Rede von
Klaus
Brandner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
amen und Herren! In dieser Woche diskutieren wir
ber die zentralen Gebiete der künftigen Zusammenar-
eit in der großen Koalition. Der Bereich „Arbeitsmarkt
nd Soziales“ steht heute auf der Tagesordnung. Das ist
erade für uns Sozialdemokraten ein Kernbereich und
ür viele auch ein Gebiet, bei dem man besonders hin-
ieht, weil es dort vermeintlich viel Sprengstoff gibt. Da-
ei werden schon einmal unterschiedliche Positionen
eutlich, die wir in der politischen Arbeit zu berücksich-
igen haben. Uns ist wichtig, dass wir in der Koalitions-
ereinbarung die Positionen zu der Arbeitsmarktpolitik
nd den Arbeitnehmerrechten zusammengeführt haben.
ch kann also feststellen, dass wir von einem ausgespro-
hen positiven Start der großen Koalition sprechen kön-
en.
Die große Koalition ist eine große Chance für unser
and. Bei der Vorbereitung meiner Rede musste ich
icht überlegen, wo der Koalitionspartner in ein Fett-
äpfchen getreten ist, was vorgetragen werden muss,
nd wo wir ein besonderes Lob von der Öffentlichkeit,
um Beispiel von Wissenschaftlern, erfahren haben. Uns
eht es vielmehr darum, die Chancen der großen Koali-
ion zu nutzen. Es darf nichts schlecht gemacht, aber
uch nichts schöngeredet werden.
as muss unser Ziel, muss die Grundlage unserer Zu-
ammenarbeit sein.
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Klaus Brandner
Dass sich die Opposition damit schwer tut, haben wir
gerade wieder gespürt. Wenn ich einen Satz zu der Rede
von Frau Pothmer sagen darf:
In der letzten Legislaturperiode haben sich die Grünen
hinsichtlich der Aktivitäten zur Senkung der Lohn-
nebenkosten geradezu überboten. Es gab selten Veran-
staltungen, bei denen Sie nicht in der ersten Reihe geses-
sen und gerufen haben: Lohnnebenkosten runter! Das
bringt Arbeitsplätze! – Dabei war Ihnen ganz egal, wel-
che Leistungen dafür eingeschränkt werden müssen. Das
muss man Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben, liebe
Kollegin.
Die Kollegin Möller von der Linken hat zu Recht ge-
sagt, dass durch die Hartz-Reformen keine Arbeits-
plätze geschaffen werden. Das behauptet auch keiner.
Dies ist aber der erste gemeinsame Ansatz, wodurch
Langzeitarbeitslose eine individuelle Betreuung erfahren
und systematisch gefördert werden. Es wird Schluss ge-
macht mit dem Abschieben und der Passivität. Das ist
der Vorteil dieser Gesetzgebung und das muss gesagt
werden.
Vom Kollegen Niebel haben wir nichts anderes erwar-
tet. Er ist vielleicht noch ein bisschen enttäuscht darüber,
dass er nicht Minister geworden ist,
wie auch andere, die nicht Staatssekretäre geworden
sind. Mit dieser Situation werden wir uns abfinden müs-
sen. Es ist Ihnen erspart geblieben, Regierungsverant-
wortung zu übernehmen. Aber sei es drum. Wir, CDU/
CSU und SPD, werden unsere ganze politische Energie
gemeinsam auf das Machbare konzentrieren anstatt auf
das ständige Voneinanderabgrenzen.
