Rede von
Dr.
Antje
Vollmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich möchte Ihnen zunächst das Ergebnis der Wahl der
Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß § 5 des
Richterwahlgesetzes mitteilen: Abgegebene Stimmen 584,
davon gültig 583, Enthaltungen 3, ungültige Stimmen 1.3)
1028
1) Ergebnis Seite 1041 B
2) Ergebnis Seite 1044 D
3) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1029
Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Wahlvor-
schlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen 299 Stimmen, der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP 281 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren d’Hondt entfallen auf
den Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen acht Mitglieder und der Frak-
tionen der CDU/CSU und der FDP auch acht Mitglieder.
Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mit-
glieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge gewählt,
in der ihr Name auf dem Wahlvorschlag erscheint. Die
Namen der gewählten Mitglieder und ihrer Stellvertreter
entnehmen Sie bitte den Drucksachen 15/138 und 15/139.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 e auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß
§ 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
– Drucksache 15/146 –
Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsord-
nung
– Drucksache 15/147 –
Wir kommen jetzt zur Einsetzung des Vertrauensgre-
miums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung.
Bevor wir die Mitglieder wählen, rufe ich den gemeinsa-
men Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP zur Einsetzung
dieses Gremiums und zur Festlegung der Anzahl der Mit-
glieder auf Drucksache 15/146 auf. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das ist
nicht der Fall. Der Antrag ist damit einstimmig angenom-
men. Damit ist das Vertrauensgremium eingesetzt und die
Mitgliederzahl auf neun festgelegt.
Jetzt kommen wir zur Wahl der Mitglieder des Ver-
trauensgremiums. Gewählt ist, wer die Stimmen der
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint,
das heißt, wer mindestens 302 Stimmen erhält.
Auf der für diese Wahl vorgesehenen weißen Stimm-
karte können Sie neun Namensvorschläge ankreuzen. Sie
kennen es bereits: Ungültig sind Stimmkarten, die andere
Namen oder Zusätze enthalten. – Es gab immer wieder
ungültige Stimmen. Bitte achten Sie deshalb darauf. – Wer
sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die weiße Stimmkarte in eine der Wahlurnen
werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführern Ihren
weißen Wahlausweis. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Das ist geschehen.
Ich eröffne die fünfte Wahl: Vertrauensgremium.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme
noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich
schließe damit die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir kommen jetzt zu den Wahlen, die mittels Handzei-
chen durchgeführt werden.
Tagesordnungspunkt 5 f:
Gemeinsamer Ausschuss nach Art. 53 a des
Grundgesetzes
– Drucksache 15/148 –
Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
FDP auf Drucksache 15/148 vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Wahlvorschlag ist damit einstimmig angenommen wor-
den.
Tagesordnungspunkt 5 g:
Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Abs. 2 des
Wahlprüfungsgesetzes
– Drucksache 15/152 –
Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP auf Drucksache 15/152 vor. Wer stimmt für die-
sen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Ent-
haltungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist damit ein-
stimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 h:
Gremium gemäß § 41 Abs. 5 des Außenwirt-
schaftsgesetzes
– Drucksache 15/153 –
Es liegt wiederum ein Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen
und der FDP auf Drucksache 15/153 vor. Wer stimmt
dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Wahlvorschlag ist ebenfalls einstimmig angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 5 i:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Einsetzung des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6
Grundgesetz
– Drucksache 15/154 –
Wahl derMitglieder des Gremiums nach Art. 13
Abs. 6 Grundgesetz
– Drucksache 15/155 –
Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP auf Drucksache 15/154 vor. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist damit einstimmig angenommen worden. Damit ist
das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes ein-
gesetzt und die Mitgliederzahl auf neun festgelegt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Wahlvor-
schlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und der FDPauf Drucksache 15/155.
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Ergebnis Seite 1044 C
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Wahlvorschlag ist ebenfalls einstimmig angenommen
worden.
Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen – Tagesord-
nungspunkte 1 a bis 1 c – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2003
– Drucksache 15/150 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
stellung eines Nachtrags zum Bundeshaushalts-
plan für das Haushaltsjahr 2002
– Drucksache 15/149 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche
Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes
– Drucksache 15/151 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ich erinnere daran, dass wir am Dienstag für die heu-
tige Aussprache fünfeinhalb Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Arbeit. Das Wort hat als
Erster Herr Bundesminister Wolfgang Clement. – Bitte,
Sie haben das Wort.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen diese Haushaltsdebatte vor dem Hin-
tergrund einer sehr schwierigen weltpolitischen Entwick-
lung. Die weltweite Konjunkturschwäche hat Westeuropa
und damit auch Deutschland besonders hart getroffen.
Wachstum, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit haben
sich im ablaufenden Jahr deutlich ungünstiger entwickelt,
als alle Wirtschaftsexperten prognostiziert hatten. Der ak-
tuelle Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen
zeigt, wie ernst die Situation ist. Darauf muss die Politik
– aber nicht die Politik allein – reagieren.
Die Kernfrage ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen:
Wie können wir mehr wirtschaftliches Wachstum und
mehr Beschäftigung erreichen, und zwar unter den Be-
dingungen des globalen Wirtschaftsraumes? Es gibt keine
Volkswirtschaft, die unter den vier Schlägen des Jahres
2001 keine Wirkung gezeigt hat. Ich erinnere an die Nach-
wirkungen der hohen Ölpreise, an den Kollaps der New
Economy und der Neuen Märkte, an die Finanzierungs-
krisen beispielsweise in Südamerika und nicht zuletzt an
den 11. September 2001. Wer vorurteilsfrei über die Gren-
zen schaut, wird feststellen, dass diese Ereignisse überall
ihre Spuren hinterlassen haben. Sogar die Eidgenossen
nebenan in der Schweiz kämpfen mit sehr ähnlichen – um
nicht zu sagen: identischen – Problemen wie wir. Aller-
dings reden sie nicht so laut darüber. Die negative Stim-
mungsmache in unserem Land ist ohne Beispiel in Europa.
Schwarzmalerei und Panikmache verunsichern und läh-
men Menschen und Unternehmen.
Schwarzmalerei und Panikmache werden der Situation im
Land bei weitem nicht gerecht und führen uns auch kei-
nen einzigen Schritt voran.
Ich möchte dazu nur zwei oder drei Hinweise geben, Herr
Kollege. Die Handels- und Leistungsbilanzergebnisse
werden auch in diesem Jahr das Vorjahresergebnis
Deutschlands weit übertreffen.
Die deutschen Exporte legen wieder deutlich zu. Die Da-
ten kennen Sie alle. Soeben erhalten wir über das Statis-
tische Bundesamt die vorläufigen Angaben zu den Auf-
tragseingängen bei den deutschen Industrieunternehmen.
Diese steigen gottlob wieder an, und zwar von September
auf Oktober um 1,1 Prozent und in den neuen Ländern um
3,1 Prozent.
All dies zeigt – darüber sollte niemand hinwegreden; das
dient niemandem –: Die deutschen Unternehmen sind inter-
national hoch wettbewerbsfähig. Die deutsche Außenhan-
delsposition ist gut bis sehr gut. Das eröffnet positive Per-
spektiven, wenn die Weltkonjunktur wieder anzieht.
Deshalb überrascht es mich auch nicht, Herr Kollege, dass
Deutschland nach der Rangliste zur gegenwärtigen Wett-
bewerbsfähigkeit auf der Welt, die das World Economic
Forum kürzlich erstellt hat, unter 80 Staaten auf dem
vierten Rang liegt. Das ist meiner Meinung nach ein Spit-
zenplatz.
