Rede von
Dr. h.c.
Wolfgang
Thierse
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede im Bundes-
tag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre wei-
tere Arbeit bei uns!
Nun erteile ich das Wort dem Bundesminister Sigmar
Gabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Kotting-Uhl, einer Ihrer Hauptvorwürfe
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un müssen Sie klären und entscheiden, ob schon
ürgen Trittin ein Bettvorleger gewesen ist.
as ist eine Debatte, an der ich viel Freude habe. Ich
inde übrigens, dass er ein engagierter Umweltminister
ar.
Sie müssen nicht gleich von Ihrer früheren Meinung
brücken. – In dieser Frage hat er die richtige Linie ver-
reten. Diese Linie, Frau Kollegin, haben wir exakt ein-
ehalten. Wir haben uns an das gehalten, gerade in der
rage der Substituierung, was vorher besprochen wor-
en ist, und zwar einvernehmlich zwischen Bundesre-
ierung, VCI und IG BCE.
Es ist auch vernünftig, dass man den Versuch unter-
immt, mit den betroffenen Unternehmen sowie den Ar-
eitnehmerinnen und Arbeitnehmern über die Frage zu
eden, wie man Verbraucher- und Gesundheitsschutz und
as Interesse an der Erhaltung von Arbeitsplätzen in
bereinstimmung bekommt. Das haben wir getan.
Bei REACH steht für die Verbraucher das Verbrau-
her- und Gesundheitsschutzinteresse im Mittelpunkt.
abei geht es um die rund 30 000 Altstoffe, die bislang,
nders als Neustoffe, in der EU großenteils keinerlei Re-
istrierungs-, Evaluierungs- oder Zulassungsverfahren
nterworfen sind. Ihre Gefährlichkeit ist bislang in völ-
ig unzureichendem Maß untersucht worden. Gelegent-
ich wird dabei eingewandt – das hat meine Vorrednerin
636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Dezember 2005
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Bundesminister Sigmar Gabriel
auch getan –, dass es rund 100 000 Altstoffe gibt. Das ist
richtig, allerdings sind rund 70 000 dieser Altstoffe ent-
weder überhaupt nicht oder in einem so geringen Maß
im Markt vertreten, dass ein Verzicht auf die Überprü-
fung dieser Stoffe mehr als sinnvoll erscheint. Auch dies
war übrigens eine Position, die schon die vorherige Bun-
desregierung eingenommen hat.
In dieser Woche konnte nun ein aus Sicht der Bundes-
regierung wirklich guter Kompromiss erreicht werden,
der einerseits den Gesundheits- und Verbraucherschutz
deutlich stärkt, ihn in den Mittelpunkt stellt, andererseits
die technische Umsetzung der Verordnung so gestaltet,
dass die dadurch entstehenden Kosten für die Industrie
nicht wettbewerbsgefährdend sind. Dies gilt insbeson-
dere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Alle 25 Mitgliedstaaten und auch die Kommission haben
diesem Kompromissvorschlag der britischen Ratspräsi-
dentschaft zugestimmt.
Was sind die zentralen Bestandteile der Verordnung?
Die Altstoffe werden endlich einem Registrierungsver-
fahren unterworfen. Die dafür erforderlichen Daten und
Unterlagen müssen die Hersteller der Chemikalien lie-
fern. Es trifft also nicht zu, was öffentlich manchmal be-
hauptet wird, auch in Pressemitteilungen Ihrer Fraktion,
besser gesagt: der grünen Fraktion im EP, dass diese Ver-
antwortung auf die Chemikalienagentur verlagert wor-
den ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verantwortung
bleibt bei den Herstellern.
Der Vorschlag einiger Teile der Industrie, diese Ver-
antwortung auf die europäische Chemikalienagentur ab-
zuwälzen, hat sich nicht durchsetzen können. Die Agen-
tur hätte diese Arbeit überhaupt nicht bewältigen
können, sondern wäre vermutlich an Herzinfarkt gestor-
ben.
Deutschland hat bei den Stoffen mit einem Produk-
tionsvolumen zwischen einer Tonne und zehn Tonnen
pro Jahr in diesem Registrierungsverfahren übrigens
zwei weitere Tests durchsetzen können, die insbesondere
für einen besseren Arbeitsschutz von Bedeutung sind.
Bei höheren Tonnagen sind Langzeittests vorge-
schrieben, von denen nur dann abgewichen werden
kann, wenn die betroffenen Chemikalien weder die Ar-
beitnehmer noch die Verbraucher, noch die Umwelt er-
reichen. Dieses so genannte Waving-Verfahren in der
Registrierung führt zu erheblichen Kostenentlastungen
und ist aus meiner Sicht mehr als sinnvoll; denn es geht
um die Stoffe, die die Biosphäre, den Menschen oder
speziell den Arbeitnehmer erreichen, nicht um diejeni-
gen, die in Stoffkreisläufen oder in der Matrix von Pro-
dukten gebunden bleiben.
