Rede von
Dr. h.c.
Wolfgang
Thierse
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Guten Tag, liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Sitzung habe ich gemäß Art. 39Abs. 3 des
Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der Ge-
schäftsordnung auf Verlangen der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen einberufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir mit unse-
rer Arbeit beginnen, darf ich Sie bitten, sich zu erheben.
In diesem Sommer hat eine Flutkatastrophe vornehm-
lich Sachsen und Sachsen-Anhalt, aber auch Bayern,
Brandenburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein sowie
unsere Nachbarstaaten Österreich und Tschechien heim-
gesucht, die unser aller Vorstellungskraft überstieg und
den Betroffenen Leid im schlimmsten Ausmaße brachte.
Straßen, Schienenwege und Brücken wurden zerstört, Orte
und Felder verwüstet. Viele Menschen bangen um ihre ma-
terielle Existenz. Schlimmer noch: In den Fluten kamen
mehr als 18 Menschen ums Leben; einige Menschen wer-
den noch vermisst. Ihrer wollen wir in besonderer Weise
gedenken. Ihren Angehörigen gilt unser tiefes Mitgefühl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute auch
eines plötzlich verstorbenen Kollegen zu gedenken. Tief
betroffen sind wir vom Tod unseres Kollegen Dietmar
Schlee, der am Samstag, dem 3. August 2002, verstorben
ist. Geboren am 31. März 1938 in Mengen im Kreis Sig-
maringen, blieb er seiner Heimat auch in seinem politi-
schen Engagement immer eng verbunden. So ließ sich
Dietmar Schlee nach dem Jurastudium in München und
Tübingen zunächst als Rechtsanwalt in Sigmaringen nie-
der, wo er auch seine politische Karriere begann. Seiner
Tätigkeit als Generalsekretär der CDU Baden-Württem-
berg folgte 1975 die als Landrat des Landkreises Sigma-
ringen. Bereits 1972 wurde er Mitglied des Landtages von
Baden-Württemberg, 1980 Minister für Arbeit, Gesund-
heit und Sozialordnung und 1984 Innenminister des Lan-
des. Dem Bundestag gehörte Dietmar Schlee seit 1994 an.
Von Juli 1997 bis November 1998 war er Beauftragter der
Bundesregierung für Flüchtlingsrückkehr und rückkehr-
begleitenden Wiederaufbau in Bosnien und Herzegowina.
Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Ehefrau und der Fa-
milie. Wir werden ihn in ehrender Erinnerung behalten.
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben; ich
danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für den verstorbenen
Kollegen Dietmar Schlee hat am 6. August 2002 der Ab-
geordnete Dr. Egon Jüttner die Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereits
aus früheren Wahlperioden bekannten Kollegen und wün-
sche gute Zusammenarbeit.
Sodann möchte ich einigen Kollegen, die in der Zwi-
schenzeit runde Geburtstage feierten, namens des Hauses
gratulieren. Es sind dies die Kollegen Ludwig Eich,
Karlheinz Guttmacher, Walter Link und
Otto Schily. Ferner feiert heute die Kollegin Cornelie
Sonntag-Wolgast ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere der
Kollegin und den Kollegen sehr herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart, die Tagesordnung um
die Beratung der Anträge der Fraktion der PDS zur Finan-
zierung der Hochwasserschäden auf den Drucksachen
14/9899, 14/9900, 14/9901 und 14/9902 zu erweitern und
als Zusatzpunkt mit Tagesordnungspunkt 1 aufzurufen:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Großunternehmen an der Bewäl-
tigung von Hochwasserschäden durch Körperschaftsteuer
auf Veräußerungsgewinne
– Drucksache 14/9899 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Kapitalgesellschaften an der Be-
wältigung von Hochwasserschäden durch Erhöhung der
Körperschaftsteuersätze
– Drucksache 14/9900 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
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251. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Beginn: 12.00 Uhr
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Bewältigung derFlutkatastrophe gerecht finanzieren – Ver-
mögensabgabe erheben
– Drucksache 14/9901 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Flutkatastrophe 2002: Den Opfern langfristig und wirksam
helfen – Rüstungsprojekte streichen
– Drucksache 14/9902 –
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 d sowie die
soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf:
1. a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundeskanzler
Den Opfern helfen – Gemeinsinn stärken:
Maßnahmen zur Bewältigung der Hochwasser-
katastrophe
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
steuerrechtlicher Vorschriften und zur Errichtung
– Drucksache 14/9894 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Schnelle Hilfe für die Flutopfer
– Drucksache 14/9905 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Aus-
gleich der von der Hochwasserkatastrophe im
August 2002 verursachten Eigentumsschäden
– Drucksache 14/9895 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP1a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Großunternehmen
an der Bewältigung von Hochwasserschäden
durch Körperschaftsteuer auf Veräußerungs-
gewinne
– Drucksache 14/9899 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Kapitalgesellschaften
an der Bewältigung von Hochwasserschäden
durch Erhöhung der Körperschaftsteuersätze
– Drucksache 14/9900 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Bewältigung der Flutkatastrophe gerecht finan-
zieren – Vermögensabgabe erheben
– Drucksache 14/9901 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Flutkatastrophe 2002: Den Opfern langfristig
und wirksam helfen – Rüstungsprojekte strei-
chen
– Drucksache 14/9902 –
Zur Regierungserklärung liegen Entschließungsan-
träge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen, der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die verheerende Hochwasserkatastrophe, die in den ver-
gangenen Wochen Sachsen, Sachsen-Anhalt, Branden-
burg und Mecklenburg-Vorpommern, aber eben auch
Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein heimge-
sucht hat, hinterlässt die schwersten Schäden, die unser
Land in seiner Nachkriegsgeschichte erlitten hat.