Es ist auch interessant, sich einmal diese Studie, eine ame-
rikanische Studie, hinsichtlich des prognostizierten Wachs-
tumspotentials anzusehen. In dieser Rangliste ist Deutsch-
land von Platz 17 auf Platz 14 vorgerückt. Das ist noch nicht
gut genug. Aber wenn man bedenkt, dass die Niederlande in
derselben Zeit von Platz 8 auf Platz 15 und Frankreich von
Platz 20 auf Platz 30 zurückgefallen sind, dann meine ich,
dass wir von einer positiven Gesamteinschätzung der inter-
nationalen Position Deutschlands reden können.
1030
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1031
Darüber sollte die kritische weltwirtschaftliche Situation,
in der wir uns befinden, nicht hinwegtäuschen und nie-
mand sollte darüber hinwegreden. Das ist das Resultat
hervorragenden Unternehmergeistes, qualifizierter und
leistungsstarker Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie erfolgreicher Standortpolitik in Deutschland.
Meine Damen und Herren, mit dem Haushaltsplanent-
wurf des neuen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit,
der Ausgaben in Höhe von knapp 19 Milliarden Euro vor-
sieht, und mit den geplanten Reformen wollen wir dazu
beitragen, dass wir auf dem Weg der Verbesserung der
Standortsituation, der immer weiteren Verbesserung der
Wettbewerbssituation so rasch wie möglich vorankom-
men und die notwendige Aufbruchstimmung zur Erneue-
rung von Wirtschaft und Gesellschaft entfachen. Die
Fundamentaldaten für eine Konjunkturerholung in
Deutschland weisen nach wie vor in die richtige Richtung.
Dazu zählen beispielsweise die in der zweiten Jahres-
hälfte gestiegenen Einkommen, der niedrige Preisanstieg
und die stabilen Kapitalmarktzinsen. All dies veranlasst
uns, mit großem Interesse auf die fast parallel stattfindende
Sitzung des Zentralbankrats in Frankfurt zu schauen.
Für eine Beschleunigung des Wachstums, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, benötigen wir jetzt ein freund-
licheres europäisches und weltwirtschaftliches Umfeld
und natürlich mehr private Investitionen. Wir brauchen
mehr Wachstumsdynamik einerseits und einen schnelle-
ren Umschlag von Wachstum in neue Arbeitsplätze ande-
rerseits; dies brauchen wir nicht erst seit heute, sondern
schon seit vielen Jahren.
Mit unserer Reform des Arbeitsmarktes in Richtung
Dienstleistung und höheres Vermittlungstempo werden
wir dazu beitragen, die Schwelle zu senken, ab der das
wirtschaftliche Wachstum neue Arbeitsplätze schafft.
Wenn es uns gelingt, über mehr Minijobs, über eine Ent-
wicklung des Kleinstgewerbes in Deutschland, über mehr
Zeit- und Leiharbeit und über eine bessere und schnellere
Vermittlung von Arbeitslosen die Flexibilität am Arbeits-
markt zu erhöhen, dann können wir mehr Menschen in Ar-
beit bringen. Die komplette Umsetzung des Hartz-Kon-
zeptes ist deshalb das dringlichste unserer Vorhaben.
Die ersten Schritte haben wir mit dem Ersten und
Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-
beitsmarkt getan. Jetzt ist es an den deutschen Ländern,
im Bundesrat – ab heute im Vermittlungsausschuss – zu
beweisen, ob sie für große Modernisierungsschritte offen
sind oder nicht.
Weitere Schritte werden folgen. Als Nächstes wollen
wir ein Minimalsteuerrecht für das Kleinstgewerbe be-
gründen – dies wird der Finanzminister tun –, dann wer-
den wir die gesetzlichen Voraussetzungen für eine mo-
derne Bundesanstalt fürArbeit schaffen und schließlich
werden wir die notwendige Zusammenführung von So-
zialhilfe für Erwerbsfähige und von Arbeitslosenhilfe
zum Arbeitslosengeld II bewerkstelligen. Mit diesen
Schritten werden wir den Verschiebebahnhof zwischen
Arbeitsamt und Sozialamt beenden, Fehlanreize beseiti-
gen und dem Prinzip des Förderns und Forderns mehr
Geltung verschaffen.
