Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem
Punkt, Kollege Fuchtel, täuschen wir uns bestimmt nicht,
sondern haben möglicherweise Übereinstimmung: dass
die wirtschaftliche Lage in Deutschland alles andere als
rosig ist.
Ich glaube, da macht sich niemand etwas vor. Aber wenn
Sie in Ihrem Zehnpunkteprogramm schreiben, Deutsch-
land erlebe die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem
Zweiten Weltkrieg, dann täuschen Sie sich.
Eine wirkliche Krise können Sie in Argentinien sehen, eine
Rezession können Sie seit Jahren in Japan beobachten,
aber nicht in unserem Land. Ich weiß, Übertreibungen ma-
chen eine Sache anschaulich; das ist ein Mittel der Politik.
Ich bin sicherlich auch kein Feind von Polemik. – Davon
können Sie gern etwas abbekommen, wenn Sie noch ei-
nen Zwischenruf machen.
Aber die ist im Moment weniger gefragt. Wir laufen
zurzeit Gefahr, den Standort schlecht zu reden, dieses
Land niederzumachen. Dinge wie „DDR light“ und Ähn-
liches können wirklich nur Leute schreiben, die die DDR
nicht erlebt haben. Wir laufen Gefahr – darin sehe ich ein
Riesenproblem –, dass sich die allgemeine Politik-
verdrossenheit in Staatsverdrossenheit verwandelt und den
Wirtschaftsstandort auf diese Art und Weise beschädigt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1047
Sicherlich, alle Indikatoren deuten im Moment darauf
hin, dass wir die Wirtschaftsflaute so schnell nicht über-
winden werden.
Ich befürchte, wir werden das auch nicht mit höherem
Wachstum allein schaffen, weil das Wachstum längst zum
Problem geworden ist. Wenn man sieht, dass die Wachs-
tumsraten in den letzten zehn, zwölf Jahren im Durch-
schnitt nur bei 1,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
lagen, dann sind Erwartungen von 3 Prozent einfach über-
trieben. Wir sollten uns auf das Realistische konzentrieren.
Herr Koch hat dieser Tage einen bemerkenswert klu-
gen Satz geschrieben: „Einen wirtschaftlichen Zusam-
menbruch gibt es nicht – höchstens die Enttäuschung
falscher Hoffnungen.“ Der Mann heißt allerdings Hannes
Koch und schreibt in der „taz“. Ich würde mir wünschen,
dass eine solche realistische Einschätzung auch bei Ihnen
eines Tages erfolgen wird.
Ich glaube, es hat auch wenig Sinn, wenn wir nur
gebannt auf die Konjunkturentwicklung in den USA
schauen. Wir müssen in Europa für Innovationen sorgen,
wir müssen unsere eigenen Möglichkeiten ausschöpfen.
Insofern bin ich froh, dass die Europäische Zentralbank
den Leitzins heute möglicherweise sehr deutlich senken
wird, etwa um 50 Basispunkte auf einen Schlüsselpro-
zentsatz von 2,75. Das wäre ein deutliches Zeichen in ei-
ner schwachen Konjunktur, das Investitionsbereitschaft
und sicherlich auch den Konsum fördern wird – in einer
Situation, in der eher die Sparquote als der Konsum steigt.
Das hat mit Orientierungsschwierigkeiten zu tun, mit Un-
sicherheiten in einer solchen wirtschaftlichen Situation.
Das heißt, wir können in Europa durch Geldpolitik durch-
aus gegensteuern. Der nationalökonomische Rahmen ist
allerdings sehr begrenzt.
Hier wird, in den letzten Tagen häufig zu lesen, immer
wieder eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede erwartet.
Ich wusste nicht, dass der Sound von Blood, Sweat &
Tears im Nachhinein so viele Anhänger gefunden hat. Das
Merkwürdige ist nur, dass man Blut, Schweiß und Tränen
möglichst nicht im eigenen Gesicht sehen möchte, son-
dern immer bei den anderen, so wie der Subventionsab-
bau, wenn er einen selbst betrifft, abgelehnt wird, so wie
man den schlanken Staat fordert, aber dann im nächsten
Moment, wenn irgendwas nicht funktioniert – –
– So wie diese Bänke hier im Plenum!