Völlig klar ist: Der politische Wettbewerb in der Ar-
beitsmarktpolitik und erst recht bei den Arbeitnehmer-
rechten bleibt bestehen. Aber wir werden die Kraft ha-
ben, dieses Land konstruktiv zu modernisieren und dabei
die Solidarität mit den Schwachen in der Gesellschaft als
Leitbild zu bewahren. Ich glaube, dass das, was Kollegin
Falk hier vorgetragen hat, ein Beispiel dafür ist, dass wir
auf eine sichere Grundlage bauen können.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zu
dem Appell sagen, den die Bundeskanzlerin, Frau
Merkel, gestern an uns alle gerichtet hat, nämlich, dass
wir mehr Freiheit wagen müssen. Das ist, wie ich meine,
ein richtiger Ansatz. Wir müssen uns jedoch auch darü-
ber im Klaren sein, dass wir die Voraussetzungen dafür
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reiheit kann nur aus der Position der Sicherheit heraus
elebt werden. Um den Menschen die Möglichkeit zu
eben, Freiheit zu wagen, müssen wir ihnen insbeson-
ere soziale Sicherheit geben. Für uns heißt das ganz
onkret, dass sozialer Schutz und Arbeitnehmerrechte
en notwendigen Veränderungen nicht im Wege stehen,
ondern vielmehr die Voraussetzung für die Reformen
ind.
Ich will als Beispiel ein Argument hinsichtlich des
ündigungsschutzes aufgreifen und dies hieran ver-
eutlichen. Der Kündigungsschutz ist nicht allein eine
konomische Größe, und schon gar nicht ein Kostenfak-
or. Kündigungsschutz gibt den Menschen Sicherheit,
erlässlichkeit und Planungsmöglichkeiten. In einer
ire-und-fire-Gesellschaft haben Menschen nicht die
raft, Freiheit zu wagen und sie zu leben. Deshalb sage
ch ganz deutlich: Weniger Kündigungsschutz bedeutet
icht zugleich mehr Arbeitsplätze, wie die FDP uns das
mmer wieder einreden will.
s gibt keine seriöse Studie, die belegt, dass weniger
ündigungsschutz zu mehr Arbeitsplätzen führt. Wir
rauchen – auch beim Kündigungsschutz – einfache und
ransparente Regeln. Deshalb haben wir uns darauf geei-
igt, den Kündigungsschutz in diese Richtung weiterzu-
ntwickeln. Deshalb machen wir Schluss mit dem An-
uchs und Auswuchs an Befristungen. Ehrlich gesagt:
elche Einstellung in den Betrieben findet denn heute
nbefristet statt?
ie Einstellungen in den Betrieben finden doch nur mit
achgrundlosen Befristungen statt. Das sind doch die
raxis und die Wahrheit, der wir uns nicht verschließen
ürfen.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Die Möglichkeit, Ar-
eitsverträge bis zu 24 Monate sachgrundlos zu befris-
en, schaffen wir ab. Mit diesem Missbrauch machen wir
chluss.
m Gegenzug geben wir den Arbeitnehmern und den Ar-
eitgebern die Möglichkeit, anstatt der bisherigen sechs-
onatigen Wartezeit eine Wartezeit von bis zu 24 Mona-
en zu vereinbaren, bis der Kündigungsschutz greift.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang mit einem
issverständnis aufräumen, das landauf, landab durch
ie Medien geht: Es wird nämlich nicht die Probezeit
erlängert, sondern die Wartezeit, bis der Kündigungs-
chutz greift.
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Klaus Brandner
Wenn dann in dieser Zeit, also während der Wartezeit,
gekündigt wird, gelten erstens die allgemeinen Kündi-
gungsfristen und zweitens ist der Betriebsrat zu beteili-
gen. – Lieber Herr Kollege, wenn Sie im Arbeitsrecht
bewandert sind, wissen Sie, was das bedeutet.
Deshalb sage ich Ihnen: Man muss auf diese zusätzli-
chen Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen können.
Wir schaffen Planungssicherheit für die Beschäftigten
und bewahren den Schutz der Arbeitnehmer vor Willkür
und Beliebigkeit.
Als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit ist es not-
wendig, die Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft
zu erhalten. Wir werden nicht an der Tarifautonomie
rütteln, die gleichfalls ein Symbol für Freiheit ist. Wir
werden unser Erfolgsmodell Mitbestimmung weiterent-
wickeln und die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer auf europäischer Ebene sichern
und gestalten.
Für die SPD gilt der Leitsatz: Die Wirtschaft muss
dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Alle Refor-
men müssen sich an diesem Leitsatz messen lassen. Des-
halb ist für mich der Zusammenhang zwischen Innova-
tion und sozialer Gerechtigkeit so entscheidend.
