Rede von
Rainer
Brüderle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Clement, Sie haben als Beleg für Ihre Einschätzung der Si-
tuation das World Economic Forum zitiert. Das weist aber
auch ausdrücklich darauf hin – Sie haben das nicht er-
wähnt –, dass die Unternehmen besser sind als die Wirt-
schaftspolitik in Deutschland, und sieht die große Gefahr,
dass das Wachstumspotenzial der deutschen Unternehmen
zunehmend im Ausland zum Tragen kommt, weil es im In-
land nicht stimmt. Das gehört der Redlichkeit halber dazu.
In diesen Tagen ist viel die Rede von der Verrohung der
politischen Kultur, die allerdings immer nur beim politi-
schen Gegner zu finden ist. Der Kanzler spricht von der
„Diffamierung durch die Opposition“. Der Bundesfinanz-
minister wirft der Opposition „dauerhaftes Miesmachen
des Standortes“ vor. Dies entbehrt nun wirklich nicht ei-
ner großen Ironie. Genau dieser Bundesfinanzminister hat
am Dienstag dieser Woche die Störung des gesamtwirt-
schaftlichen Gleichgewichtes feststellen müssen. Genau
dieser Bundesfinanzminister musste zugeben, dass das
Viereck aus stetigem und angemessenem Wachstum, ho-
hem Beschäftigungsgrad, Preisstabilität und außenwirt-
schaftlichem Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist.
Das angebliche Zerrbild ist leider Realität und amtlich be-
stätigt worden. Mit der Feststellung der gesamtwirt-
schaftlichen Störung ist der permanente Vorwurf der
Miesmacherei entkräftet worden.
Ich hoffe, dass wir in diesem Haus nun, erstmals seit
drei Jahren, wenigstens in der Beurteilung der Situation
übereinstimmen. Die Gefahr eines Double Dip, die Ge-
fahr einer nochmaligen Rezession, ist nicht von der Hand
zu weisen. Ich wünsche mir eine solche Situation nicht,
verweise aber auf die Beurteilung durch die Deutsche
Bank, die schon von der Rezession spricht.
Die Regierung hat die Störung der Volkswirtschaft mit
ihrem Nachtragshaushalt amtlich bestätigt. Wir können
das sehr einfach anpacken. Die 20 Punkte des Sachver-
ständigenrates sind eine hervorragende Grundlage.
Herr Clement, die erneute Rezessionsgefahr wird im
Haushalt unzureichend berücksichtigt. Sie gehen weiter
von einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent und von
3,8 Millionen Arbeitslosen aus. Der Sachverständigenrat
spricht von 1 Prozent Wachstum und von mehr als 4 Mil-
lionen Arbeitslosen. Über die Entwicklung der Arbeits-
losigkeit schweigt die Bundesregierung. Die Massen-
arbeitslosigkeit ist das Haushaltsrisiko Nummer eins.
Der höchste Anstieg der Arbeitslosigkeit im November im
Vergleich zum Vorjahr seit der Wiedervereinigung belegt
dies.
Vorsorge haben Sie für dieses Risiko nicht getroffen.
Die Bundesanstalt für Arbeit soll nächstes Jahr ohne Bun-
deszuschuss auskommen. In diesem Jahr haben Sie 5 Mil-
liarden Euro überwiesen. Nachdem Sie schon kein Geld
mehr überweisen wollen, wollen Sie durch das Hartz-
Konzept zusätzlich noch 3,8 Milliarden Euro einsparen.
Sie haben die Mittel für die Arbeitslosenhilfe im Haushalt
von 14,8 Milliarden Euro auf 12,3 Milliarden Euro
gekürzt.
Sie haben in den vergangenen drei Jahren jeweils im
Durchschnitt 1,3 Milliarden Euro mehr zuschießen müs-
sen, als eingeplant.
Der Haushalt ist in seinen Ansätzen nicht redlich.
Sie werden mit diesen Haushaltsansätzen – das ist der
Vorwurf – nicht über die Runden kommen. Der Sachver-
ständigenrat geht von 4,1 Millionen Arbeitslosen aus.
