Rede von
Rudolf
Scharping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Lichte
der Tragödie von Washington und New York wird zu
Recht die Frage gestellt, was die internationale
Staatengemeinschaft zu tun in der Lage ist, um ihre ge-
meinsamen Interessen zu vertreten, und welchen Beitrag
die Europäer und mit ihnen die Bundesrepublik Deutsch-
land dazu leisten können. Ein Teil ich sage ausdrücklich:
ein Teil dieser Antwort wird militärisch sein. Das wirft
die Frage nach den Fähigkeiten der Bundeswehr auf: de-
nen, die sie hat, und denen, die mit der Erneuerung der
Bundeswehr entwickelt, ausgebaut, zum Teil neu erwor-
ben werden sollen.
Die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft,
der zivilisierten Welt soll eine gemeinsame und umfas-
sende sein. In dem für manche möglicherweise überra-
schenden Verhalten der Amerikaner, sich in der NATO, in
den Vereinten Nationen und weltweit um eine gemein-
same Antwort zu bemühen, steckt eine enorme Chance.
Die Gemeinsamkeit der Antwort hat mit ihrem umfas-
senden Charakter ebenso zu tun wie der umfassende Cha-
rakter mit der gemeinsamen Antwort. Das ist unauflöslich
miteinander verbunden. Weil das so ist, sollten wir uns in
Deutschland der Bundestag erliegt dieser Versuchung ja
etwas weniger als manche Berichterstatter von der Gefahr
frei halten, diese Antwort auf ihren militärischen Anteil zu
verkürzen oder diesem Anteil eine Dominanz zuzuweisen,
die er mit Blick auf Politik weder hat noch beansprucht. Ich
halte es für außerordentlich wichtig, dass wir dies immer in
Rechnung stellen; denn es wäre eine völlige Überforderung
auch des Militärischen, zu glauben, dass die Maßnahmen
am Ende einer langfristigen Entwicklung, die in diesem
Falle noch durch eine sich auf fürchterliche Weise terroris-
tisch austobende Gewalt beschleunigt wird, greifen könn-
ten und dass diese dann militärischer Natur seien. Das muss
viel früher beginnen. Krisenprävention ist kein Wider-
spruch zur Krisenreaktion, wie auch umgekehrt Krisenre-
aktion nie zum Ersatz oder zum Gegenteil notwendiger
Prävention gemacht werden darf.
In der Debatte besteht eine doppelte Gefahr: Eine Hal-
tung besagt, es werde ausreichen, wenn wir in fast sozial-
arbeiterischer Weise präventiv vorgingen. Das reicht aber
nicht; denn diese Haltung übersieht, dass Menschen, Or-
ganisationen, Finanzstrukturen und vieles andere leider so
ausgerichtet sind, dass sie sich gewalttätig und terroris-
tisch zur Geltung bringen. Dem ist mit einem so präven-
tiv gedachten Ansatz nicht mehr beizukommen.
Umgekehrt müssen aber die Maßnahmen der Reaktion
auch so angelegt sein, dass andere Maßnahmen, die im
umfassenden, eher präventiven Sinne erforderlich sind
und bleiben der Dialog zwischen Kulturen und Religio-
nen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
Bewahrung von Lebensgrundlagen, Förderung von
Rechtsstaatlichkeit , durch die Art der Reaktion nicht
diskreditiert und in Zweifel gezogen werden können.
Ausgehend von diesen grundsätzlichen Erwägungen
mache ich zunächst deutlich, dass die Erneuerung der
Bundeswehr von Grund auf, das Gesetz über die Neuaus-
richtung der Bundeswehr und der Haushalt in diesem
Konzept einen untrennbaren Zusammenhang bilden. Es
darf nicht übersehen werden, dass die Erneuerung der
Bundeswehr von Grund auf der veränderten sicherheits-
politischen Lage unseres Landes und den sich daraus er-
gebenden Anforderungen an gemeinsame dieses Wort
unterstreiche ich ausdrücklich Sicherheit Rechnung
trägt.
