Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Koalitionsfraktionen haben sich zu Beginn
ihrer Verhandlungen mit der Ausgangslage sehr genau
befasst und eine gründliche Bestandsaufnahme vorge-
nommen.
Wir mussten leider feststellen, dass die Lage dramati-
scher ist, als bisher angenommen werden konnte. Wir
mussten zur Kenntnis nehmen, dass der Konsolidie-
rungsbedarf weit höher als bisher angenommen ist, dass
es nicht möglich sein wird, schon für 2006 einen Haus-
halt vorzulegen, der die Regelgrenze des Art. 115 des
Grundgesetzes einhält, zumindest dann nicht, Frau
Hajduk, wenn man nicht in einer insgesamt unwirt-
schaftlichen Art und Weise Einmaleffekte erzielen
möchte, und dass es auch sehr schwierig sein würde, das
Maastricht-Kriterium von 3 Prozent 2007 wieder einzu-
halten.
Leider hat sich mehr als bestätigt, was Ihr Amtsvor-
gänger, Herr Bundesminister – das muss man zugeben –,
schon im Juni dieses Jahres gesagt hat:
Die Haushaltslage ist dramatisch …
Das hat Hans Eichel schon im Frühsommer dieses Jahres
erkannt. Leider wollte diese bittere Wahrheit niemand
hören. Sie ist im Wahlkampfgetöse untergegangen. Ins-
besondere die eine Seite dieses Hauses wollte sie gar
nicht hören.
Diese neue Koalition hat sich in den finanzpolitischen
Verhandlungen – professionell geführt von Herrn Minis-
ter Steinbrück und Ministerpräsident Roland Koch –
schonungslos mit den Fakten auseinander gesetzt und
die erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen. Dazu
gehört die Erkenntnis, dass für irgendwelche wünschens-
werte Leistungsverbesserungen, außer den vereinbarten
Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum, Beschäfti-
gung und Familie, kein Spielraum besteht, dass Leistun-
gen beschränkt werden müssen, dass für steuerliche Ent-
lastungen keine Möglichkeit besteht, sondern stattdessen
die Einnahmeseite des Staates verbessert werden muss.
Es ist schon erstaunlich, wie viele gute Vorschläge
hinsichtlich Einsparmöglichkeiten und Subventionsab-
bau gemacht werden und wurden und wie viel Mut zu
diesen Einschnitten angemahnt wird und wurde. Dies
geschah auch von solchen, die dies aus ordnungspoliti-
scher Überzeugung fordern, aber dann Einwände formu-
lieren, wenn sie bzw. ihre Interessengruppe selber davon
betroffen sein könnte. Wir, die großen Volksparteien, die
diese Koalition tragen, können nicht einfach in einer Art
Prinzipienreiterei über die Köpfe der Menschen hinweg
sparen, kürzen und streichen.
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ir müssen auch erkennen, wo die Belastungs- und
umutbarkeitsgrenzen der Bürger verlaufen, die ent-
eder auf Transferleistungen angewiesen sind oder die
teuer- und Beitragslast tragen müssen.
Deshalb müssen wir auch erklären, warum wir sparen
nd konsolidieren: eben nicht in erster Linie, weil wir
ie Verfassungsbestimmungen einhalten oder den
aastricht-Vertrag erfüllen müssen. Wir müssen erklä-
en, dass alle diese Regelungen ihren Sinn haben, näm-
ich sicherzustellen, dass es nicht zu einer Desinvestition
ei gleichzeitig überbordender Verschuldung, einem
ubstanzverlust und einem Wert- und Vermögens-
chwund kommt. Auch die Maastricht-Kriterien müs-
en eingehalten werden, wenn wir vermeiden wollen
heute ist schon darüber gesprochen worden –, dass ein
auerhafter Schaden für die Währung und für die ge-
amte wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum ent-
teht.
Aber es geht nicht nur aus diesen Gründen um die
inhaltung der Belastungsgrenzen. Wir müssen dem von
erschiedener Seite gern geschürten Eindruck entgegen-
reten, es würde zulasten der Menschen gespart. Nein,
as Gegenteil ist der Fall: Wir sparen im Interesse der
enschen. Wir sparen im Interesse der Zukunft der
enschen, weil sie sonst in einer nicht so fernen Zu-
unft nicht mehr in der Lage wären, die Lasten aus der
erschuldung zu tragen.