Bereits im kommenden Haushaltsjahr wird die schnelle
Umsetzung der Vorschläge der Kommission „Moderne
Dienstleistung am Arbeitsmarkt“ den Haushalt der
Bundesanstalt für Arbeit und den Bundeshaushalt spürbar
entlasten. Allein eine Verkürzung der durchschnittlichen
Dauer der Arbeitslosigkeit in Deutschland um eine Woche
würde zu Einsparungen von rund 1Milliarde Euro führen.
Deshalb wird die Bundesanstalt für Arbeit im kommen-
den Jahr auch ohne Bundeszuschuss auskommen können.
Meine Damen und Herren, ich sage dies auch von die-
ser Stelle klar und deutlich: Hier baue ich auf die Ver-
ständigungsbereitschaft auch der CDU/CSU-geführten
Länder sowie der verehrten Kolleginnen und Kollegen
der Opposition über die Parteigrenzen hinweg im Ver-
mittlungsausschuss, wenn es gilt, gemeinsam die inak-
zeptabel hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir haben
dabei keine Zeit zu verlieren.
Es ist genug Zeit vertan worden. Wir müssen jetzt zu Er-
gebnissen kommen und wir werden jetzt zu Ergebnissen
kommen. Wir sind gesprächsbereit; ich hoffe, Sie sind es
auch. Dann werden wir den Elfmeter schießen, der jetzt
geschossen werden muss, und zwar möglichst in die an-
dere Richtung als heute Nacht.
– Nicht ins eigene Tor; darauf können Sie sich verlassen,
Herr Kollege. Ich bin Bochumer.
Um das Tor zu mehr Wachstum aufzustoßen, meine
sehr geehrten Damen und Herren, brauchen wir Verände-
rungen, die nicht durchweg schmerzfrei sein können. Wir
müssen noch viele Verkrustungen unserer Binnenwirt-
schaft aufbrechen. Beispielsweise müssen wir monopolis-
tische Märkte im europäischen Verbund öffnen, und zwar
mit Augenmaß und Vernunft. Insoweit ist sehr wichtig,
dass es in der jüngsten Sitzung des Energieministerrats
gelungen ist, die endgültige Marktöffnung für Strom
und Gas in den Jahren 2004 und 2007 hinzubekommen.
Wir müssen die Steuer- und Abgabenlast zurück-
führen. Die nächsten Stufen der Steuerreform werden
2004 und 2005 Entlastungen für Unternehmen und pri-
vate Haushalte bringen, die sich gegenüber 1998 auf ins-
gesamt 56,2 Milliarden Euro summieren. Wir müssen das
Hartz-Konzept komplett umsetzen.
Es wird mittelfristig zu Entlastungen der Beitragszahler
und der öffentlichen Haushalte führen. Wir müssen die
Rahmenbedingungen für den Mittelstand, der unter einer
Wolfgang Clement, Bundesminister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Wolfgang Clement, Bundesminister
enormen bürokratischen Last leidet, deutlich attraktiver
gestalten und ihn entlasten.
Deshalb werden wir – anders, als Sie, Herr Kollege, es in
Ihrer Zeit getan haben – den Ladenschlussweiter lockern,
wie es der Bundeskanzler angekündigt hat,
und die Öffnungszeiten auch an Samstagen bis 20 Uhr
verlängern. Ich werde dem Bundeskabinett dazu voraus-
sichtlich schon in der kommenden Woche einen Gesetz-
entwurf vorlegen.
