wesentliche Erweiterung der Mitteilungspflichten der Hersteller und Importeure. Bei den von der Anmeldepflicht ausgenommenen neuen Stoffen, den innerbetrieblich anfallenden Zwischenprodukten und den ausschließlich für den Export in Staaten außerhalb der EG bestimmten Stoffen, fordern wir jetzt erstmals Prüfnachweise über gefährliche Eigenschaften. Darunter befindet sich auch der angesichts der Zunahme berufsbedingter allergischer Erkrankungen so wichtige Test auf sensibilisierende Eigenschaften.
Mitteilungspflichten kann die Bundesregierung jetzt auch zur Ermittlung von Gefahren begründen, die von Zubereitungen ausgehen.
Schließlich schafft die Chemikaliengesetznovelle ein umfassendes Informationssystem zugunsten der Informations- und Behandlungszentren für Vergiftungen. Die verdienstvolle Arbeit dieser Einrichtungen wird weiter effektiviert. Angesichts der erschrekkenden Zahl von jährlich bis zu 200 000 in klinischer Behandlung befindlichen Vergiftungsfällen soll die Novelle zur Rettung menschlichen Lebens und zur Vermeidung von Leiden beitragen.
Besonders hervorheben möchte ich noch das Auskunftsrecht, das wir Drittstaaten über Kerndaten von Exportstoffen, insbesondere auch über Pflanzenschutzmittel einräumen. Das ist eine Vorleistung für unsere Forderung nach einer globalen Umweltpartnerschaft.
Als letzten Kernpunkt der Novelle möchte ich die merkliche Senkung der Eingriffsschwellen für Verbote und Beschränkungen nennen. Dieses Motiv findet sich bei einer Vielzahl von Detailänderungen des Gesetzes. Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders auf die neue Fassung des § 17, der zentralen Ermächtigungsnorm für Verbote und Beschränkungen, auf die durchgängige Erweiterung des Verdachtsbegriffs, für den in Zukunft auch rein wissenschaftlich begründete Verdachtsmomente ausreichen, sowie die ausdrückliche Erwähnung des Vorsorgeprinzips in § 1 hinweisen.
Die Bundesregierung hat die Chemikaliensicherheit nicht nur durch die Novellierung dieses Chemikaliengesetzes, sondern durch eine Vielzahl weiterer Vorschriften vorangetrieben. Abgesehen von dem schon klassischen DDT-Gesetz aus den frühen 70er Jahren ist diese Bundesregierung die erste, die ein absolutes Stoffverbot auf Grund des § 17 des Chemikaliengesetzes erlassen hat. Sie hat ein vollständiges Verbot von Pentachlorphenol wegen des Verdachts auf chronisch schädigende Wirkungen und der erheblichen Verunreinigungen mit Dioxinen und Furanen, die in die Umwelt gelangen, beschlossen.
Die PCP-Verbotsverordnung ist am 23. Dezember letzten Jahres in Kraft getreten. Wir haben den Grenzwert nun um das Fünfzigfache gegenüber dem ursprünglichen EG-Vorschlag verschärft und die weiten Ausnahmebereiche der Europäischen Gemeinschaft auf das für Forschungs- und Synthesezwecke unverzichtbare Minimum zusammengestrichen. Zu dem Bündel von Stoffverboten und Beschränkungen gehört ferner die PCB-, PCT- und VC-Verbotsverordnung vom 18. Juli 1989.
Eine Vielzahl weiterer Verbots- und Beschränkungsregelungen stehen kurz vor dem Abschluß.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Was denn?)

Dem Bundeskabinett werden wir in Kürze eine Verordnung zur Beschränkung der Herstellung und des Inverkehrbringens von Teerölen mit dem krebserzeugenden Bestandteil Benzo-a-pyren vorlegen. Zwei Verordnungen zur Beschränkung von neun aliphatischen Chlorkohlenwasserstoff en — darunter das krebsverdächtige Perchlorethylen — zum Schutz des privaten Endverbrauchers werden in Kürze folgen. Die Verbände-Anhörung dazu ist bereits abgeschlossen.
Der Entwurf einer Verordnung zum Verbot von polybromierten Flammschutzmitteln befindet sich in der Vorbereitung. Die Novelle des Chemikaliengesetzes wird mit dem neuen § 17 die erforderliche Ermächtigungsgrundlage dafür liefern, auch Stoffe, die nicht selbst, sondern deren Umwandlungsprodukte gefährlich sind, verbieten zu können.
Den Entwurf einer Verordnung zu einem umfassenden Verbot von FCKW und Halonen — entsprechend dem einstimmigen Beschluß des Deutschen Bundestages vom März 1989 — hat der Bundesumweltminister im Vorgriff auf die erweiterten Möglichkeiten des neuen Chemikaliengesetzes bereits der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Anhörung der beteiligten Kreise hierzu findet in den nächsten Tagen statt.
Angesichts des globalen Ausmaßes des Ozonproblems ist diese Verordnung in besonderer Weise geeignet, den übrigen und künftigen Vertragstaaten des Montrealer Protokolls die Ernsthaftigkeit und Machbarkeit eines Ausstieges aus diesen die Ozonschicht abbauenden Stoffen zu dokumentieren. Es ist deshalb unser Ziel — wie im Mai 1989 in der ersten Vertragstaatenkonferenz in Helsinki verabredet — , bei der zweiten Konferenz der Vertragstaaten im Juni dieses Jahres in London den endgültigen Ausstieg bis zum Ende dieses Jahrzehnts völkerrechtlich verbindlich zu vereinbaren und — das halte ich für ganz entscheidend — ein solches Verbot auch kontrollierbar zu machen.
Die Fülle dieser rechtlichen Maßnahmen zeigt, daß die Chemiepolitik dieser Bundesregierung greift. Wir werden das Gefahrstoffrecht zusammen mit der Schaffung einer neuen Anlagensicherheit zum Aufbau einer neuen Sicherheitskultur in unserer Industriegesellschaft zügig vorantreiben, und wir setzen dabei auf die Kooperation, aber auch auf das Verständnis dafür, daß wir auch mit unserer Chemiepolitik auf den Konsens in der Europäischen Gemeinschaft angewiesen sind. In Punkten, die hier kritisch angesprochen worden sind, ist ja manches am Widerstand der Europäischen Gemeinschaft gescheitert. Ich meine, das gehörte in einer solchen Debatte auch ausdrücklich ausgesprochen;

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

denn Umweltpolitik werden wir nur grenzüberschreitend erfolgreich gestalten können, nicht nach der Devise, hier könne die Welt geheilt werden, während andere andere Prioritäten sehen und setzen. Deshalb ist es, so meine ich, wichtig, daß wir auf die Umwelt-



Parl. Staatssekretär Grüner
partnerschaft in der Europäischen Gemeinschaft auch dort setzen,

(Frau Garbe [GRÜNE]: Aber nicht auf einem niedrigeren Level!)

wo wir mit der Haltung unserer Partner im einzelnen nicht einverstanden sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118825200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Chemiekaliengesetzes. Die Drucksachen 11/4550, 11/5121 und 11/6227 liegen Ihnen vor.
Zunächst rufe ich Art. 1 auf und lasse über einen Änderungsantrag der SPD-Fraktion abstimmen. Er liegt Ihnen auf der Drucksache 11/6238 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der SPD? — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über Art. 1 in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dem zu? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist diese Bestimmung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von SPD und GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nunmehr die Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz insgesamt zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke schön. Wer stimmt dagegen? — Ich kann feststellen, daß das Gesetz angenommen worden ist.
Nun kommen wir zu den Entschließungsanträgen.
Zunächst einmal ist abzustimmen über den Entschließungsantrag, dessen Annahme der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 11/6227 unter II empfiehlt. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit gleicher Mehrheit angenommen worden.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 11/6239? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt worden.
Nun kommen wir zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6245. Wer stimmt denn dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 11/4653. Der Ausschuß empfiehlt unter Nummer 1, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3599 unverändert anzunehmen. Wer also dieser Empfehlung des Ausschusses folgen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen!
Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/4653 unter Nr. 2, die Bundesregierung zu bitten, den in der Beschlußempfehlung aufgeführten Vorschlag für eine Richtlinie abzulehnen. Wer also dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, d. h. die Bundesregierung zu bitten, den in der Beschlußempfehlung aufgeführten Vorschlag für eine Richtlinie abzulehnen, bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist diese Empfehlung des Ausschusses einstimmig angenommen worden.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, Bayha, Carstensen (Nordstrand), Rossmanith, Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Sauter (Epfendorf), Börnsen (Bönstrup), Freiherr von Schorlemer, Borchert, Dr. Jobst, Fellner, Fuchtel, Dr. Göhner, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Kunz (Weiden), Link (Diepholz), Dr. Meyer zu Bentrup, Frau Schmidt (Spiesen), Schmitz (Baesweiler) und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn, Dr. Solms und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Milchaufgabevergütungsgesetzes
— Drucksache 11/6090 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß)

— Drucksache 11/6246 —
Berichterstatter: Abgeordneter Michels
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/6256 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Diller Frau Vennegerts
Schmitz (Baesweiler)


(Erste Beratung 185. Sitzung)




Vizepräsident Cronenberg
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN
Schutz vor Verbrechen in der Tiermast
— Drucksache 11/5732 —
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verbesserung der sozialen Situation der Bäuerinnen
— Drucksachen 11/4468, 11/5475 —
Berichterstatter: Abgeordneter Susset
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß)

zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, Bayha, Carstensen (Nordstrand), Herkenrath, Kalb, Kroll-Schlüter, Niegel, Sauter (Epfendorf), Schartz (Trier), Freiherr von Schorlemer, Borchert, Fellner, Fuchtel, Funk (Gutenzell), Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Dr. Kunz (Weiden), Link (Diepholz), Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Rüttgers, Scheu, Schmitz (Baesweiler), Frau Will-Feld und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP
zum Agrarbericht 1989
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN
Agrarbericht 1989
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
zum Agrarbericht 1989
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung
— Drucksachen 11/3968, 11/3969, 11/4487, 11/4505, 11/4517, 11/5486 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Müller (Schweinfurt)

Zu Tagesordnungspunkt 8 a liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf der Drucksache 11/6255 vor.
Im Ältestenrat ist eine Beratungszeit von 45 Minuten beantragt worden. Erheben sich dagegen Einwendungen? — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Zunächst hat der Abgeordnete Michels das Wort.

Meinolf Michels (CDU):
Rede ID: ID1118825300
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU/CSU und FDP haben den heute zur abschließenden Beratung anstehenden Gesetzentwurf eingebracht, um die rechtlichen Voraussetzungen zum Abbau des Milchquotenüberhangs zu erreichen. Der sogenannte Bauchladen muß ein für allemal der Vergangenheit angehören.

(Oostergetelo [SPD]: Das ist gut! Sehr gut!) Der Referenzmengenüberhang von ca. 400 000 t


(Oostergetelo [SPD]: Wer hat den gemacht?)

steht einer Flexibilisierung der Milchmengennutzung entgegen. Wir gehen davon aus, daß spätestens Anfang März dieses Jahres die Herauskaufaktion anlaufen kann. Nach dem Windhundverfahren endet dann am 31. August der erste Zeitabschnitt. Während dieser Zeit beträgt der Vergütungsbetrag 1,60 DM je kg Milch. In der dann folgenden Zeit bis zum 31. Dezember werden noch 1,10 DM je kg Milch bezahlt.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Luft, nicht Milch!)

Ich weise darauf hin, daß der Bund beim Erreichen von 400 000 t den Herauskauf einstellen wird.
Auch besteht die Möglichkeit, Teilmengen entgegen der gesamten Milchquote zu verkaufen. Wir müssen davon ausgehen, daß bei optimaler Inanspruchnahme der ersten Stufe Gesamtkosten von maximal 640 Millionen DM entstehen können.
Gleichzeitig möchte ich deutlich machen, daß sich die Koalitionsfraktionen darauf verständigt haben, daß es sich bei diesem Vorhaben um eine einmalige und nicht zu wiederholende Sonderaktion handelt.

(Sielaff [SPD]: Alles Sonderaktionen!)

Wir haben uns zu dieser Maßnahme entschlossen, weil wir auf Freiwilligkeit setzen.
Die dirigistische Kürzung von sogenannten Luftquoten hört sich zunächst verständlich an: Erstens. Wer weiß, in welchem Umfang solche überhaupt vorhanden sind? Zweitens. Haben wir nicht gesagt, daß, aus welchen Gründen auch immer, eine nicht erfüllte Quote keine Sonderbehandlung erfahren wird? Dann bleiben nur noch solche sogenannten Luftquoten, die dann widerrechtlich bei der Härtefallregelung in Anspruch genommen wurden. Solchen Fällen, sofern sie wirklich vorhanden sind, nachzugehen ist nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, sondern der mit der Durchführung beauftragten Organe.
Wenn jemand im Zuge der Härtefallregelung eine Erhöhung seiner Quote zur Existenzsicherung erhalten hat, dann ist das in Ordnung. Hat er aber diese zusätzliche Menge ganz oder teilweise bis heute nicht genutzt, so liegt der Verdacht nahe, daß seine Angaben falsch waren.
Wir wollen nicht, daß solche Mengen heute zu Geld gemacht werden können. Wenn im Rahmen dieser Sondermaßnahmen tatsächlich solche Fälle offenkun-



Michels
dig werden, müßte geprüft werden, ob der Fall der Täuschung vorliegt und sofort ein Verfahren auf ersatzloses Einziehen dieser Mengen eingeleitet werden muß.
Damit die für alle milchproduzierenden Betriebe wichtige Aktion nicht unterlaufen werden kann, bitten wir die Bundesregierung, für die beabsichtigte Laufzeit eine Erhöhung des zur Zeit gültigen Quotenabzugs von 20 auf 80 % durch eine Änderung der bestehenden Verordnung sicherzustellen.
Meine Damen und Herren, der sich aus dem Verkauf des Milchlieferrechts ergebende Verkaufserlös wird auf einmal ausgezahlt und kann auf zehn Jahre verteilt der steuerlichen Einbeziehung unterworfen werden. Nach Bestätigung des Finanzministeriums mir gegenüber gilt dies auch für Landwirte nach § 13a.
Soweit, so gut. Wir müssen aber davon ausgehen, daß innerhalb eines eng begrenzten Zeitraums ca. 50 000 bis 60 000 Kühe zusätzlich dem Schlachtviehmarkt zugeführt werden. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, alle Voraussetzungen zu schaffen, die nötig sind, um eine Störung des allgemeinen Schlachtviehmarkts zu verhindern.
An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, daß mit der Einführung der Milchgarantiemengenregelung der Zusammenbruch der EG-Milchmarktordnung verhindert werden konnte. Jede andere Regelung hätte über den Preiskampf einer Vielzahl bäuerlicher Betriebe in kürzester Zeit und ohne soziale und wirtschaftliche Abfederung die Existenzgrundlage entzogen. Ich weiß auch, daß die Milchmarktregelung kein Sonntagskind der Marktwirtschaft ist.

(Sielaff [SPD]: Das ist aber sehr milde ausgedrückt!)

Wer hier Kritik anbringt

(Frau Flinner [GRÜNE]: Mit Recht!)

— und das ist im Detail immer möglich, Frau Flinner —, muß sich zunächst einmal fragen lassen — da spreche ich die Kollegen der SPD an —, ob das denn eine wirklich funktionierende Marktwirtschaft war, die unaufhaltsam zu nicht mehr finanzierbaren Milchseen und Butterbergen geführt hat.

(Sielaff [SPD]: Das haben Sie zu verantworten!)

Milchseen und Butterberge haben in der Vergangenheit allzulange für negative Schlagzeilen gesorgt. Eine Bereinigung nach der Methode „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß" ist leider nicht möglich.
Wenn dann diejenigen in den langsam vernarbten Wunden kratzen, die die Landwirtschaft und unsere Volkswirtschaft in diese Misere geführt haben, bringt uns das keinen Schritt nach vorn.

(Sielaff [SPD]: Sie wollen den Schleier des Schweigens darüber decken, das ist klar!)

Unser Ziel ist es, nach Abbau des Bauchladens die
heute schon in anderen EG-Ländern genutzten Flexibilisierungsmöglichkeiten auch unserer Landwirtschaft nutzbar zu machen.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Den Handel mit Quoten fördern!)

Wir denken hierbei, Frau Flinner, an die Saldierung von Ober- und Unterlieferungen. Hieraus ergibt sich eine Auffüllmöglichkeit bisheriger Unterlieferungen von 400 000 bis 500 000 t. Dies entspricht einem zusätzlichen Einkommen von 300 bis 375 Millionen DM für die milchproduzierende Landwirtschaft. In Zukunft wird es aber nach Abschluß dieser Aktion bei der Übertragung von Milchlieferrechten keinen Quotenabzug mehr geben.
Ich bitte die Regierung darüber hinaus, uns rechtzeitig Beratungsunterlagen vorzulegen, die eine Regelung ermöglichen, die Milch regional oder molkereibezogen zu binden. Hierbei muß aber auch meiner Meinung nach der Grad der Flächenbindung der Milch bei der Abgabe der Lieferrechte an andere Landwirte sehr gründlich überprüft werden. Es führt auf Dauer zu Störungen in unseren Dörfern, wenn sowohl die Möglichkeit der geschützten Milchproduktion als auch die Flächen ausschließlich an milchproduzierende Landwirte gehen können, es jedoch für Schweinemast- und Marktfruchtbetriebe unmöglich ist, von einem aufgebenden Milchviehbetrieb Flächen zu pachten. Ich bin der Meinung, wer ab 1991 seine Milchlieferrechte verkaufen will, sollte das an die jeweilige Molkerei tun können. Die Molkerei ihrerseits müßte bei der Weitergabe die Vorgaben unsererseits beachten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118825400
Herr Abgeordneter Michels, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redequote jetzt eigentlich zu Ende ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Ende kämen.