Dies ist deswegen so wichtig, weil eine gewisse Gefahr
besteht ich bemerke dies auch an der einen oder ande-
ren Bemerkung in diesem Hause , dass einiges aus dem
Blick gerät, was nicht aus dem Blick geraten sollte. Un-
verändert sind die geistigen Grundlagen der Bundes-
wehr: innere Führung, das Leitbild des Staatsbürgers in
Uniform. Unverändert ist und bleibt auch der Verfas-
sungsauftrag der Streitkräfte: Landesverteidigung und
Gewährleistung gemeinsamer Sicherheit im Bündnis.
Allerdings bedeutet Landesverteidigung unter den verän-
derten sicherheitspolitischen Umständen den Erwerb oder
die Entwicklung von Fähigkeiten, die auch in der Krisen-
prävention wie in der Krisenreaktion eingesetzt werden
können; dies rufe ich ausdrücklich ins Gedächtnis zurück.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Christoph Moosbauer
18408
Dies war der Grund dafür, dass innerhalb der NATO im
April 1999 einige Festlegungen getroffen worden sind,
aus denen sich ableiten lässt, was mit der Neuausrichtung
der Bundeswehr verbunden ist. Das schließt die Antwort
oder die Fähigkeit zur Antwort auf neue Herausforderun-
gen, Gefahren und Bedrohungen ein; der Terrorismus ist
ausdrücklich erwähnt.
Diejenigen, die jetzt sagen, wir bräuchten gewisser-
maßen eine Reform der Reform, laufen ein enormes Ri-
siko: das Risiko des Sonderwegs und der Verabschiedung
aus den gemeinsam getroffenen Festlegungen, die bis in
die Fähigkeitenkataloge der NATO und übrigens auch der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik reichen. Das
ist ein Risiko, das Deutschland nicht eingehen darf und
auch nicht eingehen wird.
Vor diesem Hintergrund sagen dann einige: Mag sein,
dass die Reform insgesamt richtig angelegt ist, aber man-
ches muss schneller getan werden. Dem stimmt die
Bundesregierung nicht zuletzt der Verteidigungsminis-
ter ausdrücklich zu: Es muss einiges schneller getan
werden, als ursprünglich beabsichtigt.
Ohne jetzt auf alle Einzelheiten einzugehen, will ich
doch sagen, dass mit jenen 1,5 Milliarden DM, über die
hier auch gesprochen worden ist, die Fähigkeit zum
Schutz des eigenen Landes, der Bündnispartner und der
eigenen Soldaten schneller als ursprünglich gedacht ver-
bessert werden muss, dass die Fähigkeit zur Aufklärung
und Führung Letzteres insbesondere über längere Dis-
tanzen und Zeiträume schneller verbessert werden muss
als gedacht, dass bestimmte Kapazitäten in der Ausbil-
dung erhöht werden müssen das betrifft besonders die
Flugstunden und dass im Übrigen auch Verbesserungen
im personellen Bereich schneller erfolgen müssen als ge-
dacht, ob sie nun Wehrübungsplätze oder einen schnelle-
ren Aufwuchs in bestimmten Bereichen betreffen, in de-
nen es in der Bundeswehr Engpässe gibt, etwa bei
Spezialisten im IT-Bereich, im Fernmeldebereich und an-
derenorts.
Daraus ergibt sich auch das sage ich mit Blick auf
manche Bemerkung hier in diesem Hause , dass das
keine Sache für ein Jahr ist. Dazu sind langfristig ange-
legte Bemühungen erforderlich, die nicht in eine einma-
lige, auf ein Jahr konzentrierte finanzielle Anstrengung
münden können und münden werden. Das ist völlig klar.