Unser Land braucht dringend
mehr Menschen, die den Mut haben, eigene unternehme-
rische Ideen zu verwirklichen, Verantwortung zu über-
nehmen und Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb werden
wir schon zu Beginn des neuen Jahres der Öffentlichkeit
eine neue Mittelstandsoffensive vorstellen,
von der ich nur drei Elemente ansprechen werde.
Erstens: eine Gründungsoffensive. Wir werden ge-
meinsam mit dem Handwerk den durch die Leipziger Be-
schlüsse eingeleiteten Liberalisierungsprozess fortführen
und wir werden Existenzgründer in der Gründungsphase
besser als bisher entlasten, beispielsweise durch die Frei-
stellung von Bürokratie in den ersten drei, vier oder fünf
Jahren nach der Gründung, beispielsweise durch die Frei-
stellung von Beiträgen an die Kammern des Handwerks,
der Industrie und der Dienstleistungen.
Zweitens. Wir werden den Abbau von Bürokratie mit
einem Masterplan „Bürokratieabbau“ vorantreiben.
Das heißt, wir werden unnötige bürokratische Hemmnisse
abbauen. Wir sind bereit, jeden Vorschlag zu überprüfen.
Wir haben alle Verbände, Organisationen und Institutio-
nen in Deutschland angeschrieben und gebeten, uns bis
Ende dieses Jahres Vorschläge zu machen. Wir werden die
Realisierbarkeit jedes Vorschlags prüfen.
–HerrKollege, das habenvormir schonviele versucht, auch
die Bayerische Staatsregierung. Ich werde aber nicht müde
werden – das unterscheidet mich von vielen anderen – und
wir werden die Bürokratie Schritt für Schritt abbauen.
Übrigens – das nur aus meiner Erfahrung und aus meiner
Erinnerung –, die bayerische Bürokratie ist kräftiger als
die nordrhein-westfälische.
– Ja, sicher.
Sie ist auch teurer als die nordrhein-westfälische Bürokra-
tie. Aber darüber unterhalten wir uns noch einmal extra.
Drittens. Wir werden versuchen, eine ausreichende Fi-
nanzierung und Förderung des Mittelstandes zu sichern.
Deshalb werden der Bundesfinanzminister und ich dazu
beitragen, dass die Kreditanstalt fürWiederaufbau und
die Deutsche Ausgleichsbank umgehend zusammenge-
legt werden
und dass so rasch wie möglich, das heißt in den nächsten
Tagen, die Wege zur Einrichtung einer Mittelstandsbank
des Bundes eingeschlagen werden,
sodass wir den Hausbanken ein vernünftiges Backing ge-
ben, also eine vernünftige Stärkung der Kreditvergabe zur
Förderung des Eigenkapitals in den kleinen und mittleren
Unternehmen.
Daneben werden wir die Fördermittel, die an den Mittel-
stand für Zukunftsinvestitionen in Forschung, Technolo-
gie und Innovationen fließen, im kommenden Jahr um
7 Prozent steigern.
Eines der wichtigsten wirtschaftlichen Standbeine in
Deutschland ist die Industrie.Wir unterstützen sie durch
zahlreiche Initiativen auf strategisch bedeutsamen indus-
triellen Sektoren. Wo es nötig ist, da fördern wir auch, und
zwar erfolgreich. Beispielsweise ist die deutsche Luft-
und Raumfahrtindustrie inzwischen in der Lage, auf dem
Weltmarkt wettbewerbsfähige Produkte anzubieten. Wir
tragen dazu bei, dass der maritime Standort Deutschland
gesichert wird.
Wir werden künftig – das habe ich mir fest vorgenom-
men – noch energischer darauf hinwirken, dass vor allen
Dingen in Brüssel stärker auf die Belange der Industrie
und ihrer weltweiten Wettbewerbsfähigkeit Rücksicht ge-
nommen wird.