– Sie sehen, die Demokratie bricht an manchen Stellen
schon auseinander. Aber solange es nur die Frontbänke
der Koalition sind, ist das noch zu verschmerzen.
– Erste Wirkungen, allein durch Reden ausgelöst. Sie se-
hen, welche suggestiven Kräfte von diesem Podium ausge-
hen können. Scherz beiseite, weil die Lage viel zu ernst ist.
Bei all den Forderungen nach weniger Staat ist doch
verblüffend, dass man, wenn die privaten Banken ausfal-
len, vom Staat eine Mittelstandsoffensive und die Fi-
nanzierung erwartet. Wir werden diesen überbordenden
Erwartungen zum Teil nicht gerecht werden können, den-
noch handeln wir. Der Bundeswirtschafts- und -arbeits-
minister hat deutlich gesagt, dass das Projekt, das seit län-
gerer Zeit angedacht ist, jetzt endlich verwirklicht wird,
dass wir die Deutsche Ausgleichsbank und die KfW zu-
sammenbringen und damit eine kräftige Mittelstands-
bank einrichten, die den Bedürfnissen des Mittelstandes
gerecht werden kann, der gerade im Zusammenhang mit
Basel II auf restriktive Kreditlinien stößt. Die Kreditlinien
wurden aufgekündigt, vielfach unbegründet, weil die
Bundesregierung sich in den Verhandlungen um Basel II
darum bemüht hat, dass man die Besonderheiten des in-
ternen Ratings, die wir in Deutschland haben, mit beach-
tet, dass Retail Portfolios mit eingebaut wurden, dass das
Granularitätsprinzip mit untergebracht wurde.
Das sind alles Fortschritte, die wir erreicht haben. Dazu
zählt beispielsweise auch, dass es in der EU ein Umden-
ken gibt und dass EU-Kommissar Frits Bolkestein die
EU-Eigenkapital-Finanzierungsrichtlinien auf den Weg
gebracht hat. Das sind doch Zeichen dafür, dass wir dem
Mittelstand helfen, aber das ist eben nur im europäischen
Gesamtrahmen zu erreichen. Hier ist die Bundesregierung
tätig und Sie sollten das anerkennen. Es hilft uns allen
nichts, wenn im Mittelstand Angst verbreitet wird.
– Die gefühlte Temperatur ist eine andere als die tatsäch-
liche, aber Sie sollten nicht dazu beitragen, die Tempera-
tur nach unten zu drücken, Herr Kolb. Ich meine, damit
tun Sie der deutschen Wirtschaft überhaupt keinen Gefal-
len. Ich glaube, auch Ihrer eigenen Partei nicht, denn man
erwartet auch von Ihnen mehr Optimismus. Den haben
Sie früher einmal ausgestrahlt. Ich kann allerdings verste-
hen, dass Sie sich momentan nicht in einer sehr optimis-
tischen Lage befinden.
– Eben, das kann wieder besser werden. Springen Sie über
Ihren Schatten und helfen Sie den anderen mit, die Stim-
mungslage zu verbessern.
Ich glaube, das, was wir selber tun können, hat weni-
ger mit Geld zu tun, sondern es hat viel mit gutem Willen
und mit politischen Anstrengungen zu tun. Das alles ist
unter dem Begriff „Bürokratieabbau“ zusammenzufas-
sen. Wir haben in den letzten Jahren bereits an einem
großen Projekt für einen modernen Staat und eine mo-
derne Verwaltung gearbeitet. Der Bundeswirtschaftsmi-
nister hat angekündigt, den Masterplan Bürokratieabbau
durchzuführen. Dazu erwarte ich allerdings auch von den
Verbänden, aus der Wirtschaft und aus der Industrie Vor-
schläge, welche bürokratischen Richtlinien und Rege-
lungen denn abgebaut werden sollen. Wenn man danach
fragt, ist das, was zurückkommt, meistens sehr dürftig.
Werner Schulz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Werner Schulz
Die Experimentierklausel für Ostdeutschland, die
Helmut Schmidt gefordert hat, käme verspätet, denn wir
hätten sie schon 1990/91 während der großen Aufbau-
jahre gebraucht. Dann wäre möglicherweise vieles besser
und zügiger gegangen, obwohl auf dem Feld sicher auch
einiges gemacht worden ist. Ich denke an das Investi-
tionsbeschleunigungsgesetz und dergleichen. Ich glaube,
man muss konkret werden, wenn man eine Experimen-
tierklausel einführt und dafür eine Grundgesetzänderung
braucht. Da ist es nicht nur mit ein paar einfachen Bau-
standards getan. Die Vorschläge müssen schon Substanz
haben. Bisher fällt das, was die Ministerpräsidenten aus
den neuen Ländern dazu beigetragen haben, dürftig aus.
Den Bürokratieabbau sollten wir im Dialog mit der
Wirtschaft, mit der Industrie in Angriff nehmen. Dies ist
eine große Chance für unsere Wirtschaft.
Die Bundesregierung selbst – Sie haben dies heute
noch einmal deutlich gehört – will die Ausweitung der
Ladenöffnungszeiten. Das wird Dynamik bringen. Ich
glaube, dass wir auch das Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb reformieren müssen. Sie wissen, wovon ich
rede. Sie, die FDP, haben jahrzehntelang versucht, die La-
denöffnungszeiten auszuweiten; Sie haben dies aber nie
geschafft.
Eher bricht Ihr Laden auseinander, als dass Sie es schaf-
fen, die Ladenöffnungszeiten zu verändern. So ist das nun
einmal.
– Tut mir leid. Ich kenne die Tiraden von Bangemann über
Möllemann bis Rexrodt. Auf diesem Feld hat sich aber
nichts getan.
Wir gehen dies an und werden die Öffnungszeiten aus-
weiten. Dies ist in der jetzigen Situation, wo das Kauf-
verhalten, das Konsumverhalten eher zurückgegangen ist,
ein wichtiger Beitrag, um wieder Schwung in die Wirt-
schaft zu bringen. Dies ist ein innovatives Vorgehen, wel-
ches uns nicht viel Geld kostet.
Nutzen Sie das Angebot, das heute vom Wirtschafts-
minister deutlich ausgesprochen worden ist! Gehen Sie
auf die Möglichkeiten, die wir Ihnen anbieten, ein! Ar-
beiten Sie mit uns zusammen! Lassen Sie diese Negativ-
rhetorik, um den Standort herunterzuputzen!
Ich konzediere Ihnen, dass die Vorschläge, die Sie un-
terbreitet haben, natürlich ebenfalls Ansatzpunkte enthal-
ten, über die man reden kann. Das ist keine Frage. Dazu
gehören etwa die 500-Euro-Jobs und deren Ausweitung
auf andere Bereiche. Bezüglich dieser Fragen signalisie-
ren wir ebenfalls ein konstruktives Herangehen. Dies ha-
ben wir uns in der Koalition vorgenommen. Ich denke, bei
solchen Fragen sollte man zusammenkommen.
Das gilt auch für die betrieblichen Bündnisse fürAr-
beit. Zum Teil gibt es sie; zum Teil haben sie ein wirklich
neues Klima in den Betrieben und in unserer Volkswirt-
schaft geschaffen. Ich glaube, an vielem ist etwas dran.
Ich lese momentan mit wachsendem Interesse die Vor-
schläge von den Verbänden, vom BDI und vom ehemali-
gen BDI-Präsidenten Henkel. Es gibt eine Reihe von
Punkten, über die man sich verständigen kann. Aber auch
diese Regierung bietet Ihnen genügend an, auf das Sie ein-
gehen sollten. Nur in konstruktiver Zusammenarbeit wer-
den wir den Standort modernisieren und nicht, indem wir
gegeneinander arbeiten, uns gegenseitig profilieren und
die Brocken um die Ohren hauen. Dies wird uns nichts
bringen und zu nichts führen.