Um es auf den Punkt zu bringen: Innovation und so-
ziale Gerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille und
sie bedingen einander: ohne Wachstum keine soziale Ba-
lance und ohne soziale Balance kein Wachstum.
Meine Damen und Herren, ich will den Zusammen-
hang zwischen Wachstum und sozialer Balance an zwei
Punkten festmachen, die für mich zu den Aufgaben der
kommenden Jahre zählen:
Erstens. Die Festigung der Mitbestimmung. Wer
heute ständig schreit, man solle die Mitbestimmung
kräftig einschränken, der schadet dem Standort Deutsch-
land insgesamt.
Wer die Gewerkschaften schwächen und die Rechte der
Arbeitnehmer beschneiden will, hat ein anderes Selbst-
verständnis von Arbeit und ein anderes gesellschaftli-
ches Leitbild als wir. Die SPD steht für Teilhabe, für
gleiche Augenhöhe, für starke Gewerkschaften, für
selbstbewusste und motivierte Arbeitnehmer, für Mitver-
antwortung und für Mitbestimmung. Arbeitgeber und
Arbeitnehmer sind ein Paar, das zusammengehört. Das
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m es deutlich zu sagen: Auf dieser sicheren Grundlage
erden die Betriebsratswahlen im Frühjahr 2006 die Vo-
aussetzungen dafür schaffen, dass sich die Arbeitneh-
er weiterhin in den Betrieben engagieren und gemein-
am nach konstruktiven Zukunftslösungen suchen
önnen.
Zweitens; jetzt muss ich mich besonders an die Kolle-
en von der FDP wenden.
ir alle haben noch in guter Erinnerung, wie Sie im
ahlkampf auf die Gewerkschaften eingeprügelt ha-
en, die Ihrer Meinung nach „die Wurzel allen Übels“
ind.
Jetzt sprechen Sie von den Funktionären.
ie Funktionäre vertreten die Gewerkschaften, Herr
iebel.
leiben Sie doch konsistent; entschuldigen Sie mal.
ehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass die Gewerk-
chaften zu großen Reformen in der Lage waren und es
uch weiterhin sind. Gewerkschaften und Arbeitnehmer
aben in den vergangenen Jahren maßgeblich zur Mo-
ernisierung dieses Landes beigetragen. Wir haben in
eutschland, um das deutlich zu sagen, mit die wenigs-
en Streiktage in der ganzen Welt. In den letzten zehn
ahren gab es pro 100 000 Arbeitnehmer im Schnitt nur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 6. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2005 329
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Klaus Brandner
an vier Tagen im Jahr Arbeitskämpfe. Zum Vergleich: In
unserem Nachbarland Dänemark waren es 171 und in
Kanada 186 Arbeitstage.
Das zeigt: Der soziale Frieden ist in diesem Land nicht
nur ein gesellschaftlicher Frieden, sondern er hat auch
einen entscheidenden ökonomischen Wert. Nehmen Sie
das bitte endlich zur Kenntnis.
Den starren Tarifvertrag, den viele immer wieder un-
terstellen, gibt es in der Praxis gar nicht. Im Jahr 2004
gab es 61 800 gültige Tarifverträge, die zur Verbesse-
rung der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationsfä-
higkeit mit Öffnungsklauseln ausgestattet waren, die
heute die Regel sind. Drei Viertel aller tarifgebundenen
Betriebe nutzen tarifliche Öffnungsklauseln. Wie kann
man da von Inflexibilität reden und die Abschaffung der
Tarifautonomie fordern, meine Damen und Herren?
Ich bin sehr froh darüber, dass wir im Koalitionsver-
trag ein deutliches Bekenntnis zur Tarifautonomie for-
muliert haben. Wir stehen dafür, dass Verträge nur dann
eine Wirkung haben, wenn sie für beide Seiten verbind-
lich sind. Nur wenn sie verlässlich sind, sind sie eine
Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Mitbestimmung, Tarifautonomie und Kündigungs-
schutz sind für mich die besten Beispiele dafür, wie eng
Arbeitnehmerrechte und Wachstum miteinander verbun-
den sind. Man kann wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Fortschritt nur mit den Menschen gestalten, nicht
aber, indem man ihnen ihre Teilhabemöglichkeiten
nimmt.
