Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass
die Menschen, die uns bisher zugesehen haben, von die-
ser Debatte etwas anderes erwarten als das Schlagen von
Wahlkampfschlachten. Vielmehr möchten sie in Wahr-
heit eine Antwort haben, wie wir auf diese katastrophale
Situation reagieren.
Deswegen wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar, wenn
Sie in diesem Augenblick einfach einmal überlegen, ob es
der richtige Stil ist,
dass die Opposition bei der Regierungserklärung des deut-
schen Bundeskanzlers schweigend zuhört, gelegentlich
Beifall gibt, gelegentlich natürlich keinen Beifall gibt, aber
dass dann, wenn die andere Seite spricht – in diesem Fall
der bayerische Ministerpräsident oder jetzt meine Per-
son –, wir sofort in ein Sperrfeuer von Zwischenrufen lau-
fen. Wie nervös sind Sie, dass Sie das brauchen?
Ich denke, dass die Menschen, die uns jetzt zusehen,
vor allen Dingen wollen, dass wir uns mit den wirklichen
Problemen auseinander setzen,
dass wir in dieser Situation keine Wahlkampfschlacht
schlagen, sondern dass wir uns vor allen Dingen damit be-
schäftigen, wie die Folgen dieser Hochwasserkatastrophe
bekämpft werden können.
Die Solidarität mit den Betroffenen der Hochwasserka-
tastrophe ist aus meiner Sicht eine nationale Aufgabe. Nie-
mand will sich dieser Aufgabe entziehen. Es ist großartig,
wie viel Solidarität wir in dieser wirklich dramatischen
Zeit bei den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande
erlebt haben. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in Deutsch-
land eine funktionierende Bürgergesellschaft gibt.
Ich denke, dass auch niemand hier im Parlament die Auf-
gabe der Bekämpfung der Folgen dieser Hochwasser-
katastrophe infrage stellt. Niemand in diesem Parlament
will sich dieser Aufgabe entziehen.
Ich möchte vorab auch aus meiner Sicht, aus der Sicht
der Freien Demokraten, den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland für die unglaubliche Spendenbereitschaft
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundesminister Hans Eichel
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danken. Ich finde, dass dies unsere Anerkennung und un-
seren Respekt verdient und dass diese großartige Leistung
unserer Bürgerinnen und Bürger es nicht verdient hat, im
Wahlkampfgetümmel unterzugehen.
Ich möchte ausdrücklich denen danken, die mit heraus-
ragenden Leistungen beim Katastrophenschutz – bei der
Bundeswehr, bei der Polizei, bei der Feuerwehr – gewirkt
haben, den vielen technischen Helfern, den Freiwilligen,
denjenigen, die in karitativen Einrichtungen geholfen ha-
ben, und natürlich den vielen, vielen tausend Freiwilligen,
die, ohne in irgendeiner Organisation zu sein, spontan mit
angepackt haben. Sie alle sind Zeichen und Beleg für eine
Gesellschaft, auf die wir stolz sein können. Das ist, wie
ich hoffe, für die meisten in diesem Parlament wirklich
ein Augenblick gewesen, in dem wir uns ganz nahe bei-
einander gefühlt haben, auch wenn der Debattenverlauf
der letzten zwei Stunden gelegentlich einen anderen Ein-
druck erweckt haben mag.
Jetzt wollen wir uns mit der Frage, wie die Folgen dieser
Hochwasserkatastrophe beseitigt werden können, auseinan-
der setzen. Es geht jetzt darum, die Schäden zu beseitigen.
Es geht darum, Häuser, Gewerbe und Infrastruktur wieder
aufzubauen. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregie-
rung – und zwar mit Unterstützung der parlamentarischen
Opposition – einen Sonderfonds, einen Aufbaufonds,
bilden will, damit tatsächlich genügend Mittel zusammen-
kommen.