Wenn, wie so häufig, der Vorwurf erhoben wird, der
taat kürze hier, streiche dort und erhöhe die Belastung,
ann ist die Frage zu stellen: Wer ist der Staat? Woher
ommt das Geld des Staates? Dann müssen wir eine ba-
ale Grundwahrheit aussprechen: Der Staat bzw. die öf-
entlichen Hände haben kein anderes Geld als jenes, das
ie vorher über Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebüh-
en dem Bürger aus der Tasche gezogen haben.
Eine zweite Grundwahrheit ist, dass in einer Volks-
irtschaft nicht mehr verteilt werden kann – weder über
esetzliche noch private Sicherungssysteme –, als vorher
emeinsam erwirtschaftet wird.
Wir handeln als Bundesgesetzgeber nicht nur im Inte-
esse des Bundes und des Bundeshaushaltes, sondern wir
ragen auch in hohem Maße Mitverantwortung für die
brigen Ebenen, die Länder und Kommunen. Deshalb
aben wir uns darauf verständigt, dass keine Lastenver-
chiebung auf andere Ebenen erfolgen darf. Im Gegen-
eil: Die bereits eingeleiteten Maßnahmen werden über
ie Steueranteile von Ländern und Kommunen ganz we-
entlich zu deren Entlastung und zu Einnahmeverbesse-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2005 241
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Bartholomäus Kalb
rungen führen. Insofern kann ich die Kritik der letzten
Tage, die von mancher Seite geäußert wurde, nicht nach-
vollziehen.
Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern unter anderem
ausgeführt:
Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird.
Sie führte weiter aus:
Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache ver-
kleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen.
Gleichzeitig war gestern in der Zeitung ein anderes
Zitat zu lesen:
Jeder wird den gesetzlichen Rahmen maximal aus-
nutzen. Da hat es keinen Zweck, den moralischen
Zeigefinger zu erheben. Das ist rechtmäßig und
muss akzeptiert werden.
Angesichts solcher Aussagen kommt man zum Nach-
denken darüber, was getan werden muss, um Gesetze
zielgenauer wirken zu lassen und möglichem Leistungs-
missbrauch besser vorzubeugen. Ich denke aber, dass es
uns selbst bei allerbestem Willen und gründlichster
Arbeit nicht gelingen wird, jeden Missbrauch zu verhin-
dern. Es wird auch nicht möglich sein, Gesetze zu ma-
chen, die für 80 Millionen Menschen Einzelfallgerech-
tigkeit gewährleisten.
Umso mehr wird es darauf ankommen, dass es uns
gelingt, wieder einen gesellschaftlichen Grundkonsens
über die Eigenverantwortung herzustellen.
Ich habe in meiner Kindheit und Jugend viele, insbe-
sondere ältere Menschen erlebt, die vermutlich auch da-
mals schon Anspruch auf gesetzliche Leistungen gehabt
hätten, aber nach dem Motto „Ich will mir selber helfen;
ich will nicht der Allgemeinheit zur Last fallen“ gelebt
haben. Für viele in dieser Generation galt der Grundsatz:
Das tut man nicht; das macht man nicht.
– Gerade diese Menschen haben das größte Verständnis
für die Allgemeinheit aufgebracht, Frau Kollegin
Scheel. – Es mag sehr altmodisch klingen, aber es war
vielleicht ein hohes Maß an Eigenverantwortung, Be-
scheidenheit, Gemeinsinn und Solidarität.
Möglicherweise fehlt uns ein wesentlicher Teil davon.
Wie wichtig eine Trendumkehr in der Haushalts- und
Finanzpolitik ist, wird bei einem Blick auf die demogra-
phische Entwicklung unserer Bevölkerung, wie sie sich
schon in nächster Zeit ergeben wird, sehr deutlich.
Schon in wenigen Jahren, bis zum Jahr 2020, wird der
Anteil der unter 20-Jährigen von rund 21 Prozent auf
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