(Michels [CDU/CSU]: Das muß wohl ein Irrtum sein! Ich habe zwölf Minuten gesagt bekommen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118825500
Hier sind acht Minuten gemeldet.

(Susset [CDU/CSU]: 12 bis 14 Minuten hat unsere Fraktion, und wir haben nur einen Redner!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118825600
Es ist kein Geschäftsführer von Ihnen da. Wir werden versuchen, das zu klären. Fahren Sie erst einmal fort, Herr Abgeordneter.

Meinolf Michels (CDU):
Rede ID: ID1118825700
Na gut. — Selbstverständlich bleibt auch dann die flächengebundene Möglichkeit vom aufgebenden zum aufnehmenden Betrieb erhalten. Es ist unser Ziel, die angesprochenen Änderungen am 1. April 1991 wirksam werden zu lassen. Dieses Maßnahmenbündel zeigt dem einzelnen Betrieb wieder neue Entwicklungsmöglichkeiten auf.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland im Durchschnitt nicht 60, sondern 16 Kühe je Betrieb. Auch der qualifizierteste Kritiker muß doch zugestehen, daß die durchgeführte Regelung nicht dem Lehrbuch entnommen, aber praxisbezogen und weiterentwicklungsfähig ist. Innerhalb der EG wird



Michels
diese Regelung auch über 1992 hinaus erhalten bleiben.
Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer verbundenen Debatte zu tun. Deshalb nehme ich noch kurz Stellung zu dem Antrag der GRÜNEN „Verbesserung der sozialen Situation der BäuerinnenTM. In dem Antrag haben die GRÜNEN einmal mehr ein buntes Sammelsurium von in sich nicht schlüssigen Vorschlägen vorgelegt.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Fragen Sie doch die Landfrauen!)

So reicht der Antrag von Fragen der Alters-, Kranken- und Unfallversicherung über die Ausbildungsgänge an landwirtschaftlichen Fachschulen bis hin zu dem Vorschlag, eine gesonderte Rechtsberatung für Bäuerinnen in Regionalberatungsstellen einzuführen.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Ist das so schlecht?)

Wie die vorgeschlagenen Änderungen konkret ausgestaltet und vor allen Dingen, wie sie finanziert werden sollen, ist dem Antrag nicht zu entnehmen. Es ist den Bäuerinnen nicht geholfen, wenn die auf der grünen Wiese entwickelten Konzeptionen weder ausgewogen noch finanzierbar sind. Ihre, meine lieben Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN, ideologisch gefärbte Vorstellung einer Grundrente in der Höhe von 1 000 DM würde die Kleinigkeit von 4,5 Milliarden DM nur für die genannte Berufsgruppe kosten. Schon heute muß das soziale Sicherungssystem in der Landwirtschaft mit mehr als 9 000 DM je Versichertem gestützt werden.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Sie sind ja noch nicht einmal bereit, darüber zu reden!)

Richtig ist, daß die Bäuerinnen in Familie und Betrieb eine kaum vergleichbare Belastung tragen. Wir freuen uns über die Verbesserungen, die wir gegen die Stimmen der Opposition durch die rentenbegründende und rentensteigernde Anrechnung der Kindererziehungszeiten, des Mutterschaftsgeldes für alle und die Einführung eines monatlichen Pflegegeldes ab 1991 gerade auch für den genannten Personenkreis erreicht haben.
Mit kuriosen Forderungen ist niemandem geholfen. Wer der Wahrheit ihren Platz läßt, muß anerkennen, daß die Bäuerinnen im Vergleich zu den Ehefrauen von Selbständigen und abhängig Beschäftigten bei ihren Haushaltstätigkeiten in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung sehr weitgehend geschützt sind. Die landwirtschaftliche Sozialversicherung ist zum größten Teil während der letzten 30 Jahre aus dem Nichts entwickelt worden. Wir sind der Meinung, daß der weitere Ausbau der sozialen Sicherung der Bäuerinnen im Rahmen der Gesamtreform der agrarsozialen Sicherung geklärt werden muß.

(Sielaff [SPD]: Hoffentlich bald!)

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, daß wir in den nächsten Wochen mit der Beratung des 4. ASEG beginnen können, so daß dieses Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode eventuell einer Regelung zugeführt werden kann.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118825800
Das Wort hat der Abgeordnete Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1118825900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute muß der Bundestag wieder im Eiltempo beraten: gestern im Ausschuß, heute die zweite und dritte Lesung — so arbeitet das Krisenmanagement.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich gebe ja zu: Es muß gehandelt werden. Aber solange wir über die Milchquote reden, haben wir immer im Eiltempo gesprochen. Immer war es großartig und immer mußten wir nachbessern.

(Sielaff [SPD]: So ist das!)

Dabei steht viel auf dem Spiel. Erinnern wir uns: Seit Einführung der Quotenregelung jagt eine Verordnung die andere.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist bei Quotenregelungen nun einmal so! In Österreich haben sie schon die neunte! Das hat einen sozialdemokratischen Bundeskanzler!)

Die Bundesrepublik Deutschland hat die zugestandene Garantiemenge überschritten. Wir haben den sogenannten Bauchladen. Er ist auch noch jetzt mit rund 400 000 t zu groß und zu teuer, und das nach Kürzungen.
Das ist an den Kosten ablesbar. Erst Ende 1989 mußten die Strafzahlungen nach Brüssel — 385 Millionen DM — nachträglich in den Haushalt eingesetzt werden.

(Susset [CDU/CSU]: 382 waren es!) — Das ist ja sehr viel weniger, Herr Kollege!

Die Kosten können für uns die Größenordnung von weit über eine Milliarde DM bis 1991/92 ausmachen. Bisher wurden erhebliche Steuergelder für Milchrenten aufgewendet, ohne damit das Übel zu beseitigen. Jetzt kommt das letzte Aufgebot. Mit sage und schreibe 640 Millionen DM soll nun der Bauchladen beseitigt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das können nicht Lira sein?)

Wer hat uns das eingebrockt, Herr Kollege — gut, daß Sie sich melden? Sie, wer denn sonst?

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es wurden zu hohe Quoten ausgegeben. Wirkliche Härtefälle wurden aber nicht geregelt. Härtefälle nennt man nun Vertrauensschutz: Wer Geld hatte, ist ein Härtefall, wer keines hat, ist halt kein Härtefall.

(Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!)

Es hat eine enorme Verteilung von unten nach oben gegeben, und nun soll das Herauskaufen völlig grenzenlos geschehen. Wer 1984 staatlicherseits eine hohe Quote, einen hohen Vermögenswert bekam, der kann vom Bundesminister morgen zum Millionär gemacht werden.

(Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!)




Oostergetelo
Begleitet wird das Ganze an der Schwelle zum EGBinnenmarkt von Reglementierungen, die einen vernünftigen Strukturwandel in der Milchwirtschaft behindern.
Zum Stichwort „Quotenabzug". Wenn Quoten von einem Betrieb zum anderen wechseln, soll dieser nun noch auf 80 % angehoben werden. Kann man das eigentlich an den Ländern vorbei machen, Herr Minister?, frage ich Sie. Ich denke, daß wir das bisher nicht Erreichte nun erreichen sollen. Aber erreichen wir es auch?
Nicht genug, die Quotenregelung mit dem Bauchladeneffekt hat eine Nutzung von Unterlieferung einzelner Milcherzeuger bisher verhindert; der Vorredner sagte das korrekt. Das sind 400 000 bis 500 000 Liter Milch oder Erlöse bis zu 375 Millionen DM, die der deutschen Landwirtschaft jährlich verlorengehen. Das ist wahr.
Aber auch die einprozentige Quotenerhöhung von Brüssel aus konnte nicht für erforderliche Strukturverbesserungen, für junge Landwirte oder für wirkliche Härtefälle wie in anderen Mitgliedstaaten genutzt werden.

(Susset [CDU/CSU]: Warum nicht?)

Auch hier stand und steht der von Ihnen initiierte Bauchladen im Wege.

(Zuruf von der CDU/CSU: Den wollen wir jetzt abschaffen!)

Unsere Bauern haben als einzige in Europa das Nachsehen. Das alles nenen Sie, Herr Kollege, dann auch noch Erfolg.

(Zuruf von der SPD: Das ist ein Mißerfolg!)

Vor dieser Entwicklung haben wir Sie, Herr Minister, öffentlich oft genug gewarnt, auch von dieser Stelle aus. Ich bin hier zur Regierungsbank gegangen und habe gesagt: Laßt uns eine Lösung finden, die später wieder Freiraum läßt! — Wir haben eine Lösung bekommen, die uns noch zwei bis drei Jahre lang nachbessern läßt, ohne daß es überhaupt Perspektive gibt.
Die ganzen Schwierigkeiten wären nicht eingetreten, wenn Sie an Stelle dirigistischer Maßnahmen auch unsere Überlegungen — gestaffelte Mitverantwortungsabgabe — in Ihr System eingebaut hätten. Manche Probleme wären heute — ich sage es ganz bescheiden — leichter lösbar gewesen, wenn Sie bei der Bewältigung nicht die einzelbetriebliche, sondern die Regional- und Molkereiquote angestrebt hätten. Aber das nützt nichts: Das Kind liegt im Brunnen; jetzt muß gehandelt werden.
Natürlich werden Sie jetzt auf relativ stabile Milchpreise und auf die Einkommenssteigerung der Futteranbaubetriebe hinweisen. All dies leugne ich doch nicht. Sie wissen genau, daß dies aber nur für jene mit hohen Quoten gilt. Wenn der Betriebsdurchschnitt bei 16,3 Kühen liegt, dann wissen Sie, daß der Mehrheit der Milchbauern Perspektivlosigkeit verordnet worden ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, das stimmt doch nicht!)

Was sollen die Eltern antworten, wenn die Kinder fragen: Soll ich den Betrieb übernehmen?
Um so mehr kommt es jetzt darauf an, daß wir, sobald es geht — wenn der Bauchladen weg ist — , die Garantiemengenregelung flexibilisieren. Ich hoffe, wir sind uns da einig. Wir sollten früh genug Lösungen suchen, die wir dann sofort, im Gegensatz zu heute, ohne Zeitdruck einführen können. Diese Lösungen müssen sicherstellen, daß die Milcherzeugung in bäuerlichen Familienbetrieben bleibt. Sie müssen praktikabel sein. Wir wollen den Spielraum bei Jungbauern, bei Härtefällen und für mittelbäuerliche Betriebe nutzen, wir wollen aber keine unbegrenzte Handelbarkeit. Wir halten deshalb an der Bevorzugung der Betriebe mit unter 300 000 Litern fest.
Wir sind für die Regionalisierung. Sie haben schon gesagt: Wenn der Staat keine Quoten mehr braucht, dann brauchen wir auch überhaupt keinen Einfluß mehr zu nehmen. — Was heißt das denn? Wer wird die überflüssigen, die dann zu verkaufenden Quoten kaufen? Der Kapitalkräftige, doch wohl nicht der Bedürftige.
Ihr Vorschlag paßt nicht in die Gesamtpolitik. Der Gesetzentwurf ist zu heiß gestrickt. Er paßt für den ländlichen Raum noch nicht einmal zu Ihrem Entschließungsantrag zum Agrarbericht.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Wer nicht stricken kann, soll es lassen!)

Ihre Einschätzung, daß regionale und strukturelle Ungleichgewichte bei der Herauskaufaktion nicht zu befürchten seien, trifft nicht zu. Außerdem, so argumentieren Sie, sei es gleichgültig, ob die Milch von Kleinoder Großbauern käme. So kann doch keine verantwortliche Politik gemacht werden. Sie tun so, als ob es in Bayern beispielsweise keine Unterschiede in der Struktur der Milchbetriebe in den benachteiligten Gebieten des Allgäus — ich habe mir jetzt sagen lassen, dort seien alle benachteiligt — und der Mittelgebirge gibt.
Wir dürfen nicht nur Länderergebnisse betrachten, sondern müssen regional differenzieren. Sie haben mit der Molkereiquote ein Stichwort in die Debatte geworfen. Sie haben in einer Nacht- und Nebel-Aktion nun auch die Obergrenze fallenlassen, die ursprünglich von Ihnen vorgesehen war. Zukünftig sollen nun auch kleine Landwirte Entschädigungsmillionäre werden, wie es die Zeitschrift „Welt-Milch" ausdrückt.
Luftquoten und sogenannte Härtefälle führen zur Anhäufung von Vermögen für einzelne. Diese können jetzt in Millionenhöhe in bare Münze umgesetzt werden. Die Perspektivlosigkeit für viele Betriebe — Sie wissen das — , die um ihre Existenz bangen, bleibt. Man muß sich einmal die Durchschnittsgröße der Betriebe anschauen. Das ist die Sachlage. Wir haben deshalb im Ausschuß die Einführung der Obergrenze verlangt. Sie konnten dabei nicht über Ihren Schatten springen.

(Zuruf von der SPD: Der ist groß genug!)

Wir wollten mithelfen, den Bauchladen abzubauen,
damit keine Betriebe im unteren Bereich ihr Vermögen verlieren. Warum konnten Sie sich nicht wenig-



Oostergetelo
stens dazu durchringen? Sie, Herr Kollege Susset, hatten die Bringschuld, daß es Abzüge für die Betriebe im oberen Bereich gibt. Sie konnten sich nicht dazu durchringen, haben diese Lösung selbst die zweitbeste Lösung genannt und wollten, daß andere das aus dem Feuer holen.
In diesem Zusammenhang darf ich Ihnen sagen: Wir wissen, es muß gehandelt werden. Ich mahne jetzt schon an: Wenn es gelingt, den Bauchladen abzubauen, was ich hoffe, dann müssen wir uns fragen, ob wir uns nicht von vornherein selber verpflichten, alles zu tun, damit in der Regionalisierung die bäuerliche Struktur eine Chance hat und es nicht eine Freigabe gibt, die bedeutet: Der letzte mittelbäuerliche Betrieb wird von dem Superbetrieb aufgekauft.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Deshalb sagen wir zur Beschlußempfehlung nein. Wir sagen auch zu dem Entschließungsantrag zum Agrarbericht nein.
Das soll mein letzter Satz sein: Ich erkenne an, daß wir im Fachausschuß in der Zielsetzung bei den Anträgen ganz dicht beieinanderlagen, aber ich stelle auch fest, daß unser Entschließungsantrag dort, wo wir differenzierter auf die regionalen Bedingungen eingegangen sind, von Ihnen nicht geteilt werden konnte. Das meinten Sie.
Zu dem Entschließungsantrag der GRÜNEN sage ich — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118826000
Herr Abgeordneter Oostergetelo, Ihre Ankündigung, das sei der letzte Satz, hat mich natürlich ungewöhnlich beruhigt, aber Sie reden jetzt sozusagen auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegin Frau Weyel. Ich mache Sie darauf aufmerksam.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Jan, sei Kavalier, hör auf!)


Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1118826100
Bei der Abstimmung über den Antrag der GRÜNEN, Herr Präsident, können wir uns der Stimme enthalten, weil unsere Auffassungen sachlich dicht beieinanderliegen. Aber wir hätten gern, daß man das in den Agrarausschuß einbringt, damit wir darüber reden können und wir es nicht erst fünf Minuten vor Toresschluß auf dem Tisch haben. Ich finde, es wäre gut, daß wir alle miteinander im Fachausschuß darum ringen. Dann könnten wir hier auch freier reden.

(Susset [CDU/CSU]: Das tun wir immer!) Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118826200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1118826300
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf diese Koalition ist Verlaß. Als wir den Agrarbericht 1989 debattierten, hat die Koalition versprochen, das leidige sogenannte Bauchladenproblem anzupacken. Es wurde uns wahrlich nicht leichtgemacht, die Voraussetzungen hierfür zu schaffen. Erst scheiterten alle Versuche, das Problem mit einer fairen Quotenkürzung zu bereinigen, an wenig einsichtigen Widerständen des Landes Bayern, und jetzt ist es die SPD-Opposition — wir haben es gerade gehört — , die mit unsachlicher Polemik versucht,

(Zurufe von der SPD)

den Mißerfolg unserer Aktion herbeizureden.

(Zurufe von der SPD)

— Sie werden das ja erleben. Zum Glück sind unsere Bauern ja gescheiter als unsere Opposition. Sie erkennen die Vorteile dieser Koalitionsinitiative und werden das großzügige Angebot zum eigenen Gewinn zu nutzen wissen. So ist nämlich die Stimmung im Lande.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118826400
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen? — Auf Ihre Redezeit rechne ich Ihnen das nicht an.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118826500
Ja, gern, bitte schön.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1118826600
Herr Bredehorn, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie gestern diese Lösung als die zweitbeste bezeichnet haben?

(Sielaff [SPD]: Ja, selbstverständlich!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118826700
Ja, selbstverständlich. Es ist doch für Handelnde in der Politik selbstverständlich, daß man das verwirklicht, was durchsetzbar ist. Darüber sollten wir uns doch sehr schnell einig werden. Frau Kollegin.

(Sielaff [SPD]: Die Koalition konnte sich nicht einigen! Die arme CDU!)

Aber trotzdem meine ich — wir merken es inzwischen ja —, daß unsere Bauern sehr wohl wissen, daß das eine gute Lösung ist. Ich kann aus meiner bisherigen Kenntnis nur sagen, daß es im Augenblick bei den Landwirtschaftsbehörden, bei den Landwirtschaftsämtern schon Nachfragen gibt, wann etwas kommt. Das gibt mir die Hoffnung und den Mut, daß dieses Programm auch voll angenommen wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118826800
: Lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo zu?

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1118826900
Selbstverständlich, wenn das nicht angerechnet wird.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1118827000
Herr Kollege, ich erkenne an, daß Sie immer mutig gegen die Quotenregelung gekämpft haben. Ich frage Sie: Was ist Polemik, wenn wir bei der Nachbesserung jetzt von einer Bringschuld der Koalitionsfraktionen reden?

Günther Bredehorn (FDP):
Rede ID: ID1118827100
Selbstverständlich habe ich diese Quotenregelung immer ganz kritisch begleitet.

(Sielaff [SPD]: Immer zugestimmt! Sie reden dagegen und stimmen dafür, wie beim Jäger 90!)

Aber es ist doch Aufgabe eines handelnden Politikers — ich kann das nur wiederholen — , wenn sich bei einer Regelung herausstellt, daß es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, diese zu verwirklichen, und darum bemühen wir uns.



Bredehorn
Um zum Schluß zu kommen, was diesen Punkt angeht: Die SPD-Kollegen sollten sich wirklich einmal umhören. Es geht nicht darum, dumpfe Neidgefühle zu schüren, insgeheim den Fehlschlag der Maßnahme zu wünschen und dann noch, wie es geschehen ist, die Kosten zu kritisieren und zu beklagen.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich wiederhole: Zur Debatte steht nicht Verteilungspolitik, sondern es geht um einfache betriebswirtschaftliche Zusammenhänge und um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Milcherzeuger im künftigen EG-Binnenmarkt: Die FDP schafft dafür die notwendigen Rahmenbedingungen. Deswegen haben wir die Initiative unterstützt und maßgeblich beeinflußt. Wir wollen, daß der Bauchladen so schnell wie möglich abgebaut wird. Wir müssen und wollen diesen Erfolg haben. Die 400 000 t müssen bis zum nächsten Frühjahr verschwinden, also bis zum 1. April 1991. Das Anlastungsrisiko bis 1993 ist ja auf 1 Milliarde DM zu beziffern. Das kann von uns nicht verantwortet werden.

(Wimmer [Neuötting] [SPD]: Das haben doch Sie eingebrockt!)

Die Konditionen der Herauskaufaktion sind hervorragend. Der Bund gibt 1,60 DM je kg Milch und danach bis zum Ende des Jahres 1,10 DM/kg.
Jedem Berufskollegen, der sich mit dem Gedanken trägt, seine Milchproduktion aufzugeben, kann ich deshalb nur raten, dieses Angebot anzunehmen und sich rasch zu entscheiden, damit er kein Geld für betriebsverbessernde Investitionen verliert. Deshalb haben wir, die FDP, die ursprünglich im Gesetz vorgesehenen Obergrenzen, nämlich 25 % der Quote oder 40 000 kg Milch, gestrichen. Es macht betriebswirtschaftlich doch keinen Sinn — Herr Oostergetelo, Sie müssen es doch wissen — für einen, der umstellen will, nur einen Teil der Milchproduktion aufzugeben und anschließend mit höheren Kosten und eingeschränkter Wettbewerbsfähigkeit weiterzuwirtschaften. Es ist ökonomisch doch viel sinnvoller, einen unrentablen Betriebszweig vollständig aufzugeben

(Sielaff [SPD]: Ihr wollt alles kaputtmachen; das ist richtig!)

und in eine sinnvolle Spezialisierung oder auch in eine Umstellung zum Nebenerwerb zu investieren. Diese notwendige Entscheidungsfreiheit wollten wir nicht durch fragwürdige Obergrenzen behindern.
Selbstverständlich werden bei der jetzigen Regelung den Landwirten beachtliche Beträge zur Verfügung gestellt. Aber daran kann ich nichts Verwerfliches erkennen, wenn wir damit die Quoten herausbekommen. Denn diese Beträge können für notwendige Umstellungsinvestitionen oder eben auch zur notwendigen Tilgung von Schulden verwendet werden. Sie ermöglichen eine strukturelle Anpassung und erweitern unternehmerischen Freiraum. Das sind Entwicklungen, auf die unsere Landwirtschaft mehr denn je angewiesen ist.
Die in der Milcherzeugung verbleibenden Landwirte müssen wieder in die Lage versetzt werden, sich ihre langfristige betriebliche Entwicklungs- und Konkurrenzfähigkeit zu bewahren.
Obwohl — ich sage das ganz deutlich — die Garantiemengenregelung erheblich zur Sanierung des Milchmarkts und zur Verbesserung der Lage der Michproduzenten beigetragen hat — ich glaube, das ist unbestritten — , sind die Entwicklungsmöglichkeiten von Milchviehbetrieben augenblicklich stark eingeschränkt. Insbesondere gilt das für junge, tüchtige Landwirte, die einfach ihre Zukunft auch in der Milchproduktion suchen.
Die Quotenregelung muß also flexibler gestaltet werden. Kauf und Verkauf von Quoten und auch das Quotenleasing müssen erleichtert und ermöglicht werden.
Verwirklichen läßt sich dies jedoch erst, wenn der Bauchladen tatsächlich vollständig abgebaut ist.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: So ist es !)

Wenn dies bis zum Ende des Jahres geschehen ist, kann die Flexibilisierung greifen.
Daraus ergibt sich der weitere Vorteil, daß ein zusätzliches Produktionsvolumen von 400 000 bis 500 000 t derzeitiger Unterlieferung ausgeschöpft werden kann. Dies ermöglicht weitere Erlöse in einer Größenordnung von über 300 000 Millionen DM und begünstigt damit die betriebliche Entwicklung der Milchbauern.
Zu beachten ist bei allem allerdings, daß es strukturpolitisch verfehlt wäre, wenn die Quoten aus Grünlandgebieten in die Ackerbaugebiete abwanderten.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Der Quotenhandel sollte also nur in regionalen Grenzen möglich sein. Ob man Ländergrenzen oder Einzugsbereiche der Molkereien oder Molkereizusammenschlüsse nimmt, darüber müssen wir reden. Ein Problem beim Quotenhandel wird sicher sein, ob wir dort bestimmte Begrenzungen vorsehen müssen. Trotzdem sage ich als Liberaler, daß wir, wenn wir die Chancen junger Landwirte wahren wollen, bestimmte Begrenzungen und bestimmte Kriterien für Handel und Verkauf von Quoten politisch festlegen müssen. Darüber müssen wir miteinander diskutieren, um zu einer vernünftigen Regelung zu kommen.

(Oostergetelo [SPD]: Wir nehmen Sie beim Wort!)

Noch ein Wort. Der Kollege Oostergetelo hat hier noch einmal — die Falschmeldung kennen wir ja schon seit einigen Tagen — auf jene 385 Millionen DM hingewiesen. Auch hier ist die SPD nicht ganz auf der Höhe der Diskussion.

(Oostergetelo [SPD]: Oho!)

Der Bundesregierung ist es dankenswerterweise gelungen, die bisherige Anlastung, nämlich 385 Millionen DM, zur Finanzierung unserer Sonderaktion freizubekommen. Ohne diesen Verhandlungserfolg hätten wir doch niemals die Zustimmung des Finanzministers erreicht. Die Ende letzten Jahres nach Brüssel überwiesenen Mittel sind also keineswegs zusätzlich zu erbringen, wie die SPD glauben machen will. Diese



Bredehorn
Mittel wären auch ohne die Sonderaktion angefallen. Aber jetzt kommen sie unseren Bauern zugute und werden nicht nach Brüssel überwiesen. Sie hätten das wohl gern. Mir kommt das, was der Kollege Oostergetelo sagte, so vor wie das, was schon Wilhelm Busch sagte. Das, was andere bekommen, empfindet der Kollege Oostergetelo als eigenen Verlust. So kann man es nicht machen.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich abschließend sagen: In der Milchwirtschaft ist auch zukünftig eine sinnvolle und vernünftige Strukturentwicklung notwendig. Die Änderung des Milchaufgabevergütungsgesetzes schafft dafür die notwendigen Voraussetzungen. Deshalb wird die FDP dem zustimmen. Ich hoffe, daß wir nach Beendigung dieser einmaligen Sonderaktion sagen können: „Bei der Milch ist alles in Butter" und daß auch unsere Kühe so zufrieden sind,

(Heiterkeit bei der SPD)

wie es Joachim Ringelnatz unter der Überschrift „Kühe" formulierte:
Wie in der ersten Frühe
Der Nebel feig
Sich dünne macht, stehen auf der Wiese Kühe, Und eine davon klackst jenen erstaunlich viel grünen Teig.

(Sielaff [SPD]: Jetzt wird er noch lyrisch!)

Als wie im Paradiese!
Warme Mastbäuche rauchen,
Rührende Rotzmäuler tauchen
In die Champagnerbläschen der Wiese.
Sie wandeln mit viehischer Majestät Innerhalb ihrer Grenze,
Schieben das Restchen von Nervosität In die Quaste ihrer Schwänze.
Und ihre Euter schwappeln und schlenkern So hunds-glücklich gemein — —
Danke schön.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Sielaff [SPD]: Aber zum Goethe reicht es noch nicht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118827200
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.

Dora Flinner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118827300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht nur der neue Verdacht auf Kadaverfett in Lebensmitteln macht die Verbraucher mißtrauisch gegenüber den Erzeugnissen der Ernährungsindustrie. Die immer wiederkehrenden Skandale in der Tiermast zeigen, daß hier endlich wirksame Maßnahmen des Gesetzgebers erfolgen müssen. — Aber Herr Kiechle hört leider nicht zu.
Mit unserem Antrag, der heute beraten wird, verfolgen wir dieses Ziel. Hier sollte schnellstmöglich gehandelt werden. Demgegenüber kommt uns die Eile, mit der die Koalition die Maßnahmen zum Aufkauf der Milchquoten durch das Parlament jagt, verdächtig vor.

(Sielaff [SPD]: Eine Hatz ist das!)

Plötzlich heißt es, die Regierung wolle durch ihre Aktion den Strafabgaben in Höhe von 1 Milliarde DM an die EG entgehen. Diese Strafabgaben drohen nämlich, wenn der Quotenüberhang bis 1991 nicht abgebaut ist. Doch eigentlich hätte man das schon lange wissen müssen. Der Erfolg der Eilaktion ist äußerst fragwürdig.
Aber wie sieht es mit diesem Überhang aus? In Wirklichkeit existiert er nur theoretisch; denn dem Überhang von 400 000 t Milch stehen derzeitige Unterlieferungen in Höhe von 400 000 bis 500 000 t Milch gegenüber. Das heißt, der sogenannte Bauchladen ist in Wirklichkeit ein Luftballon.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Na!)

— Jawohl.
Die Eilaktion hat in Wirklichkeit folgende Ziele
— wir haben das auch schon von Herrn Bredehorn so gehört — : Die freie Handelbarkeit der Milchquoten soll erreicht werden. Damit wird die Milcherzeugung weiter aus den Grünlandregionen und den benachteiligten Gebieten in die Intensivstandorte verlagert. Die sogenannten Härtefälle, die früher schon begünstigt waren, werden hier wieder bevorzugt. Dadurch, daß der staatliche Quotenabzug bei Flächenübertragung mit dieser Aktion gleichzeitig auf 80 % erhöht wird, ist das Angebot alles andere als freiwillig. Die Maßnahmen gehen so zu Lasten der kleineren Milcherzeuger und tragen zur Zerstörung der ländlichen Struktur bei. Dies ist keine Politik für die Menschen auf dem Lande, sondern gegen die Bäuerinnen und Bauern.
Wir dagegen fordern solche Maßnahmen, die das Problem des sogenannten Quotenüberhangs lösen, ohne gleichzeitig den Strukturwandel und seine negativen Folgen zu fördern. Dazu gehört, daß die Berechnung der nationalen Quote nicht auf der Grundlage der einzelbetrieblichen, sondern der Molkereiquote erfolgt. Damit käme man zu einer realistischen Quotenberechnung.
Der Quotenabzug bei Flächenübertragungen muß gestrichen werden. Gleichzeitig muß die Quote an die Fläche gebunden bleiben. Bei solchen Betrieben, die ihre Quote nicht erfüllten, ist diese Papierquote ersatzlos zu streichen. Für Betriebe mit einem übergroßen Milchkontingent ist eine obligatorische Quotenkürzung mit Entschädigungszahlung einzuführen.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Wieviel Prozent?)

— Darüber könnten wir reden.

(Susset [CDU/CSU]: Dann reden Sie doch drüber!)

Diese Maßnahmen sind preiswert, aber wirkungsvoll, im Gegensatz zum Regierungsprogramm.
Meine Damen und Herren, wichtiger als alles ist mir die Situation der Bäuerinnen. Hier gibt es schwerwiegende Versäumnisse aller bisherigen Regierungen. Nach wie vor wird die Arbeitsleistung Hunderttausender von Bäuerinnen nicht anerkannt, geschweige



Frau Flinner
denn angemessen berücksichtigt. Bisher sind die Bäuerinnen gegenüber den anderen berufstätigen Frauen immer weiter zurückgeblieben. Sie haben keinen eigenen Anspruch in der landwirtschaftlichen Alterskasse oder der landwirtschaftlichen Krankenversicherung. Werden sie arbeitsunfähig, gibt es keine Leistungen. Gäbe es nicht immer noch idealistische, fleißige Frauen auf dem Lande, die trotz dieser Benachteiligungen weiterarbeiten, dann gäbe es keine landwirtschaftlichen Familienbetriebe mehr.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dann wäre längst das eingetreten, wohin der Strukturwandel und die Agrarpolitik der Regierung führen. Es kann nicht so weitergehen mit den unzumutbaren Lebensbedingungen und der unzureichenden sozialen Situation der Bäuerinnen. Da nutzt es nichts, eine Scheinbefragung zu veranstalten, von der keiner mehr etwas gehört hat und deren Ergebnisse ohnehin schon vorher klar waren. Da nutzt es auch nichts, ab und zu einmal Vertreterinnen des Landfrauenverbandes einzuladen und sie immer wieder zu vertrösten. Das möchte ich auch an die Adresse der SPD sagen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nein, jetzt muß sich endlich etwas ändern. Schließlich sind die Bäuerinnen nicht schuld an der mißratenen Bundes- und EG-Politik. Deshalb dürfen sie nicht weiter die Zeche dafür bezahlen. Die Bäuerinnen brauchen einen eigenständigen Anspruch in der landwirtschaftlichen Alterskasse, der landwirtschaftlichen Krankenversicherung, und insbesondere muß ein angemessener Mutterschutz endlich verbindlich vorgeschrieben werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, machen wir endlich eine Politik für die Bäuerinnen und Bauern. Dann könnte der Agrarbericht besser aussehen.
Ich bedaure, daß für Agrardebatten immer kürzere Zeiten angesetzt werden. Heute sind es 45 Minuten für insgesamt vier schwerwiegende Themen. Daran sieht man, welche Stellung die Landwirtschaft bei der Koalition und bei der Regierung einnimmt.
Ich danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Garbe [GRÜNE]: Ein Skandal!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118827400
Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Kiechle.

Ignaz Kiechle (CSU):
Rede ID: ID1118827500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dieser Gesetzesinitiative, für die ich den Kollegen aus der Koalition sehr dankbar bin, geht es darum, das Problem der Übermengen an Milchproduktionsrechten zu lösen. Die Übermengen sind keine Laune der Natur. Sie resultieren im wesentlichen aus einer weiten, großzügigen Auslegung der Vorschriften bei der anfänglichen schwierigen einzelbetrieblichen Verteilung der Quoten, und zwar durch die zuständigen Behörden, nicht durch den Bund. Trotz bisheriger Milchrentenaktionen ist ein sogenannter Bauchladen von 400 000 t verblieben, die bis Ende März 1991 abzubauen sind.

(Sielaff [SPD]: Der Bauch muß weg!)