Meine Einschätzung ist, nachdem ich mir vor allen Din-
gen in Dresden die Folgen der Hochwasserkatastrophe an-
gesehen habe, dass die bisher diskutierten Zahlen eher zu
knapp als zu großzügig bemessen sein dürften. Wir alle
werden uns im Deutschen Bundestag noch mehrfach über
das unterhalten müssen, was beispielsweise im Hinblick
auf zerstörte Deichanlagen auf uns zukommt. Wir sehen
im Augenblick das, was an Infrastruktur, an Häusern und
an Betrieben zerstört worden ist. Die vielen versteckten
Schäden, beispielsweise von 100 Jahre alten Deichen, die
aufgeweicht sind und möglicherweise eine vollständige
Sanierung brauchen, kennen wir noch nicht.
Wir müssen uns darauf einstellen und vor allen Dingen
müssen wir uns dafür wappnen. Deswegen sind wir Freien
Demokraten der Meinung: Es ist ein Fehler, wenn jetzt in
dieser Situation das eine Unglück der Hochwasserkatastro-
phe durch ein anderes Unglück, nämlich durch Steuererhö-
hungen zugunsten von mehr Arbeitslosigkeit, bekämpft
werden soll.
Das Einzige, was diese Steuererhöhungspolitik bewirken
wird, ist, dass das Wirtschaftswachstum tatsächlich redu-
ziert wird.
Das Ergebnis ist: weniger Wirtschaftswachstum und mehr
Arbeitslosigkeit durch Steuererhöhungen.
Gerade die Menschen in den von Hochwasser be-
troffenen Regionen brauchen zwar sofort Hilfe, aber sie
brauchen auch neue Chancen und Perspektiven durch
Wirtschaftswachstum und dadurch, dass neue Beschäfti-
gungschancen entstehen. Wer das Hochwasser und seine
Folgen durch Steuererhöhungen bekämpfen will, vergisst,
dass man damit den Betroffenen, den Opfern in der Re-
gion, Steine statt Brot gibt.
Die Antwort lautet: Wirtschaftswachstum, Arbeits-
plätze und Chancen für Existenzgründer, für Menschen,
die sich selbstständig machen wollen und jetzt eine
enorme Portion von geradezu trotzigem Optimismus zei-
gen. Das sind die Menschen, die etwas anpacken und wie-
der etwas schaffen wollen. Denen dürfen nicht durch
Steuererhöhungen Knüppel zwischen die Beine geworfen
werden. Darin unterscheiden wir uns in den politischen
Konzepten eindeutig.
Es ist aus unserer Sicht notwendig, noch einmal über
die Zahlen zu sprechen. Deutschland hat mittlerweile das
niedrigste Wirtschaftswachstum in ganz Europa.
Wir hatten ein Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent im
ersten Quartal und von 0,3 Prozent im zweiten Quartal.
Arbeitsplätze entstehen aber erst mit einem Wirtschafts-
wachstum ab etwa 1,5 Prozent. Jedes Prozent Wirt-
schaftswachstum, das – zum Beispiel durch eine Steuer-
senkungspolitik – erzielt wird, bringt 7 Milliarden Euro
Staatseinnahmen.
Sie meinen, Sie könnten die Haushaltslöcher schlie-
ßen, indem Sie die Steuern erhöhen. Wir aber meinen, wir
erreichen nur dann gesunde Staatsfinanzen, wenn die
Steuern gesenkt werden, wenn investiert wird, Wirt-
schaftswachstum stattfindet und die Menschen wieder
Arbeit und Ausbildung haben.
Das ist ein fundamentaler Unterschied in den politischen
Ansätzen.
Natürlich stellt es eine Steuererhöhung dar, wenn bei-
spielsweise eine bereits im Bundesgesetzblatt zugunsten
des Mittelstandes beschlossene Steuersenkung verscho-
ben wird.
Es ist im Übrigen nicht richtig, Herr Minister Eichel,
dass das, was eigentlich zum 1. Januar 2003 in Kraft tre-
ten sollte, seitens der Freien Demokraten – um an dieser
Stelle für die liberale Opposition zu sprechen – blockiert
oder abgelehnt worden ist. Ich erinnere mich an viele
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Dr. Guido Westerwelle
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Gespräche, die ich selbst mit Ihnen und dem Bundeskanz-
ler geführt habe. Unser Landesvorsitzender von Rhein-
land-Pfalz, Rainer Brüderle, hat Ihnen im Bundesrat mit
unserer parteipolitischen Unterstützung nur deshalb grü-
nes Licht gegeben, weil eben jetzt auch Entlastungen des
Mittelstands in Kraft treten sollten.
Sie nehmen dem Mittelstand Chancen. Das kostet Arbeit
und Ausbildung und stellt faktisch eine Steuererhöhung
dar, auch wenn Sie das anders bezeichnen wollen.
Ich meine, dass es auf der anderen Seite auch kein klu-
ger Vorschlag ist, die Schulden zu erhöhen. Das ist mei-
ner Meinung nach genauso falsch. Das sind zwei falsche
Wege, die vorgeschlagen werden.
Denn wenn jetzt die Schulden erhöht werden, dann be-
deutet das lediglich, dass unsere Währung, der Euro, wei-
cher wird. Das können wir nicht wollen. Deshalb haben
wir als Deutsche schließlich die Stabilitätskriterien in
Europa durchgesetzt. Es bedeutet aber in der Tat auch,
dass zulasten der jungen Generation das finanziert werden
soll, was jetzt aus unserer volkswirtschaftlichen Kraft
finanziert werden muss. Auch das ist nicht fair.
Wir haben deshalb einen anderen Vorschlag gemacht,
der Ihnen übrigens schriftlich vorliegt; deswegen sollten
Sie sich jetzt nicht so fragend umschauen. Jedem Abge-
ordneten liegt das Konzept der Freien Demokraten vor,
mit Vorschlägen dazu, wie beispielsweise dieser Betrag
durch Haushaltsumschichtungen erwirtschaftet werden
kann.
Wir erleben im Deutschen Bundestag in diesen Stun-
den vor allen Dingen, dass die eine Seite des Hauses an
höhere Steuern denkt, dass andere an eine Erhöhung der
Schulden denken, aber dass es mit Ausnahme von uns of-
fensichtlich niemanden gibt, der konkrete Einsparungs-
vorschlägemacht. Wir können bei einem Bundeshaushalt
in Höhe von 250 Milliarden Euro jährlich nicht bei jeder
Katastrophe, so schlimm sie auch sein mag, reflexartig
nach Steuererhöhungen rufen. Das ist der Grund für die
deutsche Krankheit. Das ist der Grund dafür, dass wir
beim Wirtschaftswachstum in Europa an letzter Stelle an-
gekommen sind.
Wir müssen diesen Weg verlassen. Wir brauchen einen
Politikwechsel. Darüber müsste hier an dieser Stelle dis-
kutiert werden.
Allein die Höhe der Subventionen beträgt in jedem
Jahr 55 Milliarden Euro. Es wurde bisher kein einziges
Wort darüber verloren, ob man nicht auch einmal an diese
Subventionen herangehen könne. Wir müssten darüber
hinaus über den Abbau von Bürokratie reden, über Pri-
vatisierungen – das ist ohnehin die wichtigste ordnungs-
politische Aufgabe – oder über Umschichtungen im Haus-
halt. Beide Seiten hier erwarten in Wahrheit, dass alle in
Deutschland sparen, mit Ausnahme der Politik und des
Staates. Das kann nicht in Ordnung sein.
Das ist der Grund dafür, dass die Arbeitslosigkeit weiter
steigt. Das werden wir in diesem Bundestag in jedem Fall
ablehnen. Dafür lassen wir uns nicht verhaften.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, aus
unserer Sicht eine Alternative vorzulegen.
Wir haben uns heute Morgen entschlossen, dieser Debatte
ruhig zu folgen und uns die Argumente der unterschied-
lichen Seiten anzuhören; denn ich glaube, dass sich ein
Parlament in solchen Situationen auch dadurch bewähren
muss, dass es einen entsprechenden kultivierten Stil zeigt.
Die Art aber, wie Sie auf unsere Beiträge reagieren, zeigt,
dass Sie die Herausforderung der Stunde wirklich nicht
begriffen haben. Bemühungen um Steuersenkungen, um
neue Arbeitsplätze, um mehr Wirtschaftswachstum sowie
das Zusammenstehen müssen das Gebot der Stunde sein
und nicht solche peinlichen Wahlkampfmanöver, die je-
der, der uns jetzt zusieht, einfach durchschauen kann.
Vielen Dank.