Das ist in der Vergangenheit nicht immer ausreichend der
Fall gewesen. Wir brauchen hierzulande, in Europa und
weltweit wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen, um
Deutschland als wettbewerbsfähigen Industriestandort
dauerhaft zu erhalten und zu stärken. Wir sind darauf
mehr als die meisten anderen Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union angewiesen. Wir sind und bleiben ein Indus-
triestandort.
Die weitere Liberalisierung der nationalen und europä-
ischen Märkte für Strom und Gas im europäischen
1032
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002 1033
Gleichschritt ist das gesamtwirtschaftlich wichtigste An-
liegen unserer Energiepolitik. Wir werden unser System
aus privatrechtlichen Verbändevereinbarungen und staat-
licher Kontrolle seitens der Kartellbehörden durch ein no-
velliertes Energiewirtschaftsgesetz noch schlagkräftiger
machen.
Nachdem wir der ostdeutschen Braunkohle zu wett-
bewerbsfähigen Strukturen verholfen haben – in West-
deutschland vollzieht die Braunkohleindustrie diesen Pro-
zess selbst –, gilt es jetzt, die Finanzierung der deutschen
Steinkohle bis zum Jahr 2010 zu gestalten. Der Beitrag
aus dem Bundeshaushalt wird bis 2005 auf gut 2 Milli-
arden Euro absinken und sich auch danach weiter degres-
siv entwickeln. Um es klar zu sagen: Auch im Energie-
bereich müssen Subventionen weiter zurückgeführt und
auf das Maß beschränkt werden, das energiepolitisch und
ökonomisch vernünftig und wirtschafts- und finanzpoli-
tisch vertretbar ist.
Zur strategischen Infrastruktur in Deutschland zählt
neben der Energie auch die Telekommunikation, à la
longue übrigens immer noch der Wachstumsmarkt par
excellence. Unsere Telekommunikationsinfrastruktur zählt
zu den wichtigsten Standortfaktoren Deutschlands. Wir
verfolgen unsere drei Schwerpunkte deshalb weiterhin
konsequent: Wettbewerb stärken, Innovationen fördern,
Verbraucher schützen und unterstützen. Im Jahr 2003
steht mit der Novellierung des Telekommunikationsrechts
die Stärkung des Wettbewerbs im Vordergrund, damit die
Nutzer auch weiterhin von Preissenkungen, Innovationen
und einem breiten Angebot an Telekommunikationsdien-
sten profitieren können.
Meine Damen und Herren, in Deutschland hängt jeder
dritte Arbeitsplatz vom Außenhandel ab; das ist hin-
länglich bekannt. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik für mehr
Wachstum und mehr Arbeitsplätze muss damit klare
außenwirtschaftliche Initiativen einschließen. Unsere
Außenwirtschaftsinitiative wird daher rasch kommen; ihr
Schwergewicht wird bei konkreten, schnell wirksamen
Maßnahmen liegen, die wiederum insbesondere dem Mit-
telstand zugute kommen, etwa indem wir die Beteiligung
von mittelständischen Unternehmen auf ausländischen
Messen in Europa und darüber hinaus fördern.
In unserer Außenwirtschaftspolitik wollen wir einem
Thema mehr Aufmerksamkeit schenken, dessen Chancen
und Potenziale nach meinem Eindruck nach wie vor un-
terschätzt werden. Ich meine die Erweiterung der Euro-
päischen Union. Diese Erweiterung der Europäischen
Union um die mittel-, ost- und südosteuropäischen Staa-
ten kann und muss der Kern einer großen europäischen
Wachstumsoffensive werden. Sie kann und muss zur Stär-
kung eines europäischen Binnenmarktes führen, der uns
unabhängiger von den Wechsellagen der Weltkonjunktur
machen kann.