Das haben wir der EG-Kommission zusagen müssen. Dafür hat die Kommssion uns die Möglichkeit eröffnet, Strafgelder, die wir sonst für unsere Übermengen nach Brüssel hätten zahlen müssen — für 1987 und 1988 über 350 Millionen DM —, in eine Herauskaufaktion zu stecken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Nichtstun — das ist sicher — wäre keine Lösung. Der Bundeshaushalt wäre jedes Jahr mit beträchtlichen Summen an Strafgeldern belastet. Denn von 1989 bis 1992 käme zu den bereits genannten 350 Millionen DM nochmals rund 1 Milliarde DM hinzu. Davon hätten die Bauern wirklich gar nichts.
Also kann die Lösung nur sein: Wir machen den Milchbauern ein attraktives Angebot, im Rahmen einer Sonderaktion die 400 000 t zuviel verteilter Quoten herauszukaufen. Das geschieht mit dieser Regelung. Dabei erhalten die Bauern, die bis zum 31. August dieses Jahres auf das Angebot eingehen — es ist völlig freiwillig — 50 Pfennig mehr als die, die sich erst danach entscheiden. Der attraktive Satz von 1,60 DM gilt also nur begrenzte Zeit. Gelingt die Herauskaufaktion, haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Garantiemengenregelung endlich flexibler zu gestalten, z. B. Wegfall der Abzugsregelung von 20 % bzw. 30 % und Erleichterungen bei der Referenzmengenübertragung zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben.
Herr Kollege Michels hat das Thema Rindfleisch — gemeint ist sicher Kuhfleisch — angesprochen. Wir haben das durchaus bedacht, sind aber der Meinung: Da wir bei der Aktion „Rückführung der Milchquote" EG-weit keine nennenswerten Preiseinbrüche bei Kühen hatten — es gab lediglich eine Preisreduzierung um 7 bis 8 % — , dürften die jetzt anfallenden 70 000 bis 80 000 Stück auch nicht besonders ins Gewicht fallen. Immerhin reduzieren wir die Milchmenge in Deutschland nicht um 8,5 %, sondern nur um knapp 2%.
Der Herr Kollege Oostergetelo hat einige sehr lebhafte Bemerkungen gemacht. Ich finde sie nicht sehr hilfreich, will aber zu ein paar doch etwas sagen.
Herr Kollege Oostergetelo, Sie sind ja sonst immer ein netter Mensch.

(Sielaff [SPD]: Ein sehr netter Mensch und ein kluger Mensch!)

Aber wieso stellen Sie sich hier hin und sagen: Bei Maßnahmen im Zusammenhang mit Milch ist alles Hektik? Herr Kollege Oostergetelo, die Überschüsse haben wir übernommen. Wir bauen sie nun ab, und zwar nach einem ganz klaren Konzept. Jetzt, nach fünf Jahren, sind wir beim letzten Schritt. Was soll daran Hektik sein? Da wir das außerdem nicht zu Lasten der Bauern, nicht auf deren Rücken und nicht mit Preisdruck gemacht haben,

(Sielaff [SPD]: Doch!)

wie Sie es ständig vorschlagen, ist Ihr Wort, finde ich, ein bißchen hart.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118827600
Herr Bundesminister, der Abgeordnete Kreuzeder möchte gerne eine Zwischenfrage beantwortet haben.

Ignaz Kiechle (CSU):
Rede ID: ID1118827700
Wenn der Abgeordnete Kreuzeder so spricht, daß ich es verstehen kann, gerne.

(Heiterkeit)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118827800
Herr Abgeordneter, ich hoffe, Sie kommen dem Wunsch des Bundesministers nach.

Matthias Kreuzeder (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118827900
In Bayern ist bekannt, daß man Schwaben schwerer versteht als Oberbayern. —

(Erneute Heiterkeit)

Herr Minister, wenn der letzte Schritt, den Sie soeben so bezeichnet haben, nicht funktioniert: Welche Möglichkeiten sehen Sie dann vor? Denn es ist ja tatsächlich nicht so, daß es ohne weiteres möglich ist, diesen Bauchladen abzubauen.

Ignaz Kiechle (CSU):
Rede ID: ID1118828000
Der letzte Schritt wird funktionieren, Herr Kreuzeder. Wenn er im Dezember 1990 noch nicht funktioniert hat, reden wir noch einmal darüber: im Parlament und in der Regierung.

(Sielaff [SPD]: Aber erst nach dem Wahltag! — Weitere Zurufe von der SPD)

Aber er wird funktionieren! Denn Sie haben ja nur aus Angst geäußert, es würden zu viele zuviel Milch verkaufen. Der Herr Kollege Oostergetelo meint sogar, es würden dadurch manche zu Millionären. Wenn die mit mehr als 750 000 kg — dann entstehen angeblich Millionäre — ihre Milch an uns verkaufen, dann haben wir die Quote in kurzer Zeit leicht geschafft.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Sehr wahr, sehr wahr! So ist es!)

Da man sich über diese Leute auch nicht beschwert hat, als sie wegen der Melker, die sie nicht mehr bekommen haben, ihre Kühe ohne jede Prämie aufgegeben haben — man hat immer gesagt, das geschehe zugunsten der kleineren Betriebe —,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das stimmt doch überhaupt nicht, daß das dann zugunsten der Kleinen war!)

sollte man sich jetzt auch nicht beschweren, falls wirklich einer darunter ist, der sie verkauft.
Ich halte es nicht für gut, mit dieser Rechnung — Herr Kollege Oostergetelo, sie ist Ihrer nicht würdig — den Versuch zu machen, Sozialneid zu schüren.

(Sielaff [SPD]: Oh, oh, oh! — Weitere Zurufe von der SPD)

Hören Sie mal: Einem kleinen Bauern vorzurechnen, da könne einer Millionär werden! Für den Steuerzahler ist es völlig egal, ob er 750 000 kg bei einem Bauern oder 750 000 kg bei 15 Bauern aufkauft; ihn kostet es gleich viel.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Aber die Folgen sind andere, Herr Kiechle! — Frau Garbe [GRÜNE]: Das ist eine Milchmännerrechnung! )

Wir haben hier das Ziel, die Milchmengen, die zuviel verteilt sind, herauszukaufen — nicht mehr und nicht weniger. Auch für die kleinen Bauern ist das völlig freiwillig.

(Abg. Oostergetelo [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage — Susset [CDU/CSU]: Der Oostergetelo will die letzten Kleinen weg haben!)

Meine Damen und Herren, zu dem Vorwurf, der Bauchladen — so haben Sie formuliert, Herr Oostergetelo — sei von uns initiiert worden, habe ich schon Stellung genommen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118828100
Herr Bundesminister, der Abgeordnete Oostergetelo fühlt sich veranlaßt, eine Zwischenfrage zu stellen.

Ignaz Kiechle (CSU):
Rede ID: ID1118828200
Nein, die Zeit ist vorbei.

(Sielaff [SPD]: Das stimmt, Ihre Zeit ist vorbei!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118828300
Sie sagen nein. Ich bin Ihnen auch, ehrlich gesagt, nicht böse darum; denn Ihre Zeit ist ohnehin abgelaufen. Wir haben in der Debatte den Zeitrahmen deutlich überschritten. Ich bitte, ein wenig Zurückhaltung zu üben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundesminister, fahren Sie bitte fort.


Ignaz Kiechle (CSU):
Rede ID: ID1118828400
Ich möchte abschließend sagen: Das Gesetz liegt jetzt auf dem Tisch, und ich bitte um Zustimmung. Die Flexibilisierung wird vor allem von jungen Bauern gefordert,

(Bredehorn [FDP]: Sehr richtig!)

die ihre Perspektiven in der Milchviehhaltung verbessern wollen. Da dann bei Verpachtungen auch alle Abzüge entfallen, ist das durchaus eine vernünftige strukturelle Zielsetzung, die jungen Bauern hilft.

(Beifall des Abg. Bredehorn [FDP])

Deswegen erwarte ich auch die volle Unterstützung des Berufsstandes bei der Herauskaufaktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118828500
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel.

(Michels [CDU/CSU]: Jetzt mal etwas Gutes! Denn Sie machen ein so freundliches Gesicht!)


Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1118828600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben der Milchquote haben wir ja noch ein paar andere Themen auf der Tagesordnung. Nachdem sich alle so über die Milch erregt haben, möchte ich einmal etwas zu einem Thema sagen, das vielleicht noch wichtiger ist, nämlich zu der Situation der Bäuerinnen.
Aber vorher möchte ich noch bemerken, daß sich unter dem schönen, sehr spannenden Titel „Schutz vor Verbrechen in der Tiermast" alte Forderungen nach Einschränkung der Massentierhaltung mit abso-



Frau Weyel
Tuten Bestandsobergrenzen und verschiedene Forderungen nach einer artgerechten Haltung verbergen. Ich denke, darüber unterhalten wir uns erst einmal im Ausschuß. Der Antrag wird ja überwiesen.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Das ist richtig!)

Der Antrag der GRÜNEN zur Situation der Bäuerinnen genießt in der Tendenz unsere Sympathie, und ich glaube, das gilt auch für die Koalitionsfraktionen. Man merkt, daß dieser Antrag eine Menge Erfahrungen enthält, die Frau Flinner in diesen Bereich eingebracht hat,

(Frau Teubner [GRÜNE]: Das kann man wohl sagen!)

die aber im wesentlichen für die Frauen in den südlicheren Bundesländern zutreffen. Den Feststellungen im ersten Abschnitt Ihres Antrages können wir deshalb ziemlich vorbehaltlos zustimmen.
Als SPD-Fraktion haben wir im letzten Jahr eine Anhörung zur Lage der Frauen auf dem Lande durchgeführt. Da hat sich gezeigt — was wir eigentlich alle schon wissen —, daß es nicht d i e Bäuerin in der Bundesrepublik gibt, sondern Frauen in sehr unterschiedlichen Situationen und Verhältnissen, sowohl regional als auch von Betrieb zu Betrieb.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Für uns ergibt sich aber aus der Anhörung eine Forderung, für die dann viele Einzelmaßnahmen notwendig sind, nämlich endlich die Arbeit der Bäuerin als Beruf anzuerkennen. Dies ist nicht eine Nebentätigkeit, die man als Hausfrau dann in der Freizeit macht, sondern die Tätigkeit der Bäuerin ist ein Beruf ebenso wie die Tätigkeit des Bauern.

(Susset [CDU/CSU]: Mit Berufsabschluß, Frau Weyel?)

Es gibt Leute, die machen das im Vollerwerb, und es gibt Leute, die machen das im Nebenerwerb. Und weil das so ist, müssen diese Frauen den gesamten Schutz genießen, den auch sonst erwerbstätige Frauen in unserer Wirtschaft und in unserem Sozialsystem genießen.

(Beifall des Abg. Sielaff [SPD])

Aus dieser Forderung nach Anerkennung als Vollerwerbstätigkeit ergibt sich die Forderung der Einbeziehung in die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere in die Krankenversorgung. Dies muß natürlich auch für den Fall des Mutterschutzes gelten. Ferner gehört eine eigene Altersversorgung dazu, die von dem Recht des Ehemannes unabhängig ist.

(Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!)

Wir sehen aber auf der anderen Seite die Schwierigkeiten, diese Forderungen, die wir eigentlich weitgehend teilen, in den Einzelheiten durchzusetzen und insbesondere zu finanzieren. Die übliche Formel, Frau Flinner, die Sie auch im Ausschuß gebraucht haben, dieses könnte man aus Mitteln des Verteidigungsausschusses finanzieren,

(Frau Flinner [GRÜNE]: Darüber müßte diskutiert werden!)

ist zu allgemein, denn diese Mittel sind schon sehr vielfach für allerlei nützliche Dinge verteilt worden.

(Frau Flinner [GRÜNE]: Man müßte aber darüber diskutieren!)

Deshalb halten wir den Forderungsteil, den Sie auf gestellt haben, für unrealistisch. Das gilt auch für die Zahlen, die Sie in den Antrag hineingeschrieben haben; denn diese Forderungen müßten natürlich für viele andere erwerbstätige Frauen auch gelten. Insbesondere halten wir die kurzfristigen Vorschläge für nicht realisierbar. Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zutimmen, sondern uns enthalten.
Aber nun möchte ich mich an den Herrn Minister wenden.

(Zuruf von der SPD: Das ist sowieso zwecklos!)

Er hört gerade nicht zu, aber das macht nichts. Eine Lösung ist nur in dem angekündigten Vierten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz möglich. Vor einem halben Jahr ist uns gesagt worden, das Ganze sei bis in die nächste Legislaturperiode vertagt worden. Im Moment gehen wieder viele Gerüchte, Besprechungen und dergleichen um, daß nun doch wieder etwas kommen soll. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf: Legen Sie einen Entwurf für ein Viertes Agrarsoziales Ergänzungsgesetz bald vor, und berücksichtigen Sie in diesem Entwurf die soziale Lage der Bäuerinnen in einem angemessenen Umfang, so daß diese Frauen zu einer eigenständigen sozialen Sicherung kommen!
Danke sehr.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118828700
Damit sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen nun zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Milchaufgabevergütungsgesetzes. Dazu liegen die Drucksachen 11/6090 und 11/6246 vor.
Zunächst einmal rufe ich die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen worden.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf insgesamt zuzustimmen wünschen, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen?

(Zuruf des Abg. Walther [SPD])

— Herr Abgeordneter Walther, als Mitglied des Haushaltsausschusses sollten Sie zählen können.

(Heiterkeit)

Es ist eindeutig: Die Mehrheit war bei der Koalition. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6255



Vizepräsident Cronenberg
ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag der GRÜNEN? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt worden.

(Becker [Nienberge] [SPD]: Hier hätte Frau Beck-Oberdorf natürlich da sein müssen, das will ich betonen!)

— Herr Abgeordneter Becker, dies wird im Protokoll festgehalten.

(Heiterkeit)

Zu Tagesordnungspunkt 8 b schlägt der Ältestenrat vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5732 an die in der Tagesordnung auf geführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall; dann ist es so beschlossen.
Zu Tagesordnungspunkt 8 c: Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Auschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/5475 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu Entschließungsanträgen, die sich auf den Agrarbericht 1989 beziehen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/5486 unter Nr. 1, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/4487 unverändert anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/5486 unter Nr. 2, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4505 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt weiter unter Nr. 2, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4517 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Offensichtlich keine. Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß)

zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Weiss (München), Frau Rock, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Weiss (München), Frau Rock, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordeten Weiss (München), Frau Rock, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt
— Drucksachen 11/4099, 11/4949, 11/5243, 11/5256, 11/6143 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Gries Oswald
Zunächst hat Herr Abgeordneter Weiss das Wort.

Michael Weiss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118828800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich noch gut an die Horrorszenarien erinnern, die der Bundesverkehrsminister an diesem Pult gemalt hat, was alles eintreten würde, wenn das Nachtfahrverbot in Österreich am 1. Dezember in Kraft treten würde. Da war die Rede davon, es würde eine Katastrophe geben, es würde einen Rückstau von 22 Kilometern von Kiefersfelden bis zum Inntaldreieck geben, und was noch alles an Katastrophen vorausgesagt worden ist. Nichts davon ist eingetreten. Die Wirtschaft hat sich auf das Nachtfahrverbot eingestellt, und es ist tatsächlich eine Entlastung der Anwohnerinnen und Anwohner des österreichischen Inntals eingetreten.
Die ersten Ergebnisse zeigen, daß die Zahl des nachtfahrenden Lkw-Verkehrs trotz Ausnahmeregelungen auf 20 % des vorherigen Wertes gesunken ist, daß sich die Lärmbelastung verringert hat, daß die Wirtschaft nicht zusammengebrochen ist sowie all das nicht geschehen ist, was sonst noch an negativen Meldungen im voraus produziert worden ist. Das aber zeigt, daß die Befürchtungen völlig unberechtigt waren.
Nichtsdestotrotz bleibt aber die Bundesregierung bei ihrer Haltung, daß sie weiterhin versucht, Druck auf die österreichische Regierung zu machen. Es gibt einen Brief vom Bundesverkehrsminister Zimmermann gemeinsam mit dem italienischen Verkehrsminister Bernini an den österreichischen Verkehrsminister Streicher, in dem wieder eine Lockerung des Nachtfahrverbots, weitere Ausnahmeregelungen, Verschiebungen und ähnliche Aufweichungen gefordert werden.
Meine Damen und Herren, mit Erleichterungen des Verkehrs hat das nichts zu tun. Die Bundesregierung hat Angst, daß dieses Nachtfahrverbot, das die Tiroler Regierung verhängt hat, zu dem Effekt führt, daß die Leute merken, daß Verkehrsverbote etwas bringen, daß Nachtfahrverbote tatsächlich dazu führen, daß die Leute ruhiger schlafen können. Genau das ist der Punkt, den die Bundesregierung ganz wesentlich befürchten muß, nämlich daß der Erfolg des österreichi-