So wie die Menschen in ihrem Arbeitsleben einen
Anspruch auf verlässliche Arbeitnehmerrechte haben, so
haben auch die Rentnerinnen und Rentner einen An-
spruch auf eine ausreichende und verlässliche Alters-
sicherung.
Für uns Sozialdemokraten ist dies unverzichtbar, ja eine
Herzensangelegenheit; ich sage das so deutlich. Die Ab-
sicherung eines jeden einzelnen Bürgers ist uns Ver-
pflichtung und Antrieb. Im Koalitionsvertrag wurde des-
halb festgeschrieben: keine Rentenkürzungen und
Einhaltung der Sicherungs- und Beitragsziele. Hierfür
stehen wir gemeinsam ein und hieran werden wir uns
messen lassen. Die große Koalition eröffnet uns allen die
großartige Möglichkeit, dies im gesellschaftlichen Kon-
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mmer weniger reguläre Arbeitsverhältnisse, immer ge-
ingere Löhne und Gehälter, das hält kein System der
elt aus. Diese Entwicklung werden wir zusammen mit
er Union stoppen.
Wir dürfen bei der ganzen Diskussion aber nicht den
lick für andere, wesentliche Entwicklungen verlieren.
o wächst seit Jahren die Anzahl der Selbstständigen,
ie unzureichend für ihr Alter vorsorgen. Dies kann ver-
chiedene Gründe haben: dass sie in der Gründungs-
hase an anderes denken oder dass sie sich zu Altersvor-
orge kaum in der Lage sehen. Warum auch immer – hier
roht Altersarmut. Dieser Entwicklung dürften wir nicht
atenlos zusehen. In fast allen europäischen Ländern sind
elbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung
ersichert. Ich meine, wir sollten diesem Vorbild beson-
ere Aufmerksamkeit widmen.
In der Diskussion darüber, wie wir zusätzliche Ar-
eitsplätze schaffen können, ist schon häufig das Stich-
ort „Kombilohn“ gefallen und es ist darüber gespro-
hen worden, wie im Niedriglohnsektor zusätzliche
eschäftigung geschaffen werden kann. Völlig klar ist,
ass wir vorurteilsfrei alle Möglichkeiten prüfen sollten
nd müssen, wie wir mehr Menschen in Arbeit bringen.
nreize zur Aufnahme einer Beschäftigung haben wir in
ielfältiger Art gesetzt. Ich glaube, es fehlt uns an Trans-
arenz. Diese Anreize werden auch deshalb nicht in dem
ünschenswerten Maße genutzt, weil sie vor lauter Viel-
alt kaum zu überschauen sind. Deshalb ist richtig, was
ir uns vorgenommen haben: diesen Strauß an differen-
ierten Fördermöglichkeiten zu sortieren, zu bündeln, zu
inem sinnvollen Instrument zusammenzufassen und da-
ei immer zu prüfen, inwieweit sie zusätzliche Beschäf-
igung schaffen und inwieweit sie Menschen aus der
chwarzarbeit herausholen, sie in normale Arbeitsver-
ältnisse integrieren. Völlig klar ist für uns, dass eine
olche Politik fiskalisch beherrschbar sein muss, dass
erdrängungseffekte vermieden und Mitnahmeeffekte
inimiert werden müssen. Unser Ziel wird es dabei sein,
rmut zu vermeiden und Chancen zu eröffnen, dass ehr-
iche Arbeit auch honoriert wird. Was wir uns vorge-
ommen haben, ist ehrgeizig.
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Klaus Brandner
Wenn wir uns die heutigen Arbeitslosenzahlen an-
schauen, können wir feststellen, dass wir zum ersten Mal
seit der Wiedervereinigung in einem November keinen
Anstieg, sondern einen Rückgang der Arbeitslosigkeit
zu verzeichnen haben.
Das ist ein ermutigendes Signal; darauf müssen wir auf-
bauen.