Rede von
Horst
Seehofer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Wo-
che hat Der Spiegel eine Umfrage veröffentlicht. Da-
nach sind 68 Prozent der Deutschen mit der aktuellen
Gesundheitspolitik unzufrieden.
Das war keine Umfrage über meine Amtszeit. Aber ich
darf Ihnen sagen, Frau Göring-Eckardt: Das ist der
schlechteste Wert, der jemals bei einer Befragung zur Ge-
sundheitspolitik herausgekommen ist. Kein anderer Poli-
tikbereich wird von der Bevölkerung schlechter bewertet
als die Gesundheitspolitik dieser Regierung.
Diese miserable Bewertung hat einen Namen und ei-
nen Grund: Ulla Schmidt mit einer chaotischen Gesund-
heitspolitik, bei der niemand mehr weiß, wohin die Reise
geht.
Frau Schmidt, Sie nennen immer wieder den Beitrags-
satz von 13,6 Prozent, den Sie übernommen haben. Ich
will mich gar nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass
in den 90er-Jahren die Gesundheitspolitik größtenteils ge-
meinsam von SPD, CDU/CSU und FDP gemacht wurde.
Aber ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Die
13,6 Prozent Beitragssatz, die Sie 1998 übernommen ha-
ben, können Sie nur halten, erstens, indem Sie Millionen
Menschen in Deutschland, die einer geringfügigen Be-
schäftigung nachgehen, mit einer Sozialversicherungs-
pflicht belegt haben und somit bei kleinen Verdienstver-
hältnissen abkassieren; zweitens, indem Sie durch Ihre
Budgetierung dazu beitragen, dass Millionen kranke
Menschen in Deutschland die notwendige Versorgung
nicht mehr bekommen;
drittens, indem Sie ein riesiges Defizit vor sich herschie-
ben.
Es ist eine einfache Politik: Der Beitragssatz wird sta-
bil gehalten, indem ich nicht die Krankenversicherungs-
beiträge belaste, sondern die Menschen mit einer gering-
fügigen Beschäftigung, mit 630-DM-Jobs, zu einem
Beitrag zwinge, indem ich über die Budgetierung Leis-
tungen ausgrenze und außerdem ein riesiges Defizit an-
häufe. Das ist keine politische Kunst. Deshalb kam es zu
dieser schlechten Bewertung.
Jetzt möchte ich Ihnen sagen, wie ich zu meinem Ur-
teil gekommen bin, Ihre Gesundheitspolitik sei chaotisch.
Ich möchte meine Kritik nur an einem Punkt festmachen,
weil er symptomatisch für alle anderen Bereiche ist. Man
könnte beispielsweise auch über den Medikamentenpass
reden, aber ich bleibe bei dem Punkt, den Sie in den
nächsten Monaten offensichtlich in den Mittelpunkt Ihrer
Gesundheitspolitik stellen werden, nämlich die Medika-
mentenversorgung in Deutschland.
Sie haben am 6. März dieses Jahres vor der Bundes-
pressekonferenz Folgendes gesagt:
Es gibt bisher keinen Hinweis auf den Anstieg der
Arzneimittelausgaben seit Anfang 2001. Eher das
Gegenteil ist zu erwarten wegen der Verhandlungen
mit den Kassenärztlichen Vereinigungen.
So Ulla Schmidt im März dieses Jahres! Dann kam der
September. Im September mussten wir registrieren: Die
Arzneimittelausgaben waren um 11 Prozent gestiegen.
Siehe da: Nach der Verlautbarung des Ministeriums Sie
haben das vor der Presse wiederholt begründen Sie den
Arzneimittelanstieg, den Sie noch im März verneint ha-
ben, als Sie das Gegenteil angekündigt haben, wie folgt:
Der nunmehr im 1. Halbjahr 2001 registrierte An-
stieg der Ausgaben in Höhe von 11 Prozent hängt
auch zusammen mit einem erheblichen Zuwachs der
Arzneimittelausgaben für die Verordnung von Arz-
neimitteln zur Behandlung von schwerwiegenden
und lebensbedrohlichen Erkrankungen. So sind ins-
besondere die Ausgaben für die Krebsmedikation
und die Aids-Therapie deutlich angestiegen. In die-
sen Therapiebereichen hat es in letzter Zeit wichtige
Innovationen gegeben. Weiterhin ist zu beachten,
dass die zur Verfügung stehenden Rationalisierungs-
potenziale, zum Beispiel bei den umstrittenen Arz-
neimitteln, zunehmend an Grenzen stoßen.