Weiss (München)

schen Nachtfahrverbotes, tatsächlich Umweltentlastungen zu bewirken, dazu führen wird, daß auch an anderen Stellen auch in der Bundesrepublik Deutschland, die Forderung nach Fahrverboten erhoben wird und daß das alte Schreckgespenst, das die Bundesregierung gern zu malen pflegt — von wegen Zusammenbrechen der Wirtschaft, von wegen katastrophale Verkehrsverhältnisse, Staus von mehreren 10 km Länge usw. — nicht mehr wirkt. Denn diese ganzen Dinge sind soeben durch den Erfolg widerlegt worden, den das österreichische Nachtfahrverbot erzielt hat.
Im übrigen hat es tatsächlich eine Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene gegeben, mit einer Auslastung von 65 % im Nord-Süd-Verkehr und einer Auslastung von 42 % im Süd-Nord-Verkehr der rollenden Landstraße. Zwischen Ingolstadt und dem Brenner hat der kombinierte Verkehr zugenommen, und es besteht zumindest die Hoffnung, daß von der Möglichkeit des kombinierten Verkehrs in Zukunft noch stärker Gebrauch gemacht wird.
Deshalb ist es heute an der Zeit, die Konsequenzen aus den Erfolgen zu ziehen, die die Österreicher erzielt haben, und es ist Zeit, daß die Bundesregierung endlich einmal anerkennt, daß das Nachtfahrverbot in Österreich ein umweltpolitischer Erfolg, ein Mißerfolg der Gegenpropaganda der Bundesregierung und ein Mißerfolg der üblen und negativen Prognosen war, die der Bundesverkehrsminister vorher an allen möglichen Stellen abgegeben hat.
In der Tat war das österreichische Nachtfahrverbot sozusagen die letzte Notbremse. Die Österreicher haben sie gezogen, nachdem bereits auf einer Verkehrsministerkonferenz in Rom 1985 konkrete Schritte zur Verlagerung von Verkehr auf die Schiene vereinbart waren und die Bundesregierung schlicht und einfach nicht in die Gänge gekommen ist, das umzusetzen, was sie zugesagt hatte, die Österreicher ihrerseits Investitionen in die Umfahrung Hall/Innsbruck getätigt hatten und sich bemüht hatten, die Kapazitäten der Eisenbahn im alpenquerenden Verkehr zu erhöhen, aber auf bundesrepublikanischer Seite so gut wie nichts getan worden ist.
Eines zeigt das österreichische Nachtfahrverbot nach wie vor deutlich: Von selbst kommt kein Verkehr von der Straße auf die Schiene. Wir haben immer noch fast die Hälfte der Kapazität im kombinierten Verkehr nicht ausgenutzt. Erst das Nachtfahrverbot hat tatsächlich Güterverlagerungen bewirkt.
Deswegen halte ich es für völlig abwegig, wenn Sie nun hergehen und sagen: Wir brauchen verkehrspolitisch keine Maßnahmen; wir bauen irgendeinen Brenner-Basistunnel, oder wir sind für den Gotthard-Basistunnel, oder wie auch immer. Das bewirkt keine Verlagerung auch nur einer einzigen Tonne auf die Schiene; denn zusätzliche Kapazitäten nützen überhaupt nichts, wenn sie nicht ausgenutzt werden. Bislang ist die Bundesregierung eben nicht bereit, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Da frage ich mich: Was haben denn die Großbauprojekte für einen Sinn? Es gibt keinen Tunnelautomatismus. Wenn Sie einfach einen Tunnel bauen, werden Sie dadurch keine Verkehrsverlagerung erreichen. Vielmehr benötigen Sie tatsächlich Maßnahmen, wie sie die Österreicher verhängt haben, eben Nachtfahrverbote, oder wie sie die Schweizer verhängt haben, Gewichtsbeschränkungen.
Aber es ist halt bequem, auch für die Bundesregierung, zunächst über Tunnel zu diskutieren; denn Tunnel vereinfachen das Problem. Tunnel gelten als Problemlösung.
Der Bundesverkehrsminister kann seinen Handlungswillen beweisen, wenn er über Projekte redet, die frühestens im Jahre 2010 fertig sind. Er kann demonstrieren, daß er angeblich die entscheidenden Fragen beachtet hat. Aber es bleibt halt die Frage unbeantwortet, wie denn tatsächlich die Güter von der Straße auf die Schiene verlagert werden sollen.
Es ist auch für die Bahnen angenehm, über die Tunnel zu diskutieren; denn es entsteht dabei der falsche Eindruck, daß man heute ohne Tunnel eigentlich gar nichts machen könnte. Aber das ist wirklich falsch; denn in der Tat gibt es eine ganze Menge von nicht ausgenutzten Kapazitäten. Gerade die österreichischen Maßnahmen zeigen, daß es Möglichkeiten gibt, dafür zu sorgen, daß eine Verkehrsverlagerung eintritt.
Es ist natürlich auch deshalb angenehm, weil die Bundesregierung zwar von der Schiene reden kann, jedoch alles für die Straße tun kann; denn schließlich bietet ja auch die Tunneldiskussion etwas Angenehmes für das Straßenverkehrsgewerbe und die verladende Wirtschaft. Da der Tunnel eben nicht so schnell realisiert werden kann — das ist immer die Argumentation — , muß man zunächst einmal etwas dafür tun, daß das Straßenverkehrsangebot ausgeweitet wird. In der Tat ist es so, daß argumentiert wird, daß für die Übergangszeit die Bedingungen für den Straßenverkehr noch verbessert werden müssen. Damit aber erlaubt es die Tunneldiskussion, die heute eigentlich entscheidbaren verkehrspolitischen Konflikte in die Zukunft zu vertagen und eben entscheidende Dinge heute nicht zu beschließen, sondern zu verschieben und zu versprechen, daß irgendwann etwas beschlossen werden könnte, wenn der Tunnel einmal fertig sein würde.
Dabei zeigt sich heute eines: Es ist eben nicht so, daß die Bahn das für sie günstigste Verkehrsaufkommen heute tatsächlich abfährt; denn in der Tat werden gerade die langen Strecken heute vom Lkw gefahren. Die Transportweiten der Bahn im grenzüberschreitenden Güterverkehr liegen unter 300 km. Das zeigt, daß wir hier eine verkehrte Welt haben. Wenn man die Zahlen genauer analysiert, zeigt sich, daß eine Verkehrsaufteilung besonderer Art existiert. So werden paarige Verkehre, wo Hin- und Rücklast gleichermaßen gut sind, vom Lkw abgefahren. Bei den unpaarigen Verkehren, also den Verkehren, wo es keine entsprechende Gegenfracht gibt, die für das Straßenverkehrsgewerbe unwirtschaftlich sind, muß dann die Bahn in die Bresche springen. Hier ist es an der Zeit, etwas zu tun, um auch mal der Deutschen Bundesbahn oder den Bahnen der Alpenländer zu einem ausgeglicheneren, paarigen Verkehrsaufkommen zu verhelfen.
Im übrigen möchte ich noch eines sagen: Wie schon die Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
14598 Deutscher Bundestag — i 1. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Januar 1990
Weiss (München)

frage zeigt, haben andere Länder wie Frankreich oder die Beneluxstaaten im Verkehr mit Italien z. B. einen wesentlich höheren Anteil des Seeverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen. Mir ist es unerklärlich, warum das Seeschiff im Verkehr Bundesrepublik—Italien immer noch nur einen Anteil von 2,7 % hat, dagegen z. B. im Verkehr Benelux—Italien einen von 51,2 %. Das ist ein Punkt, bei dem die Bundesregierung dieses Verkehrsaufkommen und die Verkehrsverteilung einmal stärker analysieren müßte und einen Handlungsvorschlag vorlegen müßte; denn ich kann mir nicht vorstellen, daß die Verkehrsverhältnisse in den Verkehrsbeziehungen Bundesrepublik—Italien und Benelux—Italien so unterschiedlich sind, daß dieser krasse Unterschied um den Faktor 20 gerechtfertigt ist.
Eigentlich besteht großer Handlungsbedarf, und die Bundesregierung müßte endlich ihre immer wieder neuerlich geäußerten Angriffe gegen Österreich einstellen

(Beifall bei den GRÜNEN)

und endlich einsehen, daß das Nachtfahrverbot Österreichs tatsächlich etwas gebracht hat, und die Konsequenz daraus ziehen, daß es vielleicht andere Orte gibt, wo Nachtfahrverbot auch die Anwohnerinnen und Anwohner von Straßen entlasten könnte, nicht nur in Österreich, und deshalb ein Nachtfahrverbot durchaus auch in der Bundesrepublik in Betracht kommt.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118828900
Das Wort hat der Abgeordnete Oswald.

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1118829000
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Weiss, das einzige, was ich an Ihrer Rede zu bewundern habe, ist Ihre wirklich phantastische Atemkondition. Das macht Ihnen so schnell keiner nach. Aber manches wäre tatsächlich effektiver gewesen und manches, was an Problemen darin steckt, auch deutlicher geworden, wenn man es in der einen oder anderen Form ruhiger und moderater vorgetragen hätte.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Das müssen Sie dem Ältestenrat sagen! Ich habe nicht mehr Redezeit!)

Ich will auf die Diskussion im Ausschuß zurückkommen. Als Ergebnis der Beratung der Entschließungsanträge der GRÜNEN und der SPD zum Alpentransitverkehr und seinen Auswirkungen auf die Umwelt ist im Ausschuß für Verkehr eine Entschließung in neuer Fassung verabschiedet worden, die auf einen verstärkten Ausbau der Schienenverbindungen abzielt. Der alpenquerende Verkehr — das war ja übereinstimmende Meinung — soll verstärkt von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Darüber hinaus soll der Schadstoffausstoß der Lkw vermindert werden. Wenn auch zu einzelnen Maßnahmen unterschiedliche Auffassungen bestanden, so überwog doch die grundsätzliche Übereinstimmung. Dementsprechend wurde die Entschließung in neuer Fassung trotz Stimmenthaltungen verabschiedet. Ich halte das für ein wichtiges Ergebnis im Interesse der Menschen und der Umwelt in der Alpenregion.
Wir sind uns bewußt, Herr Kollege Weiss — Sie haben darauf hingewiesen — , daß auch von einem stark anwachsenden Schienenverkehr ökologische Auswirkungen, vornehmlich Lärmbelästigungen, ausgehen, die eben nicht vernachlässigt werden dürfen. Wir müssen heute schon die Weichen stellen, damit die von einem verstärkten Bahnverkehr durch die Alpen ausgehenden Umweltbelastungen so gering wie möglich gehalten werden.
Die projektierten Tunnellösungen in den Alpen verbinden in besonderer Weise ökologische und ökonomische Vorteile. Hinzu kommt die verbesserte Akzeptanz eines verstärkten Bahnverkehrs.

(Abg. Weiss [München] [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Warten Sie noch ein bißchen. Ich habe mehr Dinge zu sagen. Bei einer 10-Minuten-Runde, lieber Kollege Weiss, sollte man die Dinge im Fluß darlegen. Wenn dann noch Zeit bleibt, machen wir das noch. Wir diskutieren ja ohnehin immer hin und her. — Hinzu kommt die verbesserte Akzeptanz, wenn die notwendigen Tunnellösungen gleich in Angriff genommen werden.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Sie müssen sagen, wie Sie den Verkehr auf die Schiene kriegen wollen, wenn die Tunnels fertig sind!)

Ein leistungsfähiges Verkehrssystem — daran müssen wir uns immer wieder erinnern — ist die Voraussetzung für mehr Arbeitsteilung, für die Mobilität der Wirtschaft und des einzelnen. Mobilität ist nicht teilbar. Sie kann an den Grenzen zur Schweiz und zu Österreich eben nicht enden. Politisches Ziel ist es, vom Nebeneinander zur Kooperation der verschiedenen Verkehrssysteme zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Einigkeit bestand darüber, daß die Kapazitätsreserven im alpenquerenden Eisenbahnverkehr schnellstmöglich genutzt werden sollen und der Umschlag wesentlich verbessert werden soll; an diesem Punkt sind wir uns einig.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Wenigstens sagen Sie, daß Kapazitätsreserven vorhanden sind! Das haben Sie bisher bestritten!)

Selbstverständlich müssen Sie, Herr Kollege Weiss, und auch die SPD in Ihren Forderungen immer etwas weiter gehen und die Rolle des mißtrauischen Wächters spielen, ob die angekündigten Maßnahmen auch durchgeführt werden. Aber Sie sollten auch ehrlich sein und zugeben, daß diese Bundesregierung mit dem, was sie auf den Weg gebracht und umgesetzt hat, erfolgreich war. Herr Weiss, das sollten Sie anerkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Weiss [München] [GRÜNE]: Was haben Sie denn auf den Weg gebracht? Gar nichts haben Sie auf den Weg gebracht! Drohungen, Drohgebärden, aber sonst nichts!)

— Herr Weiss, wenn Sie ohne Mikrophon fast so laut reden wie ich mit Mikrophon, dann müssen wir das Mikrophon vielleicht doch stärker aufdrehen.



Oswald
Die Bundesregierung braucht sich nicht zu verstekken. Die Bundesrepublik hat auf der Grundlage der 1986 in Rom und 1989 in Udine getroffenen Vereinbarungen, d. h. längst vor dem österreichischen Nachtfahrverbot, eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Die Vereinbarungen von Rom wurden ja nicht umgesetzt! Deshalb hat Österreich so reagiert!)

— Also, jetzt höre ich auf, weil wir beide kein Zwiegespräch führen können. Das machen wir bei anderer Gelegenheit.
Ich nenne nur die Verbesserung der Infrastruktur und der Signaltechnik auf der Strecke München—Kiefersfelden oder die mit positivem Ergebnis abgeschlossene Wirtschaftlichkeitsprüfung für den Ausbau der Entlastungsstrecke München—Freilassing oder auch den Neubau des Rangierbahnhofs München Nord bis 1992.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Der bringt überhaupt nichts!)

Jedem, der sich für den Ausbau der Eisenbahn einsetzt, dafür plädiert, muß man sagen: Wenn es um den Ausbau, wenn es um neue Trassen geht, muß er auf der örtlichen Ebene dafür sorgen, daß das auch umgesetzt wird. Da könnten Sie sich, Kollege Weiss, größere Verdienste erwerben als hier durch manche lautstarke Rede.

(Beifall bei der CDU/CSU — Weiss [München] [GRÜNE]: Das ist doch Blödsinn!)

— Das ist kein Unsinn! Immer wenn es kritisch wird, ist es in Ihren Augen ein Unsinn.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Nein, es ist nicht Unsinn, sondern Blödsinn!)

Meine Damen und Herren, die Bewältigung der verkehrs- und umweltpolitischen Aufgaben im Alpenraum verlangt ein gemeinsames Einstehen für die Verwirklichung eines Gesamtkonzepts kurz-, mittel- und langfristiger Maßnahmen, und ich glaube,

(Weiss [München] [GRÜNE]: Jetzt nennen Sie einmal die kurzfristigen Maßnahmen!)

entscheidend ist auch die Gemeinsamkeit aller Partnerstaaten. Nicht einer allein ist gefragt, sondern es geht um das Zusammenwirken aller.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Einseitiges Vorpreschen mit Sondermaßnahmen oder Sonderforderungen führt nicht zu produktiven Lösungen und stört den notwendigen Konsens.

(Zuruf des Abg. Weiss [München] [GRÜNE])

Die konsequente Haltung der Bundesregierung
— und weil es Ihnen, Herr Weiss, gar so gut gefällt, wiederhole ich es: die konsequente Haltung der Bundesregierung — hat dazu beigetragen, daß bei Einführung des Nachtfahrverbots große Störungen vermieden werden konnten.
Nach meiner Meinung sind es vier Punkte, die dazu geführt haben, daß es auch weiterhin und insgesamt reibungslos läuft. Zum einen sind es die Ausnahmeregelungen der Österreicher, die auch großzügig gehandhabt wurden.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Das muß sich der Bundesverkehrsminister merken, denn in seinem Brief vom 22. Dezember an den österreichischen Verkehrsminister schreibt er das Gegenteil!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118829100
Herr Abgeordneter Weiss, Herr Oswald hat das Wort, nicht Sie.

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1118829200
Herr Präsident, ich bin Ihnen dankbar, aber ich werde jetzt meine Stimme üben, um zu sehen, wie weit es möglich ist, den Kollegen Weiss auch einmal im stimmgewaltigen Darstellen zu übertreffen.
Zweitens nenne ich die Arbeitsweise des österreichischen Zolls, die als hervorragend zu bewerten ist,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wenigstens das!)

und zwar, wie Transportunternehmer mir sagen, wie seit 25 Jahren nicht.
Drittens hat sich der Lkw-Verkehr aus den Benelux-Ländern zum Teil neue Wege gesucht. So gehen rund 15 % mehr über Frankreich.
Viertens. Die Unternehmer haben in ihrer Disposition ein hohes Maß an Flexibilität bewiesen, und man kann diesem professionell arbeitenden Gewerbe auch einmal ein Riesenkompliment machen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Weiss [München] [GRÜNE]: Das heißt aber, es kann mit Nachtfahrverboten leben, und das nicht nur in Österreich!)

Dank der Nachdrücklichkeit, mit der Bundesverkehrsminister Dr. Fritz Zimmermann die Position der Bundesrepublik in der Frage des Nachtfahrverbots vertreten hat, fanden am 9. Januar in Frankfurt Verhandlungen mit dem österreichischen und dem italienischen Verkehrsminister und dem EG-Kommissar van Miert über das weitere Vorgehen statt. Es wurde eine trilaterale Arbeitsgruppe vereinbart, und ich will hier einmal die Punkte nennen, die diese Gruppe jetzt in Angriff nehmen soll, die sie diskutieren soll, um zu Lösungen zu kommen: einmal die österreichische Ausnahmepraxis insbesondere auf mögliche Benachteiligungen nichtösterreichischer Unternehmen zu untersuchen; zum zweiten die Verlängerung der bisher befristeten Ausnahmen vom Nachtfahrverbot über den 31. Mai 1990 hinaus — dieses Datum steht ja —;

(Weiss [München] [GRÜNE]: Hoffentlich hat die Bundesregierung mit ihrem Druck da keinen Erfolg!)

drittens eine gemeinsame technische Definition des lärmarmen Lkws festzulegen; viertens die Verbesserung der Zollabfertigung zu erörtern und fünftens die Auswirkungen des Nachtfahrverbots insgesamt zu untersuchen.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Die sind positiv, die braucht niemand zu untersuchen!)