Trotz dieser schrecklichen Ereignisse haben wir Grund,
stolz und auch zuversichtlich zu sein; denn durch Deutsch-
land ist nicht nur eine katastrophale Flut gegangen, son-
dern auch eine unglaubliche Welle der Solidarität.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Präsident Wolfgang Thierse
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Man kann es überall spüren: Die Menschen packen zu.
Nachbarn helfen Nachbarn. Jeder tut das, was er kann.
Sehr viele haben großzügig gespendet – bis zum heutigen
Tag bereits mehr als 130 Millionen Euro.
Das zeigt, welche Hilfsbereitschaft und welcher Wille
zum Gemeinsinn in unserem Volk vorhanden sind. Nie-
mals zuvor hat es eine größere Spendenbereitschaft gege-
ben. Ich denke, dafür können wir allen Bürgerinnen und
Bürgern nur dankbar sein. Weil wir das Geld der Privat-
leute dringend benötigen, bitte ich darum, in der Unter-
stützung derer, die alles verloren haben, nicht nachzu-
lassen. Das Geld ist willkommen und wird dringend
gebraucht.
Meine Damen und Herren, überall, wo ich gewesen
bin, ob in Grimma oder in Dresden, habe ich Mut, Ent-
schlossenheit und die Hoffnung erlebt, die aus der ge-
meinsamen Erfahrung mit der Katastrophe erwachsen ist:
Gemeinsam schaffen wir das, gemeinsam werden wir mit
den Folgen fertig.
Diese Jahrhundertflut hat all diejenigen eines Besseren
belehrt, die gelegentlich geschrieben haben, zwischen Ost
und West stünde immer noch eine Mauer in den Köpfen
und gelegentlich auch in den Herzen. Was wir in diesen
Tagen erlebt haben, ist etwas ganz anderes: Aus der deut-
schen Einheit ist die Einheit der Deutschen geworden, und
zwar im Kopf und in den Herzen.
Dafür muss und kann man den Menschen nur danken.
Man darf auf die Menschen und die Leistungen, die sie er-
bracht haben, stolz sein.
Damit meine ich nicht nur die weit mehr als 50 000 ein-
gesetzten Helferinnen und Helfer des Bundesgrenz-
schutzes, des Technischen Hilfswerks und der Bundes-
wehr, die wirklich bis zur Erschöpfung gegen die Fluten
gekämpft und den bedrohten Menschen beigestanden ha-
ben. In diesen schweren Tagen haben viele Menschen
ganz praktisch erlebt, was der Begriff „Bürger in Uni-
form“ wirklich meint und wie sehr er bereits inhaltlich
ausgefüllt ist.
Mehr als 20 000 Soldatinnen und Soldaten der Bun-
deswehr haben gemeinsam mit französischen, polnischen
und amerikanischen Kameraden auch in schwierigsten Si-
tuationen umsichtig gehandelt und damit den Menschen
Sicherheit und Vertrauen gegeben. Ohne den unermüdli-
chen Einsatz von Technischem Hilfswerk, Bundesgrenz-
schutz, Bundeswehr, aber auch all der freiwilligen Helfer
in den Feuerwehren, der DLRG und etlicher anderer freier
Hilfsorganisationen wären die Schäden noch weit verhee-
render ausgefallen.