Herr Clement, ich respektiere Ihren Ehrgeiz, die Ar-
beitsmarktprognosen der Wirtschaftsweisen zu widerle-
gen, doch allein mit Hartz und Weichspülen werden Sie es
nicht schaffen. Selbst wenn Sie das noch einmal im Fran-
zösischen Dom inszenieren, werden Sie es nicht schaffen.
Sie müssen an die Strukturen heran. Das Hartz-Konzept
kann im besten Fall die Vermittlungstätigkeit verbessern.
Das Arbeitsplatzangebot wird dadurch nicht erhöht.
Mehr Erwerbstätigkeit bekommen Sie nur durch mehr
Wachstum und mehr Flexibilität. Beides fehlt in Deutsch-
land.
Der Sachverständigenrat hat in der Tat eine Reihe guter
Vorschläge gemacht. Sie müssen das Tarifkartell ein Stück
aufbrechen.
Dr. Thea Dückert
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Rainer Brüderle
Sie werden ohne verstärkte Leistungsanreize nicht voran-
kommen. Das ist nicht bequem, aber es ist notwendig. Die
Vorschläge der Wirtschaftsweisen wurden auch von im-
merhin drei SPD-Mitgliedern erarbeitet. Es sind doch
auch Leute von Ihnen im Sachverständigenrat. Ich habe
nichts gegen diese Leute. Nehmen Sie sie wenigstens
ernst!
Ich zähle die Sachverständigen zu den vernünftigen Leu-
ten; Herrn Gerster und Sie, Herr Clement, natürlich auch.
Aber Sie müssen machen, was Sie sagen!
Mit Ihrer Allianz für Erneuerung und Bürokratieabbau
haben Sie Recht. Setzen Sie es doch um! Wir hören schon
seit vier Jahren, dass sich da etwas ändern soll. Wir, die
FDP-Bundestagsfraktion, haben 28 konkrete Vorschläge
im Plenum eingebracht: zur Bauabzugsteuer, zum Schein-
selbstständigengesetz, zur Freigabe der Ladenschluss-
zeiten usw. Die Umsetzung kostet keinen Pfennig, aber
hilft ein Stück. Machen Sie es doch, und zwar nicht nur
häppchenweise!
Notfalls müssen Sie Vorschläge über die Bundesregierung
vorlegen, wenn über den Vorschlägen nicht FDP stehen
darf. Machen Sie das! Wir wollen keine Urheberrechtsab-
gabe. Der Mittelstand wartet dringend darauf.
Die Regierung hat die Störung des gesamtwirtschaftli-
chen Gleichgewichts festgestellt. Wir befinden uns damit
in der keynesianischen Situation von Unterbeschäftigung
mit Nullwachstum. Für eine solche Situation hat der
frühere SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller Art. 115
Grundgesetz und das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
geschaffen. Schlagen Sie einmal bei Karl Schiller nach,
was er für eine derartige Situation, wie wir sie haben,
empfiehlt! Bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts hat er Steuersenkungen empfohlen. Eine
Steuersenkung könnten Sie sogar über Rechtsverordnun-
gen vornehmen; dafür brauchten Sie keine neuen Gesetze.
Aber Sie machen das Gegenteil: Statt Karl Schiller zu
folgen und Steuern zu senken, schlagen Sie Steuern drauf
und wundern sich, warum die Lage nicht besser wird.
Das kostümieren Sie als Abbau von Steuerprivilegien. In
Wahrheit sind das aber Steuererhöhungen. Das Nettoge-
halt eines Facharbeiters ist nun wahrlich kein Steuerprivi-
leg. Durch das, was Sie auf den Weg bringen, entstehen
steuerliche Mehrbelastungen – das bedeutet eine Minde-
rung von Kaufkraft und von Investitionen – in einer Höhe
von 17 Milliarden Euro pro Jahr.
