Rede von
Joseph
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Afgha-
nistan-Konferenz anlässlich des Jahrestages der Peters-
berg-Konferenz hat klar gemacht, dass das politische Um-
feld, die politische Lage, die diese langjährige Tragödie in
Afghanistan hervorgebracht hat, nach wie vor existiert
und dass es demnach zur internationalen Hilfe, zur politi-
schen und zur militärischen Hilfe, zur Sicherheitsstabili-
sierung, zur Wiederaufbauhilfe keine Alternative gibt,
wenn man nicht wieder in genau dieselbe Problemsitua-
tion zurückfallen will, die zu der Entwicklung geführt hat,
mit der wir uns vor über einem Jahr auseinander setzen
mussten.
Schauen wir heute, im Jahre 1 nach dem Ende des
Kampfs gegen die Taliban, auf Afghanistan, können wir
sagen: Es sind große Fortschritte gemacht worden.
Heute können die humanitären Hilfsorganisationen wie-
der überall im Land arbeiten. Wenn diese Arbeit auch
nach wie vor gefahrvoll bleibt, so kann sie stattfinden.
Heute können wir feststellen, dass es zumindest regional
an wichtigen Punkten gelungen ist, mit dem Wiederauf-
bau zu beginnen, dass zumindest im Großraum Kabul
wieder so etwas wie Staatlichkeit entsteht, dass die Rechte
der Frauen und die Rechte von Minderheiten wieder ge-
achtet werden, dass die Taliban-Diktatur zerstört wurde.
Das alles sind beeindruckende Fortschritte. Aber wir
konnten uns davon überzeugen – wir waren mit einer De-
legation in Afghanistan –, dass das Land von einem Zu-
stand, den man mit allergrößtem Optimismus auch nur
annähernd als Normalität bezeichnen könnte, nach wie
vor weit entfernt ist.
Politisch müssen wir feststellen, dass vor allen Dingen
die Problemstruktur, die Konfliktstruktur weiterhin exis-
tiert. Nach wie vor gibt es rivalisierende, widerstreitende,
hoch gerüstete, unterschiedliche Interessen im Land; Kol-
lege Pflüger hat die Warlords erwähnt. Nach wie vor ist es
sehr wichtig, dass die Interessen der regionalen Anrainer-
staaten, der regionalen Nachbarn nicht wieder kontrapro-
duktiv nach Afghanistan hineinwirken, sondern in die
Wiederaufbaubemühungen eingebunden werden. Des-
halb hat Präsident Karzai für den 22. Dezember nach Ka-
bul eingeladen, um eine Vereinbarung über gute regionale
Nachbarschaft zu unterschreiben.
Nach wie vor besteht die Gefahr des Terrorismus, des
Wiedererstarkens, der Reorganisation der Taliban in Ver-
bindung mit der Refinanzierung durch organisierte Kri-
minalität, hier vor allen Dingen Drogenkriminalität. Nach
wie vor besteht auch die Gefahr, dass al-Qaida sich dort
reorganisiert und sich erneut Ausbildungszentren und
Rückzugsräume eröffnet. Damit wird klar: Es gibt zum in-
ternationalen Engagement in Afghanistan keine Alterna-
tive, wenn wir die Lehren aus dem 11. September 2001
wirklich gezogen haben.
Ein zweiter Punkt in diesem Zusammenhang wurde bei
der Reise auch klar: Ohne ISAF gibt es keinen Frieden
und keine Stabilität, gibt es nicht den Ansatz eines Wie-
deraufbaus in Kabul.
Das heißt aber in der Konsequenz – davon konnten wir
uns alle überzeugen, ob Angehörige der Koalition oder
der Opposition oder der Bundesregierung –: Schon heute
ruht die Hauptlast bei ISAF auf dem deutschen Kontin-
gent. Das muss man wissen. Deswegen ist es so wichtig,
dass wir heute eine Verlängerung des Mandats be-
schließen, damit diese sinnvolle, risikohafte, gleichzeitig
aber alternativlose Arbeit an der Sicherung der Stabilisie-
rung des Wiederaufbauprozesses in Afghanistan vorange-
hen kann. Ich denke, es ist klar, dass wir unseren Soldaten
für dieses zweite ISAF-Mandat eine möglichst breite Un-
terstützung geben, denn ihre Arbeit ist gefahrvoll und ri-
sikoreich, wie gerade das gestrige Ereignis klar gemacht
hat. Risiken sind nicht auszuschließen. Auch wenn alles
für eine Risikominimierung getan wird – ich betone
nochmals: es wird alles getan –, bleibt die Situation in Af-
ghanistan ohne jeden Zweifel gefahrvoll. Das kann jeder,
der dort war, schon nach dem ersten Eindruck vor Ort be-
stätigen. Aber diese Mission ist alternativlos und deswe-
gen verdienen unsere Soldatinnen und Soldaten jede Un-
terstützung durch das deutsche Parlament.