Ich sage jetzt für alle, die dort waren: Das musste man
sich anschauen. Es war nicht Neugier, sondern es war für
alle, die daran beteiligt waren und die politische Verant-
wortung tragen, die notwendige direkte Konfrontation mit
der Tragweite der Hochwasserkatastrophe und ihren Fol-
gen. Ich nehme für alle von uns in Anspruch: Man ent-
scheidet klarer und besser, wenn man sich vom Umfang
der Katastrophe ein eigenes Bild gemacht hat.
Es ist auch nötig, etwas zu den jungen Leuten in
Deutschland zu sagen, die gelegentlich als wenig ge-
meinschaftsfähig gescholten werden. Das ist ganz falsch,
wie sich gezeigt hat. Es mag sein, dass deren Vertrauen
und deren Bereitschaft zum Engagement in Großorgani-
sationen nicht mehr so ist, wie das früher selbstverständ-
lich war. Aber was wir hier mitten in der Katastrophe an
Bereitschaft insbesondere der deutschen Jugend, sich zu
engagieren, erlebt haben, war schon großartig.
Alle staatlichen Einsatzkräfte werden so lange vor Ort
bleiben, wie es erforderlich ist, um den Opfern zu helfen
und um beim Aufräumen und beim Wiederaufbau anzu-
packen. Ich sage es noch einmal: Den zahllosen freiwilli-
gen Helfern, die Sandsäcke geschleppt haben, die für Nah-
rungsmittel und Getränke gesorgt haben, auch denjenigen,
die bei den notwendigen Evakuierungen zugepackt haben,
kann man nur große Dankbarkeit und viel Respekt zollen.
Die Zivilgesellschaft, die hier deutlich geworden ist,
hat auch noch in Bereichen funktioniert, in denen wir in
anderen Situationen und anderen Ländern schon etwas
anderes gesehen haben. Es hat kaum Plünderungen oder
Ähnliches gegeben. Wo das doch der Fall gewesen ist, ist
das nicht nur von den Sicherheitskräften, sondern von den
Bürgerinnen und Bürgern selbst im Keim erstickt worden.
Das nenne ich Zivilcourage.
Es wäre schön, wenn sich aus diesem Gemeinsinn in der
Zukunft zur endgültigen Überwindung der Katastrophe
etwa zwischen Schulen, Kindertagesstätten und Sportver-
einen Partnerschaften entwickeln könnten. Das wäre eine
Verfestigung dieser wunderbaren Erfahrung, die wir haben
machen können.
Die Hochwasserkatastrophe hat auch auf sehr ein-
drucksvolle Weise gezeigt, dass wir Teil einer Völkerfa-
milie sind, die in Notzeiten durchaus zusammensteht. Auf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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dem Hochwassergipfel am 18. August, zu dem ich die
Regierungschefs aus Österreich, Tschechien und der
Slowakei sowie den Präsidenten der Europäischen Kom-
mission nach Berlin eingeladen hatte, sind ganz wichtige
und umfangreiche Hilfsmaßnahmen beschlossen worden,
Hilfsmaßnahmen, die uns in den Stand versetzen, sehr viel
mehr an Mitteln zu mobilisieren, als wir zur Verfügung
hätten, wenn es diesen Gipfel nicht gegeben hätte. Noch
mehr: Das eigentlich Entscheidende ist, dass uns die Mög-
lichkeit gegeben worden ist, in zwei ganz wichtigen Punk-
ten von bürokratischen Verfahren, die es ansonsten der
Vorschriften der Europäischen Union wegen gibt, abzu-
weichen:
Erstens. Wir können die Aufträge für Reparaturarbei-
ten freihändig vergeben. Das ist der Grund dafür – Bahn-
chef Mehdorn hat mir dies gesagt –, warum unverzüglich
Aufträge für 30 Millionen Euro erteilt worden sind und
noch in diesem Jahr für 300 Millionen Euro erteilt wer-
den. Ansonsten würde man wegen der langen Ausschrei-
bungsfristen nicht so schnell und damit natürlich auch
nicht so wirkungsvoll handeln können.
Zweitens. Es ist ganz einfach notwendig, dass das Bei-
hilfenregime der Europäischen Union, das in solchen
Situationen nur einmalige Beihilfen erlaubt, partiell
außer Kraft gesetzt wird und dass man das, was man beim
Start dieser Unternehmen machen durfte, erneut tun
kann. Denn im Grunde genommen ist das, wovor die be-
troffenen Gewerbebetriebe jetzt stehen, ein völliger
Neuanfang, weil all das, was bisher aufgebaut worden ist,
der Flut zum Opfer gefallen ist. Ich glaube, es hat sich ge-
zeigt, dass man gemeinschaftlich handeln kann. Es mag
den einen oder anderen geben, der noch etwas mehr er-
wartet hätte.