Oswald
Damit ist es auf Grund der konsequenten deutschen und italienischen Haltung zum erstenmal seit Ankündigung des Nachtfahrverbots im Mai 1989 zu inhaltlich weiterführenden Verhandlungen mit Österreich gekommen, und genau das ist es ja, was wir wollten: miteinander reden. Die drei beteiligten Staaten haben sich eben unter Beteiligung der EG darauf geeinigt, eine Arbeitsgruppe zur Lösung der Fragen des alpenquerenden Verkehrs einzusetzen. Die erste Tagung wird unter deutschem Vorsitz etwa Mitte Februar in München stattfinden, und im Mittelpunkt steht dabei der Abschluß einer trilateralen Vereinbarung zur Kapazitätssteigerung auf der Schiene. Ziel ist eine Verlagerung von täglich 1 600 Lkw-Ladungen auf die Eisenbahn zusätzlich zu der bereits durch eine bilaterale Vereinbarung zwischen Italien und Österreich zum 1. Dezember sichergestellten Verlagerung von 900 Lkw täglich.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Da sieht man, was das Nachtfahrverbot alles auslösen kann!)

Damit sind die kurzfristigen Zielvorgaben von Udine aus dem Jahre 1989 erreicht. Auch hat die Bundesregierung alle mittel- und langfristigen Maßnahmen entsprechend der Vereinbarung von Rom aus dem Jahre 1986 eingeleitet.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Ich bin mir sicher, daß die Verlagerung des alpenquerenden Gütertransports von der Straße auf die Schiene weiter große Fortschritte machen wird. Unser Ziel kann nicht eine totale Verlagerung, ein dirigistisches Verbot von Lkw-Transporten sein. Wohl aber kommt es jetzt darauf an, daß die Lkw generell umweltfreundlicher werden.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Habe ich Sie richtig verstanden: Unser Prinzip kann nicht eine weitere Verlagerung sein?)

Wir müssen die technischen Möglichkeiten konsequent einsetzen, um die Umweltprobleme des Lkws zu lösen. Wir wollen dies, weil wir den Lkw brauchen. Seine Verteufelung bringt niemanden weiter. Lärm- und Abgasemissionen müssen deutlich abgesenkt werden. Ich höre ganz klar vom Güterverkehrsgewerbe, von den einzelnen, daß man dort ganz eindeutig bereit ist, mitzuhelfen und entsprechende Nachrüstungen vorzunehmen und Neuinvestitionen zu tätigen.
Wenn ich zusammenfasse, kann ich sagen, daß wir insgesamt, wenn wir von einer Verlagerung auf die Schiene sprechen, natürlich auch wissen, daß es noch weitere offene Fragen gibt. Hier ist eine Daueraufgabe für uns. Wir denken an die Probleme der einzelnen Streckenkapazitäten. Ich denke hier nur an den Bereich Stuttgart—München, um ein Beispiel zu nennen. Insgesamt glaube ich sehr wohl, Kollege Weiss, daß gerade wir auf dem richtigen Weg sind — —

(Weiss [München] [GRÜNE]: Auf dem richtigen Holzweg!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118829300
Herr Abgeordneter Oswald, Ihre Zusammenfassung ist sehr lang. Sie überschreiten Ihre Redezeit allmählich deutlich.

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1118829400
Der letzte Satz: Wir haben nicht nur den richtigen Weg,

(Weiss [München] [GRÜNE]: Den richtigen Holzweg!)

sondern haben auch die richtigen Entscheidungen und Beschlüsse getroffen. — Ich glaube, daß dies der richtige Schlußsatz war.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118829500
Das Wort hat der Abgeordnete Bamberg.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt stimm' ihm zu!)


Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118829600
Nicht in allen Punkten! — Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In allen Punkten kann ich ihm nicht zustimmen, weil ich meine, daß, wenn heute zum weiß Gott wiederholten Mal der Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen in jeweils unterschiedlichen Formulierungen im Bundestag behandelt werden, zu vermuten ist, daß langsam bei denjenigen, für die wir handeln sollten, der fatale Eindruck politischer Handlungsunfähigkeit der Verantwortlichen entstehen könnte. Mit „Verantwortlichen" meine ich nicht nur die Bundesregierung; Verantwortliche sind wir alle. Schlimmer noch: Menschen könnten sagen, wir machten Reden zum Handlungsersatz.
Professor Armin Gutowskis Feststellung von der Pervertierung der Politik — mir ist sein Büchlein vor kurzem in die Hände gefallen — trifft meiner Meinung nach den Nagel nirgends so auf den Kopf wie in der Verkehrs- und Umweltpolitik. Seine Aufforderung, Vernunft und Rationalität walten zu lassen, d. h. auf kritische Argumente zu hören und von der Erf ah-rung zu lernen, verdient, der Realität gegenübergestellt zu werden. Realität ist, was in dem heutigen Entschließungsantrag, den ich trotz meiner kritischen Meinung dazu nicht ablehnen möchte, als Analyse zum Ausdruck kommt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch schon was!)

Realität also ist: Der Straßenverkehr insgesamt und der Transitverkehr insbesondere belasten das Ökosystem Alpen und zerstören nicht nur das Leben von denen, die dort wohnen. Vernünftig wäre also, rigoros und radikal die unvernünftige von Menschen verursachte Umweltverhunzung — um ein Wort von Professor Nell-Breuning zu nennen — zu beenden.

(Beifall des Abgeordneten Weiss [München] [GRÜNE])

Das tun wir aber nicht. Wir kleckern, suchen Ausflüchte, weil Zwänge, zumal Sachzwänge, Ideologien und gegenseitiges Mißtrauen zu tief sitzen.
Ich zitiere noch einmal Gutowski: Die Konsensfähigkeit von anstehenden Entscheidungen nicht nur in der Regierungskoalition, sondern oft darüber hinaus über alle sachlichen Einwände zu stellen, sei die Tendenz. Alternativen und Verbesserungsvorschläge aus der Wissenschaft schiebe man beiseite, nehme sie gar



Bamberg
nicht mehr zur Kenntnis, um sich statt dessen die Zu-
stimmung der einschlägigen Verbände zu sichern —

(Weiss [München] [GRÜNE]: Wer hat dir das aufgeschrieben? Du redest doch sonst nicht so geschwollen!)

— nein, aber ich wollte heute einmal nicht nur eine bayerische Kommödie spielen, sondern vielleicht auch einmal etwas Nachdenklicheres sagen dürfen, im Gegensatz zu dir, Michael — und großes Gewicht auf die vermutete Popularität der Vorschläge zu legen.
Kolleginnen und Kollegen, ist denn nicht Realität, was die Bundesregierung feststellt? Die Bundesregierung stellt fest: Die ökologischen Belastungen der Alpen durch den Verkehr seien unbestreitbar. Die Anstrengungen zum Erhalt der Alpenwelt reichten nicht aus, weil der Alpenraum neben dem Wattenmeer das größte zusammenhängende, noch weitgehend natürliche, hochsensible Ökosystem mit überragender, europaweiter Bedeutung für Wasserhaushalt und Klima darstelle.
Wenn dies richtig ist, zum Klima noch einen Satz: Von den zehn wärmsten Wintern in diesem Jahrhundert fielen sieben in die 80er Jahre, genau in die Zeit, in der die Luftverpestung zugenommen hat.
Realitätsbewußtsein entwickelt sich meiner Meinung nach weniger bei uns am Rednerpult im Bundestag als durch die Betroffenheit der Menschen draußen. Beispielsweise stellen viele betroffenen Gemeinden im südostbayerischen Raum, federführend die Grenzgemeinde Kiefersfelden — es sind Gemeinden, die in der großen Mehrheit CSU-regiert sind —, einstimmig fest

(Bohl [CDU/CSU]: Das soll auch so bleiben!)

— ich glaube nicht, daß es so bleibt; wenn es in der Verkehrspolitik so weitergeht wie bisher, dann können Sie Befürchtungen haben, und ich rechne mir sogar direkte Chancen aus — : Die Verkehrsentwicklung auf der Inntal-Autobahn und über den Autobahngrenzübergang Kiefersfelden nimmt eine dramatische, seit Jahren nicht mehr zumutbare Entwicklung. Waren es 1969 noch 151 000 Lkw, die dort passierten, so werden es 1989 sage und schreibe 1,2 Millionen Lkw neben 7,5 Millionen Pkw und 125 000 Bussen sein. Diese Verkehrslawine steigt angesichts der positiven Entwicklung der Wirtschaft.
Das wurde einstimmig von allen betroffenen Gemeinden festgestellt. Ich könnte die Liste über die Resolution zum Nachtfahrverbot erweitern.
Ich glaube, dieser Realität werden wir mit Entschließungsanträgen nicht Herr, wie weitere Zahlen beweisen. Die Schadstoffmengen — ich kann es nicht oft genug wiederholen; es soll ja eingehen —, die allein im Bereich Rosenheim und im Tiroler Bereich zuletzt vor einigen Jahren gemessen wurden, sind nicht zurückgegangen, sondern eher gestiegen. Es sind u. a. 800 Tonnen Kohlenmonoxid, 190 Stickoxid, 130 Tonnen Schwefeldioxid sowie tonnenweise Cadmium, Blei und Quecksilber.
Trotzdem behaupten wir alle wechselweise — das sage ich ganz bewußt — , wir seien auf dem richtigen
Weg. Was halten wohl die Hunderttausende von direkt Betroffenen und die Millionen mittelbar Betroffenen von uns, wenn sie hier im Bundestag unsere Aussprüche und Ansprüche hören? Ich denke beispielsweise an die 100 000 vor einigen Jahren von der Universität Innsbruck beobachteten Menschen, die zu 67 % lärmgeschädigt sind und zu 38 % Schlafstörungen haben. Inzwischen sind es erheblich mehr. Wie man sich angesichts dieser Zahlen hier hinstellen und diese Politik verteidigen kann, Kollege Oswald, wie man diese Politik trotz dieser Zahlen als richtig darstellen kann, bleibt mir ein Rätsel. Ich kann das beim besten Willen nicht nachvollziehen.
Noch im September 1989 habe ich die Bundesregierung und auch die Bundesbahn dafür verantwortlich gemacht. Damit meine ich das Bahnmanagement und nicht die Eisenbahner, weil es offensichtlich in Ableitung der eingangs zitierten Gutowski-Thesen Nibelungentreue beweist und mit politischen Scheuklappen eine Politik mitmacht, die man guten Gewissens, glaube ich, nicht mehr vertreten kann.
Ich habe damals keine neuen Freunde gewonnen. Nun lese ich in der „Welt" vom 6. Dezember die Überschrift "Die Bundesbahn rollt in die Pleite". Unter dieser Überschrift steht dort etwas geschrieben von einem Bericht der Bundesbahn an die Bundesregierung mit all den Zahlen, die die Zahlen der Opposition, der immer vorgeworfen wird, ihre Zahlen stimmten nicht, genau bestätigen.
Aber wenn es stimmt, was diejenigen sagen, die diese Politik verteidigen, dann kann dies gar nicht sein. Die Bundesregierung sagt doch: Wir haben eine Renaissance der Bahn. Wenn Sie aber die Schuld an dieser Entwicklung tragen, gehören Sie abgelöst. Das kann der Wähler tun, so er will. Oder das Management der Bahn hat versagt. Dann gehört dieses entlassen. Ich sehe keine anderen logischen Weg.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Der Verkehrsminister gehört entlassen!)

Die Verkehrspolitik der jetzigen Bundesregierung, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, stolpert von einer Unglaubwürdigkeit in die andere.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118829700
Herr Abgeordneter Bamberg, gestatten Sie eine Frage Ihres Fraktionskollegen Wimmer?

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118829800
Gern, wenn es nicht auf die Zeit angerechnet wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118829900
Ich werde mich bemühen, es nicht zu tun.

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118830000
Das wäre sehr nett.

Hermann Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1118830100
Herr Kollege Bamberg, Sie haben gerade den 6. Dezember angeführt. Am 6. Dezember war die große Bundesbahndebatte im Deutschen Bundestag.

(Bohl [CDU/CSU]: Da war Nikolaustag!)

Wissen Sie, daß die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion
den Ausbau der Strecke Mülldorf—München—Freilassing abgelehnt haben? Was halten Sie von einem sol-



Wimmer (Neuötting)

chen Verhalten, wenn andererseits immer vom Vorrang der Bahn gesprochen wird?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch gar nicht da!)


Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118830200
Herzlichen Dank für diese Frage. Das kann er schon wissen, weil er bei dieser Bundesbahndebatte da war. Ich habe von der Glaubwürdigkeit der Politik gesprochen. Es ist meines Erachtens unglaubwürdig, wenn man hier auf der einen Seite Entschließungsanträge verteidigt, in denen genau dieser Punkt enthalten ist, während man das auf der anderen Seite am 6. Dezember abgelehnt hat. Das ist mir unverständlich. Aber der Kollege Wimmer hat recht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118830300
Sie wollen auch eine Frage stellen, Herr Kollege Dr. Jobst? — Bitte schön.

Dr. Dionys Jobst (CSU):
Rede ID: ID1118830400
Herr Kollege Bamberg, stimmen Sie mir zu, daß dieser Antrag nicht abgelehnt, sondern zurückgestellt wurde, bis das Ergebnis der Wirtschaftlichkeitsberechnung vorliegt,

(Weiss [München] [GRÜNE]: Stimmt nicht!)

und wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß inzwischen die Wirtschaftlichkeitsberechnung vorliegt und daß damit zu rechnen ist, daß diese Strecke mit in die Ausbauplanung hineinkommt?

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118830500
Herr Kollege Jobst, wenn ich das jetzt höre, müßte ich fast sagen: Sei still, mein Kind! —

(Heiterkeit)

Soweit ich es in Erinnerung habe, ist gerade dieser Antrag abgelehnt worden, aus Erwägungen, die ich im Detail jetzt nicht weiß. Ich glaube, Sie liegen nicht richtig, Herr Dr. Jobst.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118830600
Herr Abgeordneter Wimmer bittet noch einmal um eine Zwischenfrage. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Dreiecksfragen nicht zulässig sind. Ich werde die Frage nicht zulassen, wenn Sie diesen Versuch unternehmen sollten. — Herr Abgeordneter Wimmer.

Hermann Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1118830700
Kollege Bamberg, würden Sie mir zustimmen, daß zum Zeitpunkt 6. September bereits seit langem bekannt war, daß die Wirtschaftlichkeitsprüfung positiv ausgefallen ist, weil sie der Verkehrsminister drei Wochen vorher bereits in der Presse publik gemacht hat und auch mir Staatssekretär Schulte 14 Tage vorher einen positiven Ausgang der Wirtschaftlichkeitsprüfung mitgeteilt hat?

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118830800
So ist es mir zumindest mitgeteilt worden. Wir beide haben uns, nachdem wir von der Gegend her betroffen sind, abgestimmt. Darum kann ich dem, was Kollege Wimmer sagt, zustimmen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118830900
Jetzt lasse ich noch die Zwischenfrage des Abgeordneten Weiss zu. Aber dann ist Schluß. — Bitte sehr.

Michael Weiss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1118831000
Schorsch, weißt du eigentlich, daß die Bundesregierung in ihrem Bundeshaushalt bis heute keine einzige Mark für Vorplanungen und Vorbereitungen des Ausbaus der Strecke München—Mühldorf—Freilassing eingestellt hat, und teilst du meine Auffassung, daß es eigentlich Augenwischerei ist, wenn man sagt, der Wirtschaftlichkeitsvorbehalt ist entfallen, aber keine müde Mark in den Haushalt einstellt, um die Planungen dann zu realisieren, und es bis heute nicht einmal einen Zeithorizont gibt, innerhalb dessen diese Strecke fertiggestellt werden könnte, und wie bewertest du eigentlich die Antwort, die mir der Bundesverkehrsminister Zimmermann im November auf meinen Zwischenruf, „Bis wann wird die Strecke München—Mühldorf—Freilassing fertig?" , gegeben hat: „Ich bin doch kein Prophet." ?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118831100
Herr Abgeordneter Weiss, wenn Sie das als Zwischenfrage verstanden wissen wollen, dann hören Sie sich die Antwort bitte am Mikrofon an. Wenn Sie das aber als Intervention betrachtet haben wollen, dann können Sie sich hinsetzen.

(Bamberg [SPD]: Herr Präsident!, meine Zeit ist immer mitgelaufen! Ich habe nur noch eine Minute!)

— Ich achte darauf. — Bitte schön, Herr Abgeordneter Bamberg.

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118831200
Es wäre hochinteressant, die Debatte weiterzuführen. Aus Zeitgründen aber nur eine ganz kurze Antwort.
Ich halte die Verkehrspolitik, die gemacht wird, für grundsätzlich nicht mehr richtig. Wenn wir einerseits sagen, daß wir mehr Güter von der Straße auf die Schiene verlagern wollen, so müssen wir die Voraussetzungen hierfür schaffen. Diese Debatte ist immer wieder geführt worden. Die Bundesregierung sagt zwar, sie will, aber sie tut dafür nichts oder kann dafür nichts tun. Das ist die Realität. —

(Beifall bei der SPD) Michael, jetzt laß mich bitte weiterreden!


(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Kollege Bamberg, die Mittel stehen doch nicht im Haushalt, sondern im Wirtschaftsplan der Bundesbahn!)

— Sei still, mein Kind! — Ich würde wirklich gern weiterdiskutieren, aber vielleicht dauert es dann zu lange. Es wäre auch viel interessanter als die Vorlesung, die wir machen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118831300
Herr Abgeordneter, ich werde dafür sorgen, daß Sie Ihre Rede jetzt ungestört zu Ende bringen können.