Es geht also nicht darum, die konzeptionellen Grund-
lagen der Erneuerung der Bundeswehr neu zu diskutie-
ren. Wer dies tut, verabschiedet sich nicht nur aus ge-
meinsamen Festlegungen im Bündnis und in der
Europäischen Union und geht das beschriebene Risiko
ein; er ruiniert auch einen sehr dynamisch fortschreiten-
den Prozess und damit das Vertrauen innerhalb der Streit-
kräfte selbst. Ich sage das in aller Deutlichkeit: Man kann
sich im politischen Raum und im parteipolitischen Streit
vieles denken, aber eines darf nicht geschehen:
Das Vertrauen in die Fähigkeiten, in die Klarheit der Auf-
tragserfüllung und in deren Gewährleistung darf in den
eigenen Streitkräften im Interesse der Sicherheit unseres
Landes und des Beitrages zu weltweiter Stabilität nicht
ruiniert werden.
Ich hatte bereits gesagt, dass der militärische Teil einer
Antwort auf die Herausforderungen des Terrorismus not-
wendig ist, aber nicht mit der ganzen Antwort verwech-
selt werden darf. Ich kann das hier schon allein aus
Zeitgründen, die nicht mit meiner Redezeit, sondern mit
der Sitzung der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel
zu tun haben, nicht im Einzelnen ausführen, aber ich will
doch noch zwei Hinweise geben, die das deutlicher ma-
chen.
Erstens. In der gegenwärtigen Debatte spielen Regio-
nen auf der Erde eine Rolle, die wir nicht ausschließlich
als Heimat oder Schutzräume von Terroristen wahrneh-
men sollten. In dieser wenige hundert Kilometer breiten
Ellipse rund um das Kaspische Meer, in den mittelasiati-
schen Staaten, befinden sich für die weltwirtschaftliche
Stabilität entscheidende natürliche Ressourcen. Leider
verbindet sich das in diesen Staaten mit einer hochkom-
plizierten und auch explosiven Mischung, die bestimmt
wird von dem Besitz von oder dem Streben nach Massen-
vernichtungswaffen, von religiösem Fanatismus, ethni-
schem Hass und manch anderem.
Vor diesem Hintergrund wird ganz offenkundig, dass
mit Blick auf die Staaten dieser Region eine militärische
Antwort an die Adresse Afghanistans das ist meine Pro-
gnose wohl notwendig sein wird. Aber wir dürfen dabei
nicht stehen bleiben. Wir dürfen zu keinem einzigen Zeit-
punkt aus den Augen verlieren, dass die langfristige
Eingliederung dieser Staaten in die zivilisierte Welt in un-
serem eigenen sicherheitspolitischen wie wirtschaftspoli-
tischen Interesse liegt.
Zweitens. Der Herr Bundesaußenminister hat in seinen
Bemerkungen auf Nordafrika aufmerksam gemacht. Da-
bei geht es nicht nur um das Schrecknis der 100 000 in den
letzten Jahren in Algerien Umgebrachten; es geht auch um
die Tatsache, dass sich die Bevölkerung in Nordafrika in
überschaubar kurzer Zeit verdreifachen wird und heute
schon absehbar ist, dass jede unterlassene Investition in
die Bewahrung von Lebensgrundlagen, in die Stärkung
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und in die För-
derung des Verständnisses von Kulturen und Religionen
in Zukunft als moralische Verantwortung und übrigens
auch als Migrationsdruck auf uns lasten wird.
Wenn das soeben beendete Treffen zwischen Arafat und
Peres wie man hört in der nächsten Woche fortgesetzt
wird, dann ist das mit Blick auf den Zusammenhang, den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
18409
wir hier diskutieren, ein ausgesprochen wichtiges Signal
und es bestätigt die Bemühungen der Bundesregierung
namentlich des Kanzlers und des Außenministers , eine
Eskalation des Nahostkonflikts zu vermeiden wegen
der Menschen, die dort leben, wegen unserer eigenen Ver-
antwortung, aber auch, weil wir wissen, dass eine Eskala-
tion des Nahostkonflikts zum Ferment in den arabischen
Gesellschaften werden könnte, zum Katalysator, der die
zurzeit relativ isolierten terroristischen Bestrebungen in
den arabischen Gesellschaften in einen falschen Zusam-
menhang stellen, eine falsche Solidarität bewirken
könnte. Eskaliert der Nahostkonflikt, dann besteht die Ge-
fahr, dass der Terror mit dem verwechselt wird, was man-
che zu signalisieren versuchen, nämlich einem Kampf
zwischen Kulturen oder Religionen. Das hätte gefährliche
Folgen nicht nur in der arabischen Welt.
Was nun Mazedonien angeht, Herr Kollege Rühe, so
ist es doch für eine Einbringungsrede ungewöhnlich, dass
man versucht, auf eine Debatte einzugehen. Wir müssen
doch die in Mazedonien erreichten Erfolge nicht kleinre-
den, um uns gegenseitig zu bestätigen, dass wir noch nicht
am Ende des Weges sind.
Ich entsinne mich der Diskussion sehr gut und will jetzt
gar nicht auf die einzelnen Punkte eingehen, die in ande-
ren Debatten eine Rolle spielen mögen. Heute scheint mir
das eine etwas zu kleine Münze zu sein.
Was haben wir erreicht, und zwar entgegen mancher
skeptischen, vorsichtigen was ja berechtigt ist und, wie
ich finde, hier und da die vorsichtige Skepsis auch über-
treibenden Vermutung, sodass man fragen müsste, ob das
wirklich Vorsicht und Skepsis waren oder nicht etwas an-
deres? Wir haben erreicht, dass der Prozess des Waffenein-
sammelns erfolgreich abgeschlossen worden ist. Es geht
aber nicht nur um den Prozess des Waffeneinsammelns al-
lein; er ist zugleich eine unabdingbare Voraussetzung für
den Wiederaufbau von Vertrauen zwischen Bevölkerungs-
gruppen und für die Vermeidung des Bürgerkriegs.
Im Übrigen argumentieren Sie nicht ganz korrekt ich
drücke mich höflich aus , wenn Sie sagen: Aber der Verfas-
sungsreformprozess ist ja noch gar nicht abgeschlossen.
Erstens stimmt das und zweitens haben wir von Anfang an
die Absicht verfolgt so verliefen alle Planungen : erst das
Waffeneinsammeln, dann der Prozess der abschließenden
dritten Lesung der Verfassungsreform im mazedonischen
Parlament. Das wird hoffentlich auch gelingen. Dann ist ei-
niges im Interesse umfassender Sicherheit zu tun. Ich hoffe,
dass wir heute die Voraussetzungen sind leider noch nicht
ganz erfüllt in der Bundesregierung und dann auch im
Deutschen Bundestag die entsprechenden Entscheidungen
treffen können.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch die Notwen-
digkeit der Ableitung der Fähigkeiten der Bundeswehr
der Zukunft und ihrer haushaltsmäßigen Absicherung
deutlich. Ich sage auch mit Blick auf manche skeptische
Bemerkung aus den Reihen der Opposition, dass die fi-
nanzielle Absicherung dieser Reform da bin ich mit
Hans Eichel und anderen völlig einig auch eine Reform
der wirtschaftlichen Prozesse erfordert, nicht in der Form,
wie es der Kollege Austermann unterstellt so blöd wird
keiner sein , sondern so, dass man aus den wirtschaftli-
chen Prozessen jene Mittel gewinnt, die notwendig sind,
um die Finanzierung zusätzlich erforderlicher völlig un-
bestreitbar notwendiger Investitionen bei der Bundes-
wehr gewährleisten zu können.
Das werden wir schaffen. Vor diesem Hintergrund bitte
ich Sie ich kann nicht sagen, um Ihre Zustimmung , die
Beratungen so zu führen, dass im Hinblick auf die Ziel-
orientierung nämlich Sicherheit des eigenen Landes,
seiner Partner und Freunde, weltweite Stabilität der
auch den Fähigkeiten der Bundeswehr angemessene Bei-
trag geleistet werden kann, statt der Versuchung zu erlie-
gen, in einer so herausfordernden Situation das parteipo-
litische Kleinklein zu pflegen. Das ist unangemessen. Wir
können uns intelligent und sachlich streiten. Nicht jede
Bemerkung, die ich von der Opposition gehört habe, ist
nach meinem Urteil diesem Anspruch gerecht geworden.