Ich habe im Übrigen mit der dänischen Präsidentschaft
vereinbart, dass die Außenminister auf ihrer Sitzung mor-
gen und übermorgen über die Frage der Einrichtung
eines Katastrophenfonds diskutieren. Die derzeitige Prä-
sidentschaft und alle anderen – ich habe diese Initiative
zusammen mit dem österreichischen Regierungschef ins
Leben gerufen – unterstützen das. Ich gehe davon aus,
dass das auch geschieht.
– Sie sehen, in solchen Fragen ist vieles möglich. Das
muss auch so sein.
Unterschiede bleiben trotzdem bestehen. Aber in Kata-
strophenfragen kann und muss man gemeinsam handeln.
Wir wollen verhindern, dass die Kandidatenländer in Be-
zug auf diesen Katastrophenfonds deutlich schlechter be-
handelt werden. Bei dem Übrigen, bei dem es um Geld für
definierte Gebiete geht, das nur Mitgliedstaaten zur Verfü-
gung steht, kann man die Situation nicht ändern. Aber was
diesen Katastrophenfonds angeht, wollen wir erreichen,
dass diejenigen, die wir bereits 2004 als wahlberechtigte
Mitglieder begrüßen wollen, nicht anders behandelt werden
als diejenigen, die Mitgliedstaaten sind.
Es war übrigens schön, zu erleben, dass Hilfsange-
bote – nicht jede Hilfe wurde in Anspruch genommen; das
hatte unterschiedliche Gründe – zum Beispiel aus Ägypten,
Bulgarien, Chile, Georgien, Kanada, Litauen, Polen, Russ-
land, der Ukraine und den Vereinigten Staaten von Amerika
kamen. Ganz viele haben angerufen, ihre Betroffenheit
über das, was sich bei uns abgespielt hat, ausgedrückt und
gesagt: Wann immer wir mit Material und mit Menschen
helfen können, das Angebot steht; ihr braucht es nur ab-
zurufen. Ich habe darauf geantwortet, dass mich diese in-
ternationale Solidarität sehr freut, insbesondere deswe-
gen, weil wir ein Land sind, das bei Spendenaufrufen im
Rahmen internationaler Hilfe immer tätig wird und das
sehr wohl – unsere Menschen sind es erst recht – zu Hil-
fen bei internationalen Katastrophenfällen bereit ist. Auch
wenn wir nicht jede Hilfe akzeptieren konnten und woll-
ten, war es schön und beglückend, diese Angebote entge-
gengebracht zu bekommen.
Meine Damen und Herren, wir alle haben uns persön-
lich – das war unsere Pflicht; ich unterstreiche das noch ein-
mal – einen Eindruck von den verheerenden Folgen ver-
schafft. Für diejenigen, die dies nur aus der Distanz erleben
konnten – Fernsehbilder schaffen Distanz; das kann man gar
nicht bestreiten –, seien noch einmal die nackten Zahlen ge-
nannt: Überschwemmungen auf 800 Flusskilometern von
Elbe, Donau und Mulde; Katastrophenalarm in 49 Land-
kreisen und kreisfreien Städten; 180 000 beschädigte oder
unbewohnbar gewordene Häuser und Wohnungen; Zer-
störung von 740 Kilometern Straße und etwa 18 Brücken
allein in Sachsen.
Aber all diese Zahlen können nicht annähernd zum
Ausdruck bringen, was an Elend über die betroffenen Ge-
biete gekommen ist. Wie gesagt, auch die Bilder, die wir
alle im Fernsehen gesehen haben, schaffen Distanz. Wer
gesehen hat, wie idyllische Bäche zu reißenden Strömen
wurden, wie in mühevoller Aufbauarbeit restaurierte Alt-
städte in Grimma, Torgau oder Zinnwald buchstäblich
hinweggespült wurden, wer gesehen hat, was die Fluten
in malerischen Orten des Erzgebirges, aber auch an den
einzigartigen Kulturschätzen – etwa Dresdens – ange-
richtet haben, der wird sich klar machen müssen, dass wir
noch etliche Zeit brauchen, um all das in Ordnung zu brin-
gen, was die Flut den Menschen an Wunden geschlagen
hat. Es war gut, mit den Menschen in den Überschwem-
mungsgebieten zu sprechen. Auch das war eine Pflicht
und die ganz normale Tätigkeit aller Abgeordneten,
gleichgültig, welcher Partei sie angehören.
Natürlich musste unverzüglich geholfen werden. Deswe-
gen sind wir sehr stolz darauf, dass es uns gelungen ist, be-
reits am 16. August die ersten Mittel aus der Soforthilfe
in den betroffenen Landkreisen auszahlen zu lassen. Das
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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war eine erste, direkte Hilfe in Höhe von mehr als 50 Mil-
lionen Euro. Allein die Hilfe für die Opfer muss jetzt im
Vordergrund stehen.
Wir sollten auch sehen, dass es inzwischen an sehr vie-
len Orten gelungen ist, die Legende zu widerlegen, nach
der Bürokratie nur langsam agieren kann. Dass das Ge-
genteil sehr wohl der Fall sein kann, das hat sich dort be-
wiesen. Auch wenn es an der einen oder anderen Stelle ge-
klemmt haben mag und noch klemmt, glaube ich, dass die
Bereitschaft der Behörden auf allen Ebenen riesig groß ist,
entsprechend zu agieren, nach dem Grundsatz: Wer
schnell hilft, der hilft doppelt.
Wir werden das Gesetzgebungsverfahren zur Flut-
hilfe so zügig wie möglich und so sorgfältig wie nötig
durchführen. So, wie in den betroffenen Häusern und Be-
trieben zunächst die Wände trocknen müssen, bevor man
neue Farbe auftragen kann, muss jetzt rasch, aber auch
gründlich die Voraussetzung geschaffen werden, damit
der Fonds zur Aufbauhilfe der Erfolg wird, den die be-
troffenen Menschen dringend brauchen und auf den sie ei-
nen Anspruch haben. Die Schaffung eines solchen Fonds
ist unsere Pflicht.
In Verbindung mit dem Zwölfpunkteprogramm zur
Soforthilfe, das die Bundesregierung unverzüglich ver-
abschiedet hat, legen wir dafür heute einen umfassenden
und durchgerechneten Vorschlag vor, für den ich das
Hohe Haus um seine Zustimmung bitte. Dabei ist eines
wichtig: Die Hilfe, die wir leisten, muss kalkulierbar sein,
sie muss ohne Umwege bei den Betroffenen ankommen
und sie muss und sie wird immer auch Hilfe zur Selbst-
hilfe sein müssen. Mit ihrem vorbildlichen Engagement
während der Katastrophe haben die Menschen gezeigt,
dass sie die Kraft zum Gemeinsinn, zur Nachbarschafts-
und zur Selbsthilfe durchaus haben. Das müssen wir mit
dem Programm, das wir vorgelegt haben, unterstützen.
Wir alle wissen aus Erfahrung – es ist nötig, das in die-
sem Zusammenhang zu betonen –, dass schnelle, effizi-
ente und auch großzügige Hilfe, die wir leisten müssen,
manchen Streit im Einzelfall oder besondere Härten bei
der Verteilung der Mittel nicht ganz wird verhindern kön-
nen. Das heißt, es wird diesen Streit geben. Darauf muss
man sich einstellen. Deswegen brauchen wir ein Gre-
mium aus Persönlichkeiten, das über solche Fragen der
Gerechtigkeit, auch der Härten, die auftauchen mögen,
zu entscheiden hat und das der Bundesregierung für ihre
Entscheidungen entsprechende Anregungen gibt. Ich
freue mich deshalb, dass Altbundespräsident Richard von
Weizsäcker mir gegenüber spontan seine Bereitschaft er-
klärt hat, den Vorsitz eines solchen Kuratoriums Flut-
hilfe zu übernehmen.
Über die weitere Zusammensetzung dieses Gremiums,
das aus Persönlichkeiten bestehen wird, die in der politi-
schen Arbeit nicht mehr aktiv sind, werde ich mich mit
Herrn Richard von Weizsäcker verständigen und dann
werde ich die entsprechenden Vorschläge machen.
In einigen Regionen ist der Aufbau Ost durch das
Hochwasser um Jahre zurückgeworfen worden. An man-
chen Orten muss wieder ganz von vorn begonnen werden.
Die Menschen im Osten, die mit großem Fleiß den Auf-
bau ihrer Städte und Regionen geleistet haben, sind ohne
eigenes Verschulden durch die Wucht der Naturgewalten
praktisch über Nacht um die Früchte ihrer Arbeit gebracht
worden. Die Betroffenen können sicher sein: Die Bun-
desregierung lässt die Menschen nicht allein. Sie setzt da-
bei auf eine gemeinsame – ich betone: gemeinsame – na-
tionale Anstrengung, an der sich Bund, Länder und
Gemeinden beteiligen müssen. Das sage ich mit Bezug
auf die aktuelle Diskussion. Bei allen Forderungen, die
wir an die jeweiligen politischen Ebenen richten, sollten
wir aufpassen, dass sich die Versicherungen und Banken,
die ebenso gefordert sind, nicht dahinter verstecken.
