Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Vor den Wahlen hat die Ministerin gesagt: Die Bei-
tragssätze werden nicht erhöht und am Leistungspaket
wird nichts geändert. Nach den Wahlen hat sich vieles
verändert: In vielen Teilen der Bundesrepublik Deutsch-
land werden die Beitragssätze erhöht. Sie beabsichtigen,
die Leistungen zu reduzieren, beispielsweise beim Ster-
begeld. Der größte Einschnitt im Leistungspaket ist die
Budgetierung. Diese ist brutal.
Frau Ministerin, ich habe eine wirklich wichtige Frage
an Sie und bitte Sie, sie ernst zu nehmen, zu recherchie-
ren und dem Parlament mitzuteilen, zu welchem Ergebnis
Sie gekommen sind. In München hat ein Geheimtreffen
der deutschen Bankenwirtschaft stattgefunden. Die Ver-
treter der deutschen Banken haben dort sehr lange über
die Gewährung von Krediten an die deutschen Kranken-
versicherungen diskutiert. Man hat festgestellt, dass den
deutschen Krankenversicherungen bis zu 5 Milliarden
Euro an Krediten ausgezahlt worden sind,
und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass man nicht bereit
sei, diese Kreditlinie zu erweitern.
– Nein, nicht im privaten, sondern im gesetzlichen Be-
reich. – Ich möchte von Ihnen wissen: In welchem Um-
fang sind diese 5 Milliarden Euro über Kassen-
verstärkungskredite abgedeckt worden oder geht es noch
nennenswert darüber hinaus?
Das Defizit beträgt bis Ende des Jahres 2,2 bis 3 Milli-
arden Euro. Hinzu kommen 5 Milliarden Euro an Kredit-
aufnahme durch die Kassen. Angesichts dieser Zahlen
brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, wie die Situation
im gesetzlichen System aussieht. Wenn sich die Konjunk-
tur nicht rapide verbessert, werden die Banken die Kre-
ditlinie kürzen und viele Kassen werden über die Wupper
gehen.
Es werden massive Veränderungen auf uns zukommen.
Daher wundert es mich nicht, dass gegenwärtig viele Vor-
stände von Krankenkassen Anträge beim Bundesversi-
cherungsamt stellen, die Beiträge in nennenswertem Um-
fang erhöhen zu dürfen, weil die Vorstandsvorsitzenden
selbst für ihre Arbeit haften.
Waltraud Lehn
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Dr. Dieter Thomae
Ich möchte, dass dem Parlament klar dargelegt wird,
wie die Lage wirklich ist.
Wenn sie wirklich so dramatisch ist, dann muss ich fest-
stellen, dass wir vor den Wahlen belogen und betrogen
worden sind. Denn es wurde immer wieder gesagt, es
werde zu keiner Beitragssatzerhöhung und zu keiner Leis-
tungseingrenzung kommen. Doch wenn Sie sich die Si-
tuation anschauen, dann wissen Sie, worauf es hinaus-
läuft.
Sie fragen nach unseren Rezepten. Ich muss feststel-
len: Herr Gabriel denkt in die richtige Richtung.
Wir Liberale haben schon vor fünf Jahren gesagt, dass wir
keine andere Alternative sehen, als den Patienten in die
Verantwortung einzubeziehen.
Das bedeutet auch: Selbstbeteiligung. Doch die sieht bei
uns anders aus als bei Ihnen: Sie setzen auf Budgetierung.
Wenn das Budget erschöpft ist, dann ist eine 100-prozen-
tige Selbstbeteiligung fällig. Wir dagegen wollen eine
Selbstbeteiligung mit einer vernünftigen Härtefallrege-
lung, sodass auch die Menschen, die zu den Härtefällen
zählen, die für sie notwendige Leistung bekommen.
Sie betrügen die Bürger und die Versicherten, weil Sie
über die Budgetierung Leistungen verwehren.
Auch die Transparenz muss verbessert werden.
Sie glauben, Sie könnten mit der Patientenquittung Er-
folge erzielen. Sie haben doch gar keinen Mut. Eine Pati-
entenquittung, auf der zwar die Leistung genannt wird,
aber nicht ihr Preis, ist völlig schizophren.
Was soll der Patient tun, wenn er eine solche Quittung be-
kommt? Ich kann nur staunen, dass man so „mutig“ ist.
Das ist eine Verarschung der Bürger.
Außerdem wird die Bürokratie in den Arztpraxen durch
diese Maßnahme massiv ausgebaut. Was machen Sie da
nur, meine Damen und Herren?
Ich sage Ihnen: Die Kostenerstattung inklusive der
Selbstbeteiligung mit einer vernünftigen Härtefallüber-
forderungsregel ist die Grundlage für die nächsten Jahre,
um eine verantwortliche Gesundheitspolitik zu betreiben,
und zwar ohne Rationierung und Budgetierung.
Wenn Sie diesen Weg gehen wollen – ich hoffe, dass Ih-
nen Herr Gabriel noch ein wenig einheizt –, dann sollten
wir darüber diskutieren.
Auch Herr Rürup denkt in diese Richtung. Aber es ist
wirklich ein Witz, den Sie sich in der Fraktion und in der
Partei leisten: Herr Rürup soll ein Konzept erarbeiten, das
2003 vorliegen wird. Die Bundestagsfraktion und die Mi-
nisterin wollen im Frühjahr ein Konzeptpapier auf den
Weg bringen. Ich frage mich: Wie soll das laufen? Die Fi-
nanzierung kommt erst Ende 2003, aber die Konzeption
dafür wird es bereits im Januar geben.
Ich hätte wirklich vermutet, dass die Bundestagsfrak-
tion und die Ministerin mutiger und kreativer wären und
ein sinnvolles Konzept auf den Weg bringen würden,
ohne den Patienten immer mehr Leistungen durch die
Budgetierung zu verweigern.