Zu Recht wurde die Frage nach der politischen Per-
spektive, nach einem politischen Lösungskonzept ge-
stellt. Natürlich kann der Aufbau nicht auf Kabul, so
wichtig Kabul auch ist, beschränkt bleiben. Gerade die
Zerstörungen in Kabul nach dem Abzug der sowjetischen
Truppen und dem Ende der Invasion durch die damalige
Rote Armee haben klar gemacht, welche Bedeutung der
Besitz von Kabul für jede afghanische Autorität hat. Es ist
aber selbstverständlich: Der Zusammenhalt des Landes
und der Wiederaufbau machen es notwendig, dass die Zen-
tralregierung nicht nur auf die Region Kabul begrenzt ist.
Zur Sicherung des ganzen Landes ist der Aufbau eines
afghanischen Militärs von entscheidender Bedeutung.
Ohne eine eigene afghanische Sicherheitskomponente
wird die Zentralregierung langfristig nur eingeschränkt
handlungsfähig sein. Das muss man klar sehen. Da wir
eine demokratische Zentralregierung wollen – der Pro-
zess für die Wahlen ist im Zusammenhang mit der Um-
setzung des Petersberg-Abkommens angestoßen worden –,
kommt diesem Aufbau eine ganz entscheidende Bedeu-
tung zu. Daran arbeiten vor allen Dingen unsere Partner,
allen voran die USA.
An zweiter Stelle steht der Polizeiaufbau. Die Frage,
wie wir den Drogenanbau besser bekämpfen können, ist
nicht nur eine ökonomische und soziale Frage, sondern
auch eine polizeiliche. Beim Aufbau polizeilicher Struk-
turen in Afghanistan leisten deutsche Polizeibeamte – das
kann ich nur noch einmal unterstreichen – eine hervorra-
gende Arbeit. Das wurde mir von internationalen Partnern
auf bilateraler und auf VN-Ebene bestätigt. Ich möchte
mich bei den Beamten wie auch beim Innenminister für
diese Arbeit herzlich bedanken.
Darüber hinaus gibt es ein vielfältiges Engagement der
Bundesrepublik Deutschland, aber auch vieler anderer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 17. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Dezember 2002 1321
Partnerländer. Wir konzentrieren uns sehr stark auf die
Hilfe beim Wiederaufbau des Bildungswesens. Ein
Schwerpunkt dabei ist Kabul. Der Frage der Überwin-
dung der Diskriminierung von Frauen und Mädchen ge-
rade im Bildungsbereich kommt eine ganz besondere Be-
deutung zu.
Die Arbeit – Kollege Pflüger hat sie zu Recht hervor-
gehoben – der vielen Nichtregierungsorganisationen, die
vor allem im zivilgesellschaftlichen Bereich für den Wie-
deraufbauprozess unverzichtbar sind, muss man zusam-
menfügen. Man muss aber ehrlich hinzufügen: Es wird
lange dauern. Bereits zum Kosovo haben wir uns schon
oft gefragt, ob wir das im Kosovo jemals werden packen
können. Ich glaube, Kollege Pflüger und alle anderen, die
uns nach Afghanistan begleitet haben, wir können eines
feststellen: Angesichts dessen, was wir in Kabul gesehen
und erlebt haben, wissen wir, dass es ein sehr langfristiges
Engagement wird.
Der Kampf gegen den Terror hat immer zwei Ele-
mente. Ein Element ist militärisch, polizeilich, geheim-
dienstlich. Dort, wo Terror existiert, wo sich Terrorismus
organisiert, müssen seine Strukturen zerstört werden. Ge-
nauso muss aber auch der Nährboden, auf dem sich der
Terrorismus entwickeln und aus dem er sich rekrutieren
kann, trockengelegt werden. Das heißt Hilfe zum Natio-
nenbauen. Das ist eine umfassende und sehr langfristige
Aufgabe. Die Sicherungskomponente spielt dabei eine
wesentliche Rolle, dennoch erschöpft sich diese Aufgabe
nicht allein in der Sicherungskomponente.
Die Bundesregierung weiß sich deshalb beiden Aufgaben
verpflichtet.
Man muss der Ehrlichkeit halber sagen: Das wird ein
sehr langfristiges Engagement sein. Das muss man wis-
sen. Deswegen möchte ich mich bei allen, die heute dem
neuen Mandat zustimmen – ich hoffe, es wird eine sehr
breite Zustimmung hier im Hause geben –, recht herzlich
bedanken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen.
Ich sehe zur Erneuerung des Mandats keine Alternative.
Das Mandat nicht zu erneuern hieße, dass der ISAF-Auf-
trag nicht erfüllt werden könnte. Er ist für den Frieden,
den Wiederaufbau und die Stabilität in Afghanistan un-
verzichtbar. Es ist ein Auftrag der Vereinten Nationen.
Er trägt zum Wiederaufbau der Nationen in Afghanistan
bei.
Deswegen: Alle, die dort eingesetzt sind, leisten eine
gefahrvolle, aber unverzichtbare Arbeit. Ich möchte mich
bei den Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei allen an-
deren, die sich im Rahmen dieser gefahrvollen Arbeit für
den Wiederaufbau einsetzen, ganz persönlich bedanken.
Ich wünsche ihnen ein frohes Fest, ein gutes neues Jahr
und gesunde Heimkehr.