In der politischen Diskussion ist klar geworden, dass
wir eine bestimmte Form der Finanzierung vorschlagen:
Wir wollen die Aufbauleistungen nicht auf Pump finan-
zieren und sie damit nachkommenden Generationen auf
die Schultern legen.
Wir glauben an die Kraft unserer Volkswirtschaft und an
die Bereitschaft der Menschen in Deutschland zur Solida-
rität. Die Schäden, die in dieser Generation entstanden
sind, können durch die Arbeit dieser Generation ausgegli-
chen werden. Sie dürfen nicht unseren Kindern und Kin-
deskindern auf die Schultern gepackt werden.
Nichts anderes wäre es, würde man dem Vorschlag fol-
gen, die Bundesbankgewinne, die zur Schuldentilgung
eingesetzt werden, zu verwenden. Das hieße, das Problem
zu verschieben.
Das können wir aus der Einsicht heraus und aufgrund von
internationalen Verpflichtungen nicht tun.
Durch die Verschiebung der zweiten Stufe der Steuer-
reform, die wir Ihnen heute vorschlagen, verteilen wir die
Lasten fair und sozial ausgewogen. Der Fonds wird vom
Bund, von den Ländern und von allen Gemeinden gespeist.
Jeder Steuerzahler wird entsprechend seinem Einkommen
und seiner Leistungsfähigkeit seinen Beitrag leisten. Wer
mehr verdient, kann bei der Aufbauhilfe auch mehr schul-
tern. Das ist gerecht und deshalb wird es so gemacht.
Zudem nehmen wir das Angebot der Industrieverbände
an und erhöhen die Körperschaftsteuer – befristet für ein
Jahr – um 1,5 Prozentpunkte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Ich gestehe, dass ich über dieses Angebot durchaus über-
rascht war. Dass ich es aber gern angenommen habe, kön-
nen Sie sicher nachvollziehen.
Im Bundeshaushalt mobilisieren wir weiter 1 Milliarde
Euro durch Umschichtungen im Etat des Bundesverkehrs-
ministeriums. Zudem wollen wir 1,2 Milliarden Euro aus
der Effizienzreserve des EU-Strukturfonds in Anspruch
nehmen. Ich habe Nachrichten gelesen, nach denen das
Geld freigegeben ist. Auf diese Weise können wir Aufbau-
hilfe in einem Gesamtumfang von etwa 10 Milliarden
Euro zur Verfügung stellen, und zwar ohne unsere inter-
national eingegangenen Verpflichtungen zu verletzen.
Wie Sie wissen, stehen wir mit unserem Finanzierungs-
modell nicht allein. Andere Regierungen gehen in ähn-
licher Weise vor.
Wer sich ansieht, wie wir die Mittel einsetzen, der wird
zustimmen müssen, dass unser Vorschlag nicht gegen die
konjunkturelle Entwicklung gerichtet ist.
Ich verstehe, dass diese Debatte aus taktischen Gründen
geführt wird. Sie wird mit dem Hinweis geführt, dem
Konsum würden für ein Jahr 7 Milliarden Euro entzogen.
Das ist zunächst einmal eine richtige Feststellung. Aber
wenn man die konjunkturellen Wirkungen, die diese
7 Milliarden, wie man glaubt, hätten, mit den Wirkungen
der 7 Milliarden und mehr vergleichen will, die jetzt di-
rekt in Investitionen zum Wiederaufbau fließen, muss
man zumindest die Sparquote abziehen; erst dann kann
man errechnen, was das eine und was das andere Vor-
gehen leistet.
Dann wird auch deutlich werden, dass unser Vorgehen
konjunkturell hilfreich ist.
Sie wissen, dass wir geschädigten Unternehmen und
Freiberuflern mit einem ersten Zuschuss für verlorene
Wirtschaftsgüter in Höhe von bis zu 15 000 Euro helfen.
Damit wollen wir den Betroffenen Mut machen, neu zu
beginnen. Wir wissen – das muss man uns doch nicht er-
zählen –, dass das nur ein Anfang ist. Es ist aber ein wich-
tiger Anfang. Wir haben das im Übrigen mit den zuständi-
gen Handwerks- und Industrie- und Handelskammern
vereinbart, und zwar in Anwesenheit von Vertretern ihrer
Spitzenorganisationen. Wir haben mit der Kreditwirtschaft
vereinbart, dass Zins- und Tilgungsleistungen ausgesetzt
werden. Das ist ganz enorm wichtig; da darf sich niemand
von denen, die aufgerufen sind, diese Leistungen zu er-
bringen, vom Acker machen. Mittelständischen Unterneh-
men mit erheblichen Kreditlasten helfen wir mit dem Er-
lass eines Teils oder der Gesamtsumme ihrer Schulden.