Das war die Begründung, die im September dieses Jah-
res gegeben wurde.
Vorgestern sagt die gleiche Ministerin: Stopp, weder
die erste Prognose, es gebe keinen Anstieg, noch die Be-
gründung für den Anstieg er betreffe nur schwere Er-
krankungen stimmt. Jetzt sagen Sie, die Pharmaindus-
trie habe sehr gut verdient und deswegen müssten wir sie
nun zur Verantwortung ziehen.
Innerhalb von wenigen Monaten wird eine dreifache Pro-
gnose und Begründung zum gleichen Sachverhalt abge-
geben.
Frau Ministerin, Ihr Wort ist ein Muster ohne Wert. Sie be-
treiben eine chaotische Gesundheitspolitik.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 200118476
Ich kann Sie nur dringend davor warnen es wird eine
gewaltige Auseinandersetzung geben , Ihren Vorschlag
weiter zu verfolgen, dem Arzt die Therapiefreiheit zu
nehmen, indem Sie ihn dazu verpflichten, nur eine Wirk-
stoffgruppe zu verschreiben, und der Apotheker dann das
billigste Arzneimittel aus der verordneten Wirkstoff-
gruppe abgeben muss.
Sie können nicht auf der einen Seite in schönen Schal-
meienklängen sagen, im Mittelpunkt steht der Patient, wir
legen höchsten Wert auf die Qualität, der Patient in
Deutschland soll das Beste bekommen, was für ihn zur
Verfügung steht,
während Sie auf der anderen ein Gesetzgebungsverfahren
mit dem Ziel einleiten, für die Menschen nur das billigste
Medikament zur Verfügung zu stellen.
Eine solche Politik halten wir für absolut falsch und wir
werden sie mit massiven Mitteln bekämpfen. Der erste
Grundsatz muss sein: Die Verantwortung für die Medika-
mententherapie gehört in die Hand des Arztes und darf
ihm nicht genommen werden.
Stellen Sie sich einmal vor, was diese Maßnahme in der
Praxis bei Lipobay bedeutet hätte. Ich garantiere Ihnen:
Bei Lipobay wären Sie die Erste gewesen, die gefragt
hätte, wer diesen Unsinn gemacht hat, und gefordert hätte,
das Medikament zurückzurufen. Wenn Sie Ihren Vor-
schlag der Arzt verordnet eine Wirkstoffgruppe und das
Arzneimittel wählt der Apotheker aus bereits umgesetzt
hätten, hätte das im Zusammenhang mit dem Arzneimit-
telskandal um Lipobay bedeutet ich nenne nur zwei Me-
dikamente : Es gibt das Medikament mit dem Namen Li-
previl. In der kleinsten Packung 50 Tabletten kostet es
112,04 DM. 50 Tabletten Lipobay zur gleichen Wirk-
stoffgruppe der Statine gehörend kosten nur 98,45 DM,
also rund 14 DM oder 10 Prozent weniger.
Hätten Sie Ihren Gesetzentwurf bereits umgesetzt ge-
habt, hätte das dazu geführt, dass unabhängig von der Be-
findlichkeit des Patienten, von seinem Blutbild und seinen
sonstigen Erkrankungen der Apotheker das billigere Arz-
neimittel abgegeben hätte.
Dann wäre aus dem Problem Lipobay eine Katastrophe in
Deutschland geworden.
Ich kann mir vorstellen, dass dagegengehalten wird,
der Arzt sei zu einem solchen Vorgehen nicht verpflichtet.
In welchem Land leben Sie eigentlich? Wenn Sie als Ge-
setzgeber den Arzt verpflichten, nur noch den Wirkstoff
festzuschreiben es sei denn, er wünscht ausdrücklich ein
anderes Medikament , dann müssen Sie doch wissen:
Entzieht sich der Arzt diesem gesetzlichen Auftrag und
weicht damit im Umfang der Verordnungen vom Durch-
schnitt seiner Kollegen ab, dann werden anschließend die
Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen
den Arzt, der sich sinnvoll verhält, einer Wirtschaftlich-
keitsprüfung unterziehen.