Georg Bamberg (SPD):
Rede ID: ID1118831400
Mir macht es im Grunde Spaß, aber wir sehen jetzt mal, daß wir weiterkommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Weißt du das Thema noch, oder soll ich in der Tagesordnung nachsehen? — Heiterkeit)

Ich möchte es noch einmal sagen: Diese Politik halte ich für grundsätzlich falsch. Sie ist ein Irrtum, so wie die Einschätzungen der Auswirkungen der Nachtfahrverbote. Hier wurde bereits darüber gesprochen. Die Nachtfahrverbote ihrerseits sind mitnichten politi-



Bamberg
sche Glanzleistungen, da gebe ich dem Bundesminister Zimmermann recht. Es ist nicht Politik, was damit gemacht wird. Aber sie waren in Österreich Schutz und Signal vor einer falschen und für eine menschliche Verkehrspolitik. Dieses Signal, glaube ich, sollte man sehen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Noch einmal: Es ist nicht der Weisheit letzter Schluß. Bei uns allerdings mußte zumindest der Eindruck entstehen, Herr Minister, daß kleinliche Reaktionen Strafaktionen sein sollten, die viele gefordert haben. Beides ist nicht die Politik, die der Wirklichkeit entspräche. Tatsache ist, daß keines der Schreckensbilder eingetreten ist, die, von welcher Seite auch immer und zu welchem Zweck auch immer, an die Wand gemalt worden waren.
Was gemacht wird, ist zwar unbestreitbare Realität, aber in höchstem Maße unvernünftig. Anders ausgedrückt: Wenn der Marktanteil der Schiene — das paßt auch zu den Zwischenfragen — in allen westeuropäischen Ländern drastisch zurückgegangen ist, im grenzüberschreitenden europäischen Verkehr bei nur noch 13 % liegt und es bis zum Jahre 2000 nach allen Prognosen ein Verkehrswachstum geben wird, das oberhalb der Schätzungen des Bruttosozialprodukts liegt, aber mit deutlichem Übergewicht auf den Verkehrsträgern Straße und Luft, dann sind die bisherigen Antworten auf die drängenden Probleme der Zukunft gerade in bezug auf den Alpentransit und die Umwelt nicht ausreichend, ja, geradezu katastrophal, wenn das stimmt. Die Oberbürgermeister Kronawitter von der SPD in München oder Deimer von der CSU in Landshut warnen doch nicht nur ins Blaue hinein. Sie sagen im Grunde genommen das gleiche.
Vernünftig wäre ein Umdenken, vernünftig wäre eine andere Ordnungspolitik mit leider, sage ich, notwendigen Lenkungsmaßnahmen und möglicherweise mit Verkehrsgeboten für die Schiene. Was in der Großen Koalition unter dem Namen „Leber-Plan" möglich hätte werden sollen, kann jetzt in einer noch schwierigeren Zeit plötzlich doch nicht falsch sein.
Vernünftig wäre also eine Verkehrs-Umwelt-Politik, welche die Unvernunft laissez-faire-orientierter Verkehrsträger ausschließt oder zumindest dafür sorgen kann, daß sie ausgeschlossen werden, und die den Menschen Vorrang vor dem Verkehr gibt. Vernünftig wäre eine Politik, die bestimmte Güter der Schiene oder anderen umweltbewußten Verkehrsträgern nicht nur auf dem Papier zuordnet und die verhindert, daß sich die Verlagerung der Lagerhaltung unter dem Stichwort „just in time " auf dem Verkehrsweg Straße nicht noch mehr ausweitet. Auch das ist doch ein Grund für die ganzen Dinge, die uns jetzt belasten.
Die Verkehrspolitik z. B. der Schweiz unter dem Namen „Bahn 2000" halte ich für einen nachahmenswerten Ansatz. Auch sie ist nicht der Weisheit letzter Schluß; aber sie wäre ein nachahmenswerter Ansatz, wenn Reden und Handeln eins sein sollten. Wir sagen doch immer, das soll eins sein!
Aber wer glaubt bei uns noch an Vernunft in der Politik? Nach all dem , was ich gerade in der Verkehrspolitik sehe, werde ich immer skeptischer. Ich glaube, wir sind alle miteinander nicht in der Lage umzudenken, obwohl es so dringend notwendig wäre.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118831500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gries.

Ekkehard Gries (FDP):
Rede ID: ID1118831600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich höre Schorsch Bamberg ja wirklich gerne zu, und ich bedaure, daß ausgerechnet du einem zum Opfer fallen sollst, der hätte bleiben sollen, wo er hingehört,

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

auch wenn ich nicht deiner Meinung bin.
Meine Damen und Herren, ich glaube, um 21.47 Uhr kann man dem Parlamentarismus, der hier im Geheimen tagt, einen Gefallen durch Kürze und Direktheit tun. Ich hoffe, Herr Präsident, daß ich das, was andere an Zeit überzogen haben, vielleicht zurückgeben kann, damit diejenigen, die inzwischen auf die Debatte zum Terrorismus warten, die Schlußrunde vollziehen können.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Du hast eh nicht viel zu sagen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118831700
Das Präsidium wird es Ihnen danken.

Ekkehard Gries (FDP):
Rede ID: ID1118831800
Ich gebe ganz ehrlich zu, daß ich nichts Neues beizutragen habe; denn wir haben das hier dreimal abgehandelt. Ich erlaube mir nur, auf die Bundestagssitzung vom 28. September, 161. Sitzung, Seite 12 234 ff. und auf die Bundestagssitzung vom 25. Oktober 1989, 170. Sitzung, Seite 12 382 ff. zu verweisen. Ich empfehle das zum Heimstudium und zur Vertiefung der Diskussion. Ich kann das alles nicht noch einmal wiederholen, wie die Kollegen das hier zum Teil schon getan haben.
Ich erlaube mir, Herr Präsident — ich weiß, daß Sie dafür Verständnis haben — , nach der Weisheit des Ältestenrates zu fragen, der mir heute abend zehn Minuten Redezeit gibt, um in der dritten Runde dasselbe zu sagen, aber morgen früh nur sieben Minuten zugesteht, um über 21 Punkte über ein aktuelles wichtiges Thema, nämlich die Gefahrguttransporte, zu diskutieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Becker [Nienberge] [SPD]: Das schlagt ihr doch selber vor!)

Ich frage mich, wie das eigentlich geht. Deshalb habe ich gar nicht die Absicht, die zehn Minuten, die ich habe — zwei Minuten habe ich jetzt verbraucht —, im geringsten auszunutzen.

(Becker [Nienberge] [SPD]: Jeder Arbeitskreis der Fraktionen schlägt doch so etwas vor!)

— Mein Arbeitskreis hat das nicht vorgeschlagen. Da müssen Sie einmal andere fragen. Ich hätte gesagt: Das brauchen wir überhaupt nicht; denn wir haben hier über einen Beschluß und Bericht des Verkehrs-



Gries
ausschusses zu beraten. Da stellt sich plötzlich heraus, daß nach den vorausgegangenen Bundestagsdebatten Vernunft und Sachlichkeit eingekehrt sind.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Daß eure Schauerprognosen nicht eingetreten sind!)

Wir haben hier nämlich einen Beschluß und einen Entschließungsentwurf des Verkehrsausschusses, der ohne Gegenstimmen gefaßt worden ist: Die SPD hat zur Hälfte zugestimmt und sich zur Hälfte enthalten, die GRÜNEN haben sich insgesamt enthalten; es hat keiner mehr dagegengestimmt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118831900
Der lobenswerte Ansatz, Herr Abgeordneter Gries, wird nun doch durch einen Versuch einer Zwischenfrage des Abgeordneten Peter (Kassel) sabotiert. Lassen Sie diese zu?

Ekkehard Gries (FDP):
Rede ID: ID1118832000
Weil er aus Kassel kommt, ja.

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1118832100
Herr Kollege Gries, ich bin, wie Sie wissen, kein Verkehrspolitiker,

(Gries [FDP]: Das merkt man! — Heiterkeit)

aber gibt es tatsächlich keine Beziehung zwischen dem Nachtfahrtverbot in den Alpen und den gefährlichen Gütertransporten?

Ekkehard Gries (FDP):
Rede ID: ID1118832200
Wir müßten die Nacht durchdiskutieren. Dann können wir morgen früh nahtlos zum Gefahrguttransport übergehen.
Es gibt natürlich Beziehungen, die gibt es auch im Transitverkehr. Ich habe nur versucht, lieber Herr Kollege Peter, ein bißchen deutlich zu machen, daß ein Thema, das nun wirklich bis zum Exzeß diskutiert worden ist, hier mit zehn Minuten pro Fraktion abgehandelt wird, und ein anderes, das uns auf den Nägeln brennt und im Zusammenhang mit dem erst gestern ein Landgericht ein Urteil gesprochen hat, morgen früh in einer Runde von 45 Minuten für vier Fraktionen behandelt werden soll. Das ist völlig unangemessen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich sage das kritisch an alle. Ich habe auch keine Fraktionen genannt, sondern den Ältestenrat, und damit meine ich im wesentlichen die Geschäftsführer. Sie sollten sich gefälligst einmal überlegen, mit welcher Bedeutung hier gewichtet wird.

(Abg. Weiss [München] [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Jetzt höre ich aber auf. Es tut mir leid; sonst werde ich mir selbst untreu. Ich nehme jetzt Rücksicht auf die Kollegen, die auch irgendwann einmal ihren letzten Punkt abhandeln wollen.
Ich sage nur: Diese Beschlußempfehlung ist durch große Sachlichkeit geprägt.

(Bohl [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir haben das im Ausschuß diskutiert. Sie ist durch Vernunft geprägt, und zwar nicht nur bei uns in den Fraktionen. Sie hat bestimmte Zielsetzungen, mit denen wir übereinstimmen: jeden Versuch zu unternehmen, den Zuwachs an Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern, alle Infrastrukturmaßnahmen,
die dazu notwendig sind, zu fördern, so z. B. den Ausbau der Schiene, die Nutzung der Kapazitäten.
Michael Weiss hat mit seinen Anregungen wirklich recht. Das hat sich auch gezeigt. Das ist gar kein Problem; auch wenn es grün ist, muß es nicht immer falsch sein.
Es ist richtig, daß noch ganz andere Kapazitäten, z. B. im Kombi-Verkehr vorhanden sind. Hier sind viele anzuklagen, die nicht genug getan haben. Darüber sind wir uns einig. Wir brauchen mittel- und langfristige Maßnahmen. Zu den langfristigen Maßnahmen gehören die Tunnellösungen, die notwendig sind, zu den kurzfristigen gehören z. B. diese Terminals, die in den ganzen Bereichen gebaut werden müssen.
Wir stimmen darin überein, daß die Lärmimmissionen und die Abgaswerte reduziert werden müssen. Alles das ist möglich; aber jetzt wiederhole ich mich schon fast wieder. Auf der Internationalen Automobilausstellung konnte man das sehen. Deshalb geht die Aufforderung an die Industrie, dies nun zu forcieren. Sie geht an die Unternehmer, diese Fahrzeuge endlich auch einzusetzen.
Wir sind uns einig, daß es nicht darum geht, zu einseitigen Abwehrmaßnahmen zu greifen. Hier höre ich den Jubler über das Nachtfahrtverbot. Ich halte das nach wie vor für falsch. Es ist auch antieuropäisch und unsolidarisch, in einem Land, an einer Stelle ein Nachtfahrtverbot zu erlassen, selbst wenn es sehr viel vernünftiger — auch hier ist die Vernunft eingekehrt — abgewickelt worden ist. Es ist ebenfalls keine Ideallösung, dann mit der gleichen Münze zurückzuzahlen. Auch das ist unsinnig; das sollten wir uns ersparen.
Deshalb haben wir in der Entschließung auch die wichtigen Ergebnisse der internationalen Alpenkonferenz, was die verkehrspolitische Seite angeht. Wir haben die Gemeinsamkeiten, die es dabei gibt, hervorgehoben. Dazu gehört eben auch, eine europäische Lösung zu finden.
Ich meine, daß wir auf dem richtigen Wege sind. Aber jetzt sollte einmal gearbeitet und um Gottes willen nicht noch einmal über Alpentransit gesprochen werden.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118832300
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 11/6143. Der Ausschuß empfiehlt, die Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD in den Drucksachen 11/5243 und 11/5256 in der Ausschußfassung anzunehmen.
Die Fraktion der GRÜNEN hat gebeten, über einen Änderungsantrag, der inhaltlich dem Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5243 entspricht, gesondert abstimmen zu lassen. Ich lasse also zunächst über diesen Änderungsantrag abstimmen. Das ist der Änderungsantrag, der dem Inhalt der Drucksache 11/5243 entspricht. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —



Vizepräsident Cronenberg
Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Ich komme nunmehr zu der Empfehlung des Ausschusses, die Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5243 und 11/5256 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Empfehlung des Ausschusses mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei einer Gegenstimme eines SPD-Abgeordneten und im übrigen bei Enthaltung der Fraktionen DIE GRÜNEN und der SPD angenommen werden.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Staatsterrorismus und Terrorismus — Drucksachen 11/2124, 11/2984 —
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von je fünf Minuten für jede Fraktion vor. Wenn das Haus damit einverstanden ist — das ist der Fall — , dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Zunächst hat die Abgeordnete Frau Beer das Wort.

Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1118832400
Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Der internationale Terrorismus und Staatsterrorismus stehen heute nicht mehr im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit wie noch vor wenigen Jahren. So scheußlich terroristische Anschläge sind — über diese Tatsache hat es nie eine Diskrepanz gegeben — , so offensichtlich ist es seit langem, daß die künstlich geschürte Hysterie politische Ziele verfolgte. Sowohl innenpolitisch als auch international wurde die Terrorismusfrage instrumentalisiert, um repressive oder aggressive Maßnahmen zu rechtfertigen und durchzusetzen. Sprechen wir hier heute, auch aus Zeitgründen, nur über den internationalen Terrorismus, gleich ob durch private oder durch staatliche Organisationen!
Mit der Schwächung des antikommunistischen Feindbildes in der zweiten Hälfte der 80er Jahre fiel dieses allerdings als Rechtfertigungsmuster für Interventionen z. B. in der Dritten Welt aus. Neue Ideologien haben dies zu ersetzen und traten an deren Stelle: zuerst die der tatsächlichen oder vermeintlichen Terrorismusbekämpfung, dann der angebliche Drogenkrieg, beides professionell gemanagt, beides zur besten Sendezeit, beides mit einem Grad amtlicher Heuchelei, der auch Profis noch erstaunen lassen könnte.
„Terrorismusbekämpfung", wer könnte eigentlich dagegen sein? Wer diese Ideologie ablehnt, setzt sich sofort dem Verdacht aus, den Terrorismus zu fördern oder ihn zu rechtfertigen. Wir werden das in dieser Debatte sicherlich noch erleben: daß Kollegen der konservativen Fraktion uns, meiner Partei, vorwerfen, den internationalen Terrorismus oder Terrorismus zu befürworten. Ich weise dies schon jetzt zurück: Wir haben Terrorismus immer verurteilt und werden ihn auch in Zukunft weiter bekämpfen.
Nur: Was ist eigentlich Terrorismus in den internationalen Beziehungen? Wir haben der Bundesregierung in diesem Zusammenhang doppelte Maßstäbe und Heuchelei vorgeworfen, und dafür hatten wir gute Gründe: Entführungen, Folter, Massaker und Bombenanschläge durch die nicaraguanischen Contras etwa, die afghanischen Mudjahedin oder die UNITA des Jonas Savimbi wurden von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien nie eindeutig als terroristische Akte verurteilt, obwohl jede Definition des Terrorismus auf sie zutrifft. Die Morde der britischen Eliteeinheit, der SAS, in Gibraltar, die Morde der israelischen Streitkräfte in Tunis, im Libanon und der besetzten Westbank, der CIA-inspirierte Bombenanschlag in Beirut im März 1985 mit 80 Toten — ich darf Sie in diesem Zusammenhang auf die Berichterstattung der „New York Times" und den US-Senat verweisen — , der Bombenanschlag mit Todesfolge auf das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior" durch den französischen Geheimdienst, all diese und weitere Akte barbarischer Gewalt wurden von dieser Bundesregierung nicht als terroristisch bezeichnet, während friedliche Sitzblockaden in der Bundesrepublik von den hiesigen Gerichten zu „Gewaltakten" zurechtdefiniert wurden. Vom Bombenanschlag des Verfassungsschutzes in Celle will ich hier nicht sprechen.
Der Terrorismusbegriff wurde zu einem Kampfbegriff: anwendbar gegen politische Gegner, niemals zutreffend bei politischen Freunden oder Verbündeten. Der Begriff „Scheinheiligkeit" wäre dafür noch sehr zurückhaltend formuliert. International wurde der Terrorismusbegriff zum Kampfbegriff gegen Befreiungsbewegungen, gegen den südafrikanischen ANC, gegen die PLO, die FMLN El Salvadors und andere instrumentalisiert, ebenso wie gegen einige Regierungen anderer Länder. Die Bundesregierung und ihre Parteien haben sich im wesentlichen an diesem Spektakel beteiligt und sich nicht distanziert.
Nehmen wir den Bombenanschlag auf das Flugzeug über dem schottischen Lockerbie. Hier haben Recherchen in Großbritannien und den USA ergeben, daß dieses Verbrechen mit einer verdeckten CIA-Operation verzahnt war, bei der regelmäßig in diesem Flug Heroin in die USA geschmuggelt wurde. Das bundesdeutsche BKA war diesen Meldungen zufolge informiert bzw. an der Operation beteiligt.