Die Wiederherstellung wirtschaftsnaher Infrastruk-
tur und gewerbliche Investitionen fördern wir mit zusätz-
lich 170 Millionen Euro. Bei der Verkehrsinfrastruktur
stellt der Bund etwa 1 Milliarde Euro aus dem Aufbau-
fonds und eine weitere Milliarde durch Umschichtung im
Etat des Bundesverkehrsministeriums zur Verfügung.
Über die Aufteilung muss man übrigens wirklich mit
den betroffenen Ländern reden; das tun wir auch. Es ist
wenig hilfreich, wenn man die Solidarität unter den Län-
dern dadurch infrage stellt, dass der eine oder andere bei
der Frage der Verteilung – ich sage es sehr zurückhaltend –
sehr auf sich selber und weniger auf die Gesamtheit der
Länder achtet.
Wir werden den Kommunen 1Milliarde Euro zur Ver-
fügung stellen, damit sie ihre Infrastruktur in Ordnung
bringen können. Für die geschädigte Landwirtschaft, die
ländliche Infrastruktur und die Erneuerung der Deiche
werden wir allein 600 Millionen Euro einsetzen. Hinzu
kommen insgesamt 516 Millionen Euro als vorgezogene
Auszahlung von Prämien und weitere 100Millionen Euro
durch ein Sonderkreditprogramm der Landwirtschafts-
banken.
Wer sich diese Hilfen und Investitionen vergegenwär-
tigt und einigermaßen aufrichtig darüber nachdenkt, der
kann nicht darüber hinwegsehen, dass dieses Programm
bei all dem Elend, das wir erlebt haben und mit dem wir
fertig werden müssen, in den betroffenen Bereichen auch
neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen könnte. Dass
das nicht im Vordergrund steht, ist wohl jedem klar. Aber
die Wirkungen sind so, wie ich sie beschrieben habe.
Meine Damen und Herren, ebenso wichtig wie die
Fürsorge für die Opfer des Hochwassers ist uns, der Bun-
desregierung, die Vorsorge. Wir brauchen – dieses Ziel
verfolgen wir seit Amtsantritt – einen vorbeugenden
Hochwasserschutz, der sich nicht nur auf den Bau und den
Ausbau von Deichen und Dämmen beschränkt. Keine
Frage: Solche Schutzmaßnahmen sind wichtig. Aber
selbst wenn wir das ganze Land eindeichen, bleibt es da-
bei: Elbe, Donau und andere Flüsse sind eben nicht nur
Wasserstraßen, sondern Teile der Natur.
Das haben wir alle miteinander, die einen mehr, die ande-
ren weniger, gelegentlich diskutiert. Das ist so gewesen;
warum soll man das dann nicht auch sagen? In Dresden
beispielsweise war sichtbar – Herr Ministerpräsident, wir
haben darüber geredet –, dass sich die Weißeritz ein Fluss-
bett zurückerobert hatte, aus dem sie vor 100 Jahren
gleichsam vertrieben worden ist. Solche Ereignisse müs-
sen dann doch Nachdenklichkeit auslösen.
Die Konsequenz ist: Wir werden, was die flussnahen
Gebiete angeht, nicht nur umdenken, sondern auch anders
handeln müssen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Ich bin mit dem Bundesverkehrsminister völlig einig,
dass das zuerst für die Elbe gilt. Wir müssen Schluss ma-
chen mit der weiteren Versiegelung von Landschaften und
erst recht mit der weiteren Begradigung von Flussläufen.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion
möchte ich einen anderen Bereich ansprechen, der aber
ebenfalls mit Vorsorge zu tun hat: Wir sollten auch beden-
ken, dass die nachhaltige Bewirtschaftung der Äcker
und Felder bessere Möglichkeiten bietet, Wasser ab-
sickern zu lassen, als die intensive Bewirtschaftung von
Flächen.
Darauf zielt die von uns eingeleitete Agrarwende ab.
Auch wenn ein Zusammenhang zwischen dem welt-
weiten Klimawandel und den Naturkatastrophen dieses
Sommers noch immer bestritten wird, jedenfalls von eini-
gen besonders spitzfindigen so genannten Experten, und
auch von dem einen oder anderen in der politischen Arena
noch geleugnet wird, muss doch eines klar sein: Es gibt
einen solchen Zusammenhang, wie dicht dieser auch im-
mer sein mag. Deswegen braucht es eine Politik, die öko-
nomische Gesichtspunkte mit ökologischer Sensibilität in
Einklang bringt. Das war die Grundlinie der Politik der
rot-grünen Koalition in den letzten vier Jahren.