Dem werden sich die Ärzte entziehen. Deshalb kann
ich Sie nur dringend davor warnen, die Therapiefreiheit
des Arztes so massiv einzuschränken und die Verantwor-
tung für die Medikamententherapie in andere Hände zu
legen. In der Medikamententherapie wird es ein undurch-
schaubares Durcheinander geben und der nächste Arznei-
mittelskandal ist vorprogrammiert.
Frau Schmidt, wir werden Sie dann ganz persönlich
dafür verantwortlich machen;
denn Sie wissen so gut wie ich, dass es nicht alleine auf
die Wirkstoffgruppe ankommt. Für die Befindlichkeit
sind andere Umstände, zum Beispiel die Galenik verant-
wortlich. Auch in unserer Zeit mussten wir erleben, welch
gewaltige Auswirkungen bei kranken Menschen entste-
hen, die in ihrer Medikamententherapie umgestellt wer-
den. Die Betroffenen haben häufig nur gesehen, dass sie
anstelle einer weißen eine blaue Tablette bekommen. Da-
hinter stand die Bioverträglichkeit.
Diesen Umstand können Sie nicht außer Acht lassen, in-
dem Sie nur auf Wirkstoffe oder Wirkstoffgruppen abstel-
len.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Arzneimittelsicherheit und
die Verantwortung für die Verordnung müssen beim Arzt
bleiben. Das kann nicht geteilt werden.
Nun zu der Sicht der Apotheker ich übrigens würde
als Apotheker genauso handeln : Wenn nach wirtschaft-
lichen Gesichtspunkten auszuwählen ist, dann werden die
Zielfahnder der Pharmaunternehmen den Apotheker in ihr
Zielkreuz nehmen. Sie werden natürlich Rabatte anbieten.
Ich sage gar nicht, dass dies unanständig ist. Das ist ein
ganz normaler Prozess. Wenn Sie im Gesundheitsbereich
alleine auf die Betriebswirtschaft und auf das Geld ab-
stellen, dann werden Rabatte angeboten. Dann wird das
Medikament natürlich dort gekauft, wo die höchsten Ra-
batte gewährt werden. Das ist eine ganz normale Verhal-
tensweise.
Durch diese Maßnahme tragen Sie letzen Endes dazu
bei, dass der Patient bei der Medikamententherapie in der
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Horst Seehofer
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Zukunft nicht mit solchen Medikamenten behandelt wird,
die gut und nötig sind, sondern mit solchen, die so billig
wie möglich sind. In eine solche Situation wollen wir in
Deutschland nicht kommen.
Wir wollen in Deutschland nicht zu der Lösung kommen,
dass die Masse der Bevölkerung mit den billigsten Medi-
kamenten abgespeist wird und diejenigen, die privat zah-
len können, erste Sahne bekommen. Das haben wir vor
zehn Jahren gerade beseitigt.
Sie ökonomisieren die Medizin total. Die Medikamen-
tentherapie wird von A bis Z ökonomisiert. Das Patien-
teninteresse spielt keine Rolle mehr.
Dazu setzen Sie noch einen drauf: Sie bürokratisieren.
Ohnehin haben Sie jetzt schon wieder die unsinnige Posi-
tivliste eingeführt.
Man muss sich einmal Folgendes vorstellen: Ein Arznei-
mittel wird von einer staatlichen Behörde zugelassen.
Dann kommt Ihre Wissenschaftlergruppe mit der Positiv-
liste ins Spiel. Nun kommt noch das Sahnehäubchen an
Unsinn obendrauf:
Jetzt wird der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkas-
sen noch eine dritte Prüfung durchführen, ob mit dem
Medikament wirklich ein medizinischer Fortschritt ver-
bunden ist.
Jetzt kann es Ihnen passieren, dass ein Medikament,
das vom Staat zugelassen ist, in der Positivliste erscheint
und plötzlich vom Bundesausschuss Ärzte und Kran-
kenkassen für nicht verordnungsfähig erklärt wird. Sie
müssen mir einmal sagen, wie wir der Bevölkerung
draußen eine solche dreifache Zulassung mit jeweils un-
terschiedlichen Ergebnissen erklären sollen. Das ist
Bürokratie total.
Frau Schmidt, ich möchte Sie nur darauf hinweisen:
Sie können jede Richtgröße für die Wirtschaftlichkeit-
sprüfung der Ärzte vergessen, wenn Sie den Arzt bei der
Therapiehoheit nicht mehr in die Verantwortung nehmen.
Erst haben Sie die Budgetierung aufgehoben, ohne Richt-
größen einzuführen. Jetzt wollen Sie Richtgrößen mit ent-
sprechenden Gesetzen einführen und während Sie sie ein-
führen, schaffen Sie ihre Wirksamkeit dadurch wieder ab,
dass Sie dem Arzt die Verantwortung aus der Hand neh-
men. Das ist ein Schwachsinn ohnegleichen.
Frau Ministerin, eine letzte Bemerkung! Sie lächeln ja
gerne. Ich darf Ihnen sagen: Der Bevölkerung ist das La-
chen durch Ihre Gesundheitspolitik vergangen.
Ich muss auch sagen, dass wir Sie sehr nachsichtig und am
Anfang auch mit einem Stück Hoffnung begleitet haben.
Auch nach den Lipobay-Vorfällen im August haben wir
Sie noch mit Nachsicht behandelt, obwohl Ihr Staatsse-
kretär in der Öffentlichkeit eine hemmungslose Kampa-
gne gegen den Hersteller durchgeführt hat.
Wegen der Vorkommnisse in Amerika haben wir dies
nicht zu einem politischen Thema gemacht,
aber das sage ich Ihnen man hätte daraus sehr wohl ein
politisches Thema machen können.
Sie haben uns enttäuscht. Sie haben viele Menschen,
die Hoffnungen in Sie gesetzt haben, mit jedem Auftritt
auch heute wieder enttäuscht. Sie sind weit hinter un-
seren Erwartungen zurückgeblieben. Das hätte ich nicht
für möglich gehalten.
Sie sind jetzt insgesamt drei Jahre in der Verantwor-
tung. Sie können Ihre drei Jahre Gesundheitspolitik nicht
mehr mit den letzten 30 Jahren deutscher Gesundheitspo-
litik begründen. Auch Sie persönlich sind bereits lange
Zeit im Amt.
Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie weiter diesen falschen
Weg der staatlichen Intervention und der ständigen Re-
glementierungsspirale gehen, dann werden wir Sie per-
sönlich für das, was in der Praxis geschieht, mehr und
mehr zur Verantwortung ziehen.
Verzichten Sie auch auf Ihr Argument bezüglich der
Zuzahlung und der kleinen Leute. Meine Damen und
Herren, ich stehe zu der Erhöhung der Zuzahlung um
5 DM, weil die Bevölkerung in der Praxis erlebt hat, dass
eine Erhöhung der Zuzahlung, von der 20 Millionen Men-
schen, die ein geringes Einkommen haben, befreit sind,
sozialer ist als eine hundertprozentige Leistungsausgren-
zung, wie Sie sie bei der Behandlung von chronischen Er-
krankungen durchgeführt haben.
Sprechen Sie mit Marianne Koch, die die Schmerzkran-
ken und die Parkinsonkranken Deutschlands vertritt und
die vor kurzem mit diesen Kranken vor die Öffentlich-
keit trat. Sie steht bestimmt nicht in dem Verdacht, ein
Anwalt der Union zu sein. Sie hat der Öffentlichkeit mit-
geteilt, dass von den 600 000 Schmerzpatienten in
Deutschland nicht einmal 5 Prozent aufgrund der Arz-
neimittelbudgets und der Arzneimittelregresse eine adä-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Horst Seehofer
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quate Arzneimittelversorgung erhalten und dass nicht
einmal die Hälfte der Parkinsonpatienten wegen Ihrer
Budgets die notwendigen Leistungen von ihren Ärzten
erhält. Frau Schmidt, das ist die wahre Wirkung Ihrer
Politik und der Budgets. So etwas bewirken nicht 5 DM
mehr Zuzahlung.
Deshalb rufe ich Sie auf: Korrigieren Sie Ihren Kurs! An-
sonsten werden Sie mit uns in den nächsten Monaten noch
viel Freude haben. Sie werden auch noch schlechtere Um-
frageergebnisse erhalten, als sie heute schon in den
68 Prozent Unzufriedenheit mit Ihrer Politik zum Aus-
druck kommen.