Der versammelte volkswirtschaftliche Sachverstand
dieser Republik hält diesen Kurs für fatal. Die Konjunk-
turforscher schreiben in ihrem Herbstgutachten, das, was
in der Koalitionsvereinbarung zur Anhebung von Steuern
und Sozialabgaben stehe, sei das Gegenteil dessen, was
wachstumspolitisch geboten sei. Das schreiben Ihre eige-
nen Sachverständigen. Selbst der „Spiegel“, der Ihnen
sehr wohl gesonnen ist, der Ihnen sehr nahe steht und der
wahrlich keine publizistische Hilfstruppe der Opposition
ist, titelt diese Woche: Steuerwahn.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Müntefering,
meinte, das sei noch nicht genug, wir sollten Konsumver-
zicht üben, denn der Staat brauche mehr Mittel. Das ist
eine traurige Sicht. Sollen die Kinder zu Weihnachten auf
ihren Fußball verzichten, damit einige Genossen von A16
nach B 3 befördert werden können?
Braucht die Mutti zu Weihnachten kein Parfum, damit
Herr Gabriel noch mehr Geld für die nächste EXPO ver-
brennen kann? Soll die Omi auf ihre Heizdecke auf dem
Gabentisch verzichten, damit die öffentliche Verschwen-
dung in Deutschland weitergeht? Das kann wahrlich nicht
die Lösung der Probleme in Deutschland sein.
Der Binnenkonsum lahmt seit Jahren. Hauptgrund für
die anhaltende Wachstumsschwäche ist eine Konsum-
schwäche in Deutschland, weil die Menschen kein Ver-
trauen in die Entwicklung dieses Landes haben. Sie wis-
sen nicht, ob sie ihren Job und damit ihr Einkommen
behalten werden oder ob es nicht noch schlechter wird, ob
nicht auch sie ihren Arbeitsplatz und damit ihr Einkom-
men verlieren werden. Das Hochhalten der Staatsquote
– Vergleiche zeigen, dass alle Länder in Europa bei der
Staatsquote besser sind als wir – ist genau der falsche
Weg. Die Lösung ist, die Staatsquote abzusenken,
den Verbrauchern mehr Geld zu lassen, das sie dann aus-
geben können, und ihnen Vertrauen zu geben. Sie müssen
eine ruhige Linie in die Politik hineinbringen. Der Staat
muss sparen, damit die Bürger Geld zum Ausgeben und
zum Investieren haben. Das ist die Lösung.
Sie haben angekündigt, Sie wollten die nächsten Land-
tagswahlen zu Richtungsentscheidungen für diesen Kurs
machen. Diese Herausforderung nehmen wir gerne an.
Wir werden gerne mit Ihnen darüber diskutieren, ob mehr
Staat und weniger Konsum die Voraussetzung ist, um die
Wirtschaft zu beleben. Wir werden gerne mit Ihnen darü-
ber diskutieren, ob höhere Sozialbeiträge, höhere Lohn-
nebenkosten, gut sind für mehr Beschäftigung. Das ist
eine Steuer auf Arbeit, weil Arbeit dadurch verteuert wird.
Dadurch wird es weniger Arbeitsplätze geben.
Wir werden mit Ihnen gerne darüber diskutieren, ob mehr
soziale Marktwirtschaft oder mehr Staat der richtige An-
satz ist. Auf dem bisherigen Weg werden wir es nicht
schaffen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1041
Zurück zur politischen Kultur. Die Ergebnisse aller
Umfrageinstitute zeigen: Die Hälfte der Bevölkerung
traut den Parteien die Lösung der Probleme nicht mehr zu.
– Uns allen nicht! – Es ist höchste Zeit, eine Kurskorrek-
tur vorzunehmen. Dafür muss die Kraft aufgebracht wer-
den. Vielleicht sind wir uns in der Analyse in diesem Haus
einig. Vielleicht kommen wir auch bei den Lösungsansät-
zen ein Stück weiter voran. Viel Zeit haben wir nicht
mehr; die Uhr tickt. Sonst gleitet uns allen das, was wir
heute an politischen Strukturen haben, aus den Händen.
Vielen Dank.