Auch wenn das inzwischen nicht mehr ganz so deutlich
gesagt wird: Eine Abschaffung der Ökosteuer oder auch
die Aussetzung der letzten Stufe ist nicht die richtige Ant-
wort auf das, was vor uns steht.
Damit will ich aber im mittleren Teil dieses Hauses keine
neuen Hoffnungen wecken; damit das zwischen uns ganz
klar ist.
Wir haben den notwendigen Ausgleich zwischen Ökono-
mie einerseits und Ökologie andererseits hinbekommen.
Ich bin durchaus stolz darauf.
Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass wir
wirklich viel erreicht haben, was die Frage der CO2-Min-derung angeht. Wenn ich „wir“ sage, dann meine ich
diese Koalition. Wir hatten das Ziel, den CO2-Ausstoß bis2012 um 21 Prozent zu mindern. Eine Reduktion um
19 Prozent haben wir bereits jetzt erreicht. Diese ver-
nünftige Politik sollte man nicht beenden.
Die Themen, die hier immer heiß umstritten waren und
von einer Seite des Hauses immer scharf bekämpft und
abgelehnt worden sind, sei es die Kraft-Wärme-Kopp-
lung, sei es die Förderung der regenerativen Energien und
Energieträger, müssen weiter angegangen werden. Das
lehrt die Katastrophe.
Mit Einseitigkeit, ohne ein nachhaltiges und ganzheitli-
ches Verständnis für ökonomische und ökologische Ent-
wicklung, werden wir die Probleme, vor die wir gestellt
worden sind, in der Perspektive nicht oder jedenfalls nur
schlecht in den Griff bekommen.
Wir werden das, was wir hier tun, auch auf dem Gipfel
am nächsten Montag in Johannesburg vertreten, und zwar
deutlich. Meine Hoffnung ist, dass sich der eine oder an-
dere unserer Freunde in der westlichen Welt – insbeson-
dere der eine –
vielleicht doch noch davon überzeugen lässt – das gilt für
viele in der Welt –, dass die Ratifizierung des Kioto-Pro-
tokolls zwar nicht die Probleme, vor denen wir stehen, auf
einen Schlag lösen kann, aber ein wichtiger Beitrag und
ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer Lösung ist.
Die gute Nachricht der letzten Tage ist, dass die Pegel-
stände der Flüsse nunmehr überall zurückgehen. Eine
mindestens ebenso gute Nachricht ist, dass wir in den ver-
gangenen Wochen eine außergewöhnliche Demonstration
des Gemeinsinns erlebt haben, eine Demonstration, die
in diesem Ausmaß und in dieser Tiefe vielleicht doch viele
im Land überrascht hat.
Sie zeigt: Die überwältigende Mehrheit der Bürge-
rinnen und Bürger ist zu Opfern bereit, um den Opfern der
Katastrophe zu helfen. Dieses Zusammenstehen in der
Not ist für mich die Wiedergeburt oder das Neu-Ent-
decken einer wirklich zivilen Gesellschaft, in der Solida-
rität kein Fremdwort ist und in der es eben nicht stimmt,
dass der Zusammenhalt einer Gesellschaft dann am bes-
ten gesichert ist, wenn jeder für sich selbst sorgt und jeder
nur an sein eigenes Glück glaubt.
Der Gemeinsinn, der hier deutlich geworden ist, ist ein
Schatz, den wir zu hüten und zu mehren haben. Dieser
Schatz an Gemeinsinn ist unbezahlbar. Denn er macht das
Land gerade in Krisen stark und er macht damit uns und
die Menschen im Land fähig, nicht nur Krisen und Kata-
strophen zu bewältigen, sondern auch die anderen Pro-
bleme zu lösen.
Die Bundesregierung hat mit schneller und effizienter
Soforthilfe sowie mit dem umfassenden Hilfs- und Auf-
bauprogramm, das wir Ihnen heute vorlegen und zu dem
wir um Ihre Zustimmung bitten, die Bereitschaft zur Soli-
darität bei den Menschen nicht etwa geweckt. Sie war
schon vorhanden. Wir haben sie vielmehr aufgegriffen
und ihr einen angemessenen Rahmen gegeben. Ich denke,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 251. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. August 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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der Deutsche Bundestag – da bin ich ganz sicher – wird
hinter diesem Willen und dieser ausgedrückten Kraft zum
Gemeinsinn nicht zurückstehen und deswegen alles tun,
damit wir die materielle Basis dafür bekommen, um den
Opfern schnell, unbürokratisch und durchgreifend helfen
zu können. Darum geht es.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.