Diese Erweiterung der Europäischen Union bietet die
große Chance, unsere soziale Marktwirtschaft zu einem
gleichwertigen Sozialmodell auch über den alten Konti-
nent hinaus zu machen. Die Rekonstruktion der sozialen
Marktwirtschaft auf europäischer Ebene ist eine außeror-
dentliche historische Chance, vielleicht das große Projekt
der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Deutschland ist hier
in einer außerordentlich guten Ausgangsposition und die
neuen Länder in Deutschland haben dabei einen weiteren
klaren Standortvorteil. Diese historische Chance Deutsch-
lands dürfen wir nicht verstreichen lassen.
Die zügige Beseitigung der Flutschäden in Ostdeutsch-
land ist auf einem guten Weg, und zwar ohne dass damit
Abstriche bei den anderen Aufgaben der Initiative Auf-
bau Ost verbunden sind. Die Wirtschaftsförderung wird
auf hohem Niveau weitergeführt. Bei der Investitionsför-
derung setzen wir weiterhin auf die bewährten Instru-
mente, vor allem auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Das geschieht
übrigens in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen-
rat, der die besondere Rolle dieser Gemeinschaftsaufgabe
für den Aufbau Ost betont hat.
Besonders vordringlich für die neuen Länder bleibt die
Stärkung der ostdeutschen Innovations- und Technologie-
potenziale. Dieser Bereich muss weiterentwickelt wer-
den; neue Unternehmen mit neuen wettbewerbsfähigen
Spitzentechnologien müssen entstehen. Die neuen Länder
werden deshalb maßgeblich an den Fördermitteln, die
dafür vorgesehen sind, teilhaben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der neue Zu-
schnitt des Ministeriums, für das ich jetzt Verantwortung
trage, eröffnet aus meiner Sicht die Chance für eine mo-
derne Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Es geht
auch um die Überwindung des Denkens in althergebrach-
ten Kategorien und wohlvertrauten Lagern. Mir geht es
– um das deutlich zu sagen – um ein Politikverständnis,
das alle gesellschaftlichen Gruppen in die Mitverantwor-
tung einzubeziehen versucht, in die Mitverantwortung für
die Konzeption der Reformen sowie die Umstrukturie-
rung und Erneuerung unserer Volkswirtschaft und unseres
Sozialmodells. Das eröffnet die Chance, eine Stimmung
und Bereitschaft für Veränderungen zu schaffen, wie wir
sie in letzter Zeit vermissen.
In einer solchen Allianz für Erneuerung, wie ich es
nennen würde, müssen wir die umfassenden notwendigen
Reformen auf den Weg bringen, die, wie gesagt, nicht
überall und nicht immer schmerzfrei zu haben sind, die
manchmal, vor allen Dingen wenn es um Einschnitte im
sozialen Bereich geht, Schmerzen verursachen werden,
die aber notwendig sind, um unsere Volkswirtschaft wei-
terzuentwickeln und unserer Volkswirtschaft auch in Zu-
kunft eine Spitzenposition zu verschaffen, und zwar so-
wohl auf dem Arbeitsmarkt als auch in der Entwicklung
neuer, moderner Technologien, eine Spitzenposition im
globalen Wettbewerb der Standorte, in dem Deutschland
die besten Chancen hat.
Diese Chancen gilt es zu sichern. Das werden wir tun.
Das war, ist und bleibt unser Ziel. Wer daran mitwirken
möchte, ist eingeladen. Ich glaube, dass wir die Phase des
Gegeneinanders überwinden müssen, wenn wir voran-
kommen wollen. Ich bin überzeugt, dass wir schon heute
Wolfgang Clement, Bundesminister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Dezember 2002
Wolfgang Clement, Bundesminister
den Beweis dafür antreten können. Meine Bitte und mein
Angebot ist, dass dies geschieht. Aber wir werden das nur
tun können ,wenn wir ohne irgendein schuldhaftes Zögern
handeln. Es muss gelingen und es wird gelingen, dass wir
mit den Reformen am Arbeitsmarkt zum 1. Januar 2003
beginnen. Zeitverzug ist nicht möglich, Gespräche und
bessere Vorschläge allemal.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.