Sollten sich in der Datenerhebung Gefahren bei einer
betroffenen Chemikalie abzeichnen, wird diese einem
Evaluierungsprozess unterworfen. Ergibt sich bei diesem
Evaluierungsprozess der Hinweis auf eine besondere
Gefährlichkeit, so wird diese Chemikalie einem beson-
deren Zulassungsverfahren unterworfen.
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nd übrigens auch ökologisch fragwürdig, weil das Zu-
assungsverfahren selbst schon sehr lange dauert. Wir
aben jetzt ein Verfahren gefunden, bei dem dann, wenn
nformationen darauf hindeuten, dass eine Gefährlich-
eit für die Umwelt besteht, die Genehmigung jederzeit
iderrufen werden kann, und zwar unabhängig von der
rage, für welchen Zeitraum eine Genehmigung vor-
iegt. Permanente Kontrolle, Frau Kollegin, ist besser als
ine unrealistische Annahme von Zeitspannen.
Vielleicht kann Jürgen Trittin herkommen; dann müs-
en Sie nicht mit ihm telefonieren. Ich kann Ihnen versi-
hern, dass das Zitat, das ich vorgelesen habe, echt war.
Der aus umweltpolitischer Sicht – das will ich offen
agen – viel schwierigere Kompromiss musste nicht bei
er Zulassungsfrist oder der Substitution geschlossen
erden, sondern – da haben Sie Recht – bei der Regis-
rierung. Das räume ich ausdrücklich ein. Wir mussten
ustimmen, dass bei der Registrierung der Stoffe zwi-
chen einer und zehn Tonnen pro Jahr nur die bereits ver-
ügbaren Daten abgegeben werden müssen. Ich konnte
iesem Kompromiss aber auch aus umweltpolitischer
icht zustimmen, weil diese Daten in der deutschen che-
ischen Industrie bereits in einem großen Umfang vor-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Dezember 2005 637
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Bundesminister Sigmar Gabriel
handen sind. Das sollten Sie wissen. Denn nach den
Hoechst-Unfällen in den 90er-Jahren hat es dazu eine
sehr umfangreiche Selbstverpflichtung der chemischen
Industrie gegeben, die auch eingehalten wird. Sie ist üb-
rigens von der damaligen Umweltministerin Angela
Merkel durchgesetzt und später von Umweltminister
Jürgen Trittin stichprobenartig überprüft worden. Das
heißt, wir haben diese Daten. Deswegen ist dieser Kom-
promiss aus deutscher Sicht verantwortbar gewesen.
Noch nie war ein umweltpolitisches Vorhaben so um-
stritten. Wo die einen den Ausverkauf des Gesundheits-
und Umweltschutzes an die Industrie sehen, beschwören
die anderen den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf
den internationalen Märkten. Mit REACH verbindet sich
aber tatsächlich eine Pionierleistung bei der Folgenab-
schätzung bezüglich europäischer Vorhaben. Der heftige
Streit um die Verordnung führte zum Beispiel dazu, dass
unter Einbeziehung der Industrie und übrigens auch der
Umweltverbände erstmals eine breit angelegte systema-
tische Folgenabschätzung vorgenommen wurde.
In Deutschland wurde die Diskussion um REACH
streckenweise ideologisch geführt. Wenn man die Lob-
byisten hörte, gab es nur die Wahl zwischen dem Verrat
an der Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik und
der Verlagerung der chemischen Industrie ins Ausland.
Ich glaube, dass eine derart verengte Sichtweise den
Blick auf die wirkliche Kernfrage verstellt. Sie lautet:
Wie kann ein hohes Niveau für den Schutz von Mensch
und Umwelt, auf den es keinen Rabatt geben kann, mit
möglichst kostengünstigen und unbürokratischen Rege-
lungen erreicht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen und der europäischen Industrie zu erhal-
ten?
Darauf, meine Damen und Herren, hat REACH die
angemessene Antwort gegeben. Das private Chemikali-
enlager, das uns alle zu Hause umgibt, wird keine Black-
box mehr sein. Bei Farben, Lacken, Klebstoffen, Imprä-
gniersprays, Putzmitteln und Bastelprodukten – Dingen,
die man auch unter dem Weihnachtsbaum finden kann –
werden wir jetzt endlich das Vertrauen gewinnen kön-
nen, dass deren Inhaltstoffe auf die grundlegenden Si-
cherheitseigenschaften überprüft worden sind und dass
ihr Einsatz zu dem gewünschten Zweck vertretbar ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.