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Wo stand das?)

Wo bleibt denn hier das energische Eintreten der Bundesregierung, diesen Zusammenhang und diese Vorwürfe objektiv zu untersuchen? Mit pauschalen Dementis ist es hier nicht getan. Es geht auch nicht um eine Entkräftung der Vorwürfe um jeden Preis, sondern um eine tatsächliche Aufklärung dieser Vorwürfe, die bisher international und auch in der Bundesrepublik verschwiegen wurden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wer hat sie denn erfunden?)

Der internationale Terrorismus ist ein Problem, unabhängig davon, ob er von politischen Organisationen, von westlichen oder östlichen Staaten oder Regierungen der Dritten Welt verübt wird. Ermordung und Verstümmelung unschuldiger Menschen sind unerträglich. Es ist ebenso unerträglich, daß die Bundes-



Frau Beer
regierung das ekelhafte Spiel mitspielt, den Terrorismus politisch unliebsamer Bewegungen oder Regierungen aufzubauschen oder gar zu erfinden, den Terrorismus westlich orientierter Regierungen — einige Beispiele habe ich soeben genannt — zu ignorieren und zu bestreiten. Staatlicher Terrorismus ist schließlich sehr viel gefährlicher als der einzelner Personen oder Organisationen.
Dies war das Ansinnen unserer Großen Anfrage. Die heutige Situation hat an den aktuellen Beispielen, die ich erwähnt habe, nichts geändert.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118832500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID1118832600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gern fünf Anmerkungen machen.
Erstens. Die Große Anfrage der GRÜNEN stammt vom 14. April 1987.

(Frau Beer [GRÜNE]: Wir haben lange auf die Antwort gewartet! — Gegenruf des Abg. Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Dafür ist sie aber gut!)

Weit über ein Jahr hat die Fraktion DIE GRÜNEN auf die Antwort des Bundesaußenministers gewartet. Der Text der Antwort ist knapp; der Inhalt ist ausgesprochen dürftig.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber angemessen!)

Ich weiß, wie viele Anfagen die GRÜNEN an die Bundesregierung stellen. Trotzdem: Ich finde, das ist ein parlamentsunfreundliches Verhalten, und es verdient Kritik.
Zweitens. Die Anfrage richtet sich gegen die USA. Die Freundschaft mit den USA ist mir wichtig. Aber ich habe auch Verständnis für kritische Fragen zu den Militäraktionen.

(Frau Beer [GRÜNE]: Freundschaft zwischen den Völkern geht vor!)

Ob das Völkerrecht diese Aktionen in vollem Umfang trägt, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber ich persönlich habe das Bemühen der USA vermißt, eine am Völkerrecht orientierte Begründung für diese Aktionen zu geben. Gerade die unbestrittene politische Führerschaft der USA im Lager aller freiheitlichen westlichen Staaten hat vor der Weltöffentlichkeit den USA auch eine Begründungspflicht auferlegt.
Drittens. Der Terrorismus in all seinen Formen wird eine der Geißel der modernen zivilisierten Welt bleiben.

(Wischnewski [SPD]: Ja!)

Es ist für die Völkergemeinschaft unerträglich, daß es immer noch Staaten gibt, die gegenüber dem Terrorismus untätig sind oder ihn sogar unterstützen. Die Risiken für den internationalen Flugverkehr sind nicht länger hinnehmbar, die sich aus völlig unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen auf vielen Flughäfen, insbesondere in der Dritten Welt, ergeben.

(Frau Beer [GRÜNE]: Sagen Sie mal etwas zu Lockerbie!)

Wir fordern, daß alle Staaten den internationalen Abkommen beitreten und ihre Verpflichtungen tatsächlich erfüllen.
Viertens. In der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, leben viele Exilpolitiker und emigrierte Gegner totalitärer Regime. Im Auftrage dieser Regime haben immer wieder Agenten und Kommandos Mordanschläge und terroristische Aktionen gegen solche bei uns lebenden Politiker durchgeführt. Ich nenne Länder des Nahen Ostens und ganz besonders Rumänien.
Der rumänische Geheimdienst Securitate hat in der Vergangenheit mit seinen Anschlägen einen schrecklichen Rekord erreicht: Attentate mit Sprengstoffbriefen und -paketen, langsam wirkenden Giften, gedungenen Killern. Wir skrupellos die Rumänen vorgingen, zeigt die Tatsache, daß in mindestens drei Fällen die rumänische Botschaft bei uns nachweislich daran beteiligt war.
Fünftens. Meine Damen und Herren, die GRÜNEN sind heute die einzige Parlamentspartei, die keine klare Haltung zur Gewalt und auch zum Terrorismus einnimmt.

(Frau Eid [GRÜNE]: Das weise ich schärfstens zurück!)

Ich erinnere nur, Frau Beer, an die Aussage von Frau Ditfurth:
Ich behaupte,
— so sagte sie —
dieser Staat brauchte und braucht wieder fast nichts so sehnsüchtig wie den Terror, den Schrekken.

(Frau Beer [GRÜNE]: Sie sollten nicht alte Geschichten aufwärmen, sondern etwas zu den Sachen wie Lockerbie sagen! Nehmen Sie doch dazu Stellung!)

— Richtig, das war Ende 1987.
Heute erfahre ich, daß die GRÜNEN erneut beantragt haben, den Verfassungsschutz abzuschaffen, also jene Behörde,

(Weiss [München] [GRÜNE]: Die Dreck am Stecken hat, die dem Staatssicherheitsdienst in der DDR entspricht! — Frau Beer [GRÜNE]: Was Sie in der DDR wollen, wollen wir hier auch!)

die auch den Terrorismus und Gewalttaten von Ausländern abwehren soll.
Meine Damen und mein Herr von den GRÜNEN, vor wenigen Wochen hat die RAF Alfred Herrhausen ermordet. Wir müssen leider erkennen: Sie von den GRÜNEN haben daraus nichts gelernt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Beer [GRÜNE]: Fragen Sie das BKA, was es daraus gelernt hat!)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118832700
Das Wort hat der Abgeordnete Wischnewski.

Hans-Jürgen Wischnewski (SPD):
Rede ID: ID1118832800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer kritischen Bemerkung zur Tagesordnung beginnen. Es ist nicht seriös, über ein so ernstes Thema wie Terrorismus, internationalen Terrorismus, Staatsterrorismus in fünf Minuten zu reden. Dies sage ich hier in aller Deutlichkeit. Dazu ist das Thema zu ernst.

(Frau Beer [GRÜNE]: Vollkommen richtig! — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

Der Terrorismus ist eine der schlimmsten Geißeln unserer Zeit, und er ist auch im eigenen Lande noch nicht überwunden. Sie haben eben darauf hingewiesen, daß wir vor wenigen Wochen erst den schändlichen Mord an Dr. Alfred Herrhausen erlebt haben. Auch im eigenen Lande ist die Gefahr des Terrorismus in gar keiner Weise gebannt.
Deswegen habe ich Anlaß, in aller Deutlichkeit zu sagen: Das Gefährlichste, was es dabei gibt, ist das Herunterfahren von Sicherheitsmaßnahmen und, wenn etwas passiert ist, das Herauffahren, wie wir es auch erlebt haben. Vielmehr ist Kontinuität eine der entscheidenden Voraussetzungen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Der internationale Terrorismus hat zugenommen. In den meisten Fällen hat der internationale Terrorismus seine Ursachen in ungelösten sogenannten regionalen Konflikten.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr richtig!)

In den weitaus meisten Fällen sind das die Ursachen.

(Frau Beer [GRÜNE]: Auch für den Staatsterrorismus!)

Wir haben viele regionale Konflikte in der Welt. Das völlig veränderte Verhältnis der beiden Weltmächte zueinander gibt uns vielleicht die Chance, daß sich die beiden Weltmächte dort, wo regionale Konflikte als Stellvertreterkriege entwickelt worden sind, darum bemühen, ihnen endlich ein Ende zu setzen. Wir wissen, daß die Präsidenten Bush und Gorbatschow in Malta darüber geredet haben. Ich hoffe, daß es Chancen gibt, daß eine Reihe dieser regionalen Konflikte, die Ursachen für Terrorismus sind, gelöst werden können.
Der Nahostkonflikt ist nach wie vor ungelöst. Er ist in vielen Fällen die Ursache für Terrorismus. Ich will auch hier meine tiefe Sorge heute zum Ausdruck bringen. Die kürzlichen Ausführungen des Ministerpräsidenten von Israel über Großisrael dienen nicht dem Frieden, sondern fördern den Terrorismus.

(Zustimmung bei der SPD und den GRÜNEN)

Das muß ich leider in aller Deutlichkeit sagen. Sie sind auch keine geeignete Antwort an die Palästinenser, die sich bemüht haben, auf dem Verhandlungswege entgegenzukommen.
Lassen Sie mich einen Blick nach Zentralamerika werfen. El Salvador war das ganz besonders geförderte Land der Bundesregierung. Heute ist es ein Hauptzentrum des Terrorismus. Die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Wir haben festzustellen, daß Offiziere, hohe Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten den Rektor der katholischen Universität, sieben weitere Jesuiten und ihre Mitarbeiter ermordet haben. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist Staatsterrorismus in Salvador.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich anerkenne, daß der Präsident die Namen genannt und gesagt hat: Sie werden verurteilt werden. Allerdings muß ich etwas sagen, Herr Staatsminister: Auch der vorige Staatspräsident hat den Mörder des Erzbischofs Romero öffentlich benannt.

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Was ist Staatsterrorismus?)

Er sitzt heute im Parlament. Ein Verfahren gegen ihn hat natürlich überhaupt nicht stattgefunden. Das ist Staatsterrorismus, was wir da erleben. Ich spreche gar nicht von dem früheren stellvertretenden Außenminister, der erst vor wenigen Tagen ermordet worden ist.
Nicaragua ist es gelungen, den Terrorismus durch Verhandlungen und durch Haltung zurückzudrängen. Dort wird am 25. Februar gewählt werden. Die letzten Morde, die es dort an zwei katholischen Schwestern gegeben hat, sind eindeutig Morde, die von den Contras durchgeführt worden sind. Diesem Land gibt die Bundesrepublik keine Hilfe. Ich habe die dringende Bitte, daß die Bundesregierung ihre Haltung in diesen beiden Fällen so schnell wie möglich überprüft.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ein letztes Wort. Terrorismus entsteht auch dort, wo die Unterschiede zwischen arm und ganz arm und reich besonders kraß sind. Wir alle freuen uns über die Entwicklung im Osten. Wir müssen helfen. Aber wir dürfen nicht auf Kosten der Dritten Welt helfen. Auch das ist notwendig: die Armut zu bekämpfen, um den Terrorismus abzuschaffen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118832900
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1118833000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wischnewski hat recht. Es ist nicht nur die Kürze der Zeit, die uns hier eingeräumt wird, sondern auch die fortgeschrittene Stunde und das Publikum, das uns fehlt — mit Ausnahme derer, die hier noch ausharren — , die sicher nicht ausreichen werden, unsere Debatte heute allzusehr publik zu machen. Aber das haben wir in den letzten zwölf Jahren, in denen ich diesem Hause angehöre, schon so oft erlebt, daß es nicht mehr lohnt, darauf kritisch zu verweisen.
Im übrigen darf ich sagen, Herr Kollege Olderog: Die Anfrage ist, wenn auch spät, aber doch am 26. September des vorvergangenen Jahres, 1988, beantwortet worden. Warum wir erst heute darüber diskutieren, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls



Staatsminister Schaler
liegt diese Antwort seit weit mehr als einem Jahr vor.

(Becker [Nienberge] [SPD]: Aber sie war dürftig!)

Man kann jetzt nicht sagen, es sei zu spät, darüber zu debattieren. Diese Frage ist sicher nicht vom Auswärtigen Amt zu entscheiden, sondern das betrifft die Prioritäten des Deutschen Bundestages.
Herr Kollege Wischnewski, wir sind uns schon in vielen Debatten zu dieser Frage gegenübergestanden. Wir haben in sehr vielen Punkten die völlig gleiche Auffassung. Ich räume ein, daß es manchmal für den Staatsminister im Auswärtigen Amt etwas schwerer ist als für den Abgeordneten der Opposition, ganz so deutlich zu werden, wenn es um Verfehlungen von Staaten geht, die mit uns befreundet sind oder denen gegenüber wir aus einer ganzen Reihe wichtiger anderer Gründe zurückhaltend sein müssen. Sie haben einen dieser Staaten genannt, den Staat Israel. Wir wissen seit langem, daß das ein ganz besonders schwieriges Feld ist; ich möchte das heute abend nicht vertiefen. Aber es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Bundesregierung nicht etwa nur, Frau Beer, gegen Terrorismus von irgendwelchen terroristischen Organisationen gewandt und sich in allen internationalen Organisationen eingesetzt hat, wo es möglich war, mitzuhelfen, daß dieser Terrorismus bekämpft werden kann — das hängt aber meistens an den einzelnen Ländern und nicht an Entscheidungen der Vereinten Nationen — , sondern sie hat auch — und das läßt sich nachweisen — immer wieder Stellung genommen, wenn sich Staaten in einer Weise verhalten haben, die den Vorwurf des Staatsterrorismus zumindest nahelegte, auch wenn die Definition dieses Begriffes sehr schwierig ist.

(Frau Beer [GRÜNE]: Wer hat denn Panama gerechtfertigt?)

Das können Sie durch die Debatten der vergangenen Jahre verfolgen. Sie können das auch verfolgen, wenn Sie sich die Mühe machen, die Stellungnahmen der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu diesen Vorfällen zur Kenntnis zu nehmen. Das galt für Grenada, das galt für eine ganze Reihe anderer Fälle. Und ich muß Ihnen sagen: Es steht den Europäern gut an, daß sie gelegentlich den Mut haben, sich auch einmal nuanciert anders zu verhalten als beispielsweise die Vereinigten Staaten oder der Staat Israel, um zwei Staaten zu nennen, mit denen wir uns ganz besonders verbunden fühlen. Hier werden Sie nicht erleben, daß wir alles nur für richtig halten, sondern wir haben hier durchaus unterschiedliche Meinungen vertreten.
Aber wir können uns nicht Ihrer Sprache bedienen, die ja letztlich auch nichts erreicht; denn mit Ihren Pauschalangriffen und letztlich auch ideologisch gefärbten Vorstellungen kommen Sie nicht weiter. Sie können doch nicht immer sagen: Sie sind ideologisch fixiert, Ihre Einstellung zum Terrorismus ist ideologisch. Vielmehr müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen, daß vor allem Sie völlig befangen sind in einer wahnsinnigen Ideologie,

(Frau Beer [GRÜNE]: Wissen Sie, was Befangenheit ist? Die Antwort auf diese Große Anfrage!)

nämlich zu glauben, hier bestehe, wie Sie vorhin wieder gesagt haben, eine Verschwörung zwischen Regierung und Medien; die besten Sendezeiten würden uns eingeräumt.

(Frau Beer [GRÜNE]: Was war denn mit Libyen?)

Also, ich wünsche Ihnen nicht unbedingt, daß Sie einmal an einer Regierung beteiligt werden. Aber wenn Sie jemals in eine solche Lage kommen,

(Frau Beer [GRÜNE]: Sie lassen uns ja nicht!)

dann werden Sie Ihr blaues Wunder erleben, welche Macht und welchen Einfluß Sie eigentlich wirklich haben, z. B. auf die Medien. Also, das sind kühne Vorstellungen, die mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun haben.
Frau Kollegin Beer, machen Sie sich die Mühe und lesen Sie auch einmal Reden, die hier schon lange vor Ihnen zu anderen Vorfällen gehalten worden sind. Dann werden Sie finden, daß der Unterschied, den Sie dauernd herausstellen, überhaupt nicht existiert, daß wir uns lange vor Ihnen — und zwar nicht nur aus der Regierung heraus, sondern auch als Abgeordnete, die wir hier gewesen sind — in einer ganz ähnlichen Weise geäußert haben, wie sie das tun. Sie können also nicht dauernd unterstellen, daß Sie sozusagen die Reinheit gepachtet haben. Sie dürfen nicht glauben, Sie allein könnten entscheiden, was nun wirklich Terrorismus ist und was nicht.
Ich kann nur sagen: Der Terrorismus — und damit möchte ich schließen, Herr Kollege Wischnewski — ist natürlich, wenn Sie Regionalkonflikte ansprechen, nicht nur auf den Gegensatz zwischen den Großmächten zurückzuführen. Wir werden ja sehr bald erleben: Wenn der weg ist, dann stellt sich die Frage, was die eigentlichen Ursachen sind. Es geht um die Lösung der sozialen Probleme in diesen Regionen, die eigentlich sehr oft der Ausgangspunkt für solche Entwicklungen sind, und es sind nicht nur soziale Probleme, sondern auch ethnische und religiöse Gegensätze, die uns zunehmend beschäftigen werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1118833100
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Januar, 9 Uhr ein und bedanke mich bei denjenigen, die hier bis zum Schluß geduldig ausgeharrt haben.
Ich schließe die Sitzung.