Rede von
Joseph
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die furcht-
baren Verbrechen, der terroristische Angriff auf die Ver-
einigten Staaten von Amerika, auf die Bürgerinnen und
Bürger der USA und auf die Regierung der USA, stellen
eine Zäsur für die internationale Politik, aber auch so ha-
ben wir alle und Millionen unserer Mitbürgerinnen und
Mitbürger, fern vom Ort des furchtbaren Geschehens an
den Fernsehschirmen, es empfunden einen tiefen Ein-
schnitt in unseren Alltag dar.
Ich möchte heute hier vor allen Dingen über die inter-
nationalen Konsequenzen und auch über die Konsequen-
zen für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
sprechen. Denn wenn wir heute über den außenpoliti-
schen Etat reden, dann können wir diese völlig neue Ori-
entierung, die uns durch einen verbrecherischen Terroris-
mus aufgezwungen wurde, nicht ignorieren.
Ich hatte die Gelegenheit, in den USA selbst Gespräche
zu führen. Ich möchte dem Hohen Haus den Eindruck ver-
mitteln, wie tief die Menschen in den USA, auch die Ent-
scheidungsträger, durch diesen furchtbaren Terroran-
schlag getroffen sind und wie wichtig und notwendig die
internationale nicht nur politische, sondern auch emo-
tionale Solidarität mit den Opfern wie auch mit dem
gesamten Land, das von diesem furchtbaren Schlag ge-
troffen wurde, ist.
Meine Damen und Herren, Bündnisse sind nicht nur
für Schönwetterzeiten gedacht. Wenn wir ehrlich sind,
müssen wir zugeben: Keiner von uns, wirklich keiner
hätte gedacht, dass die USA es sein würden, die als Erste
Art. 5 des NATO-Vertrages in Anspruch nehmen. Wir alle
sind in den vergangenen Jahrzehnten davon ausgegangen,
dass es ein europäischer Staat, ja dass es mit hoher Wahr-
scheinlichkeit sogar die Bundesrepublik Deutschland sein
würde.
Nun wurden die USA auf furchtbare Art und Weise an-
gegriffen. Das ist zugleich ein Angriff auf die offene Ge-
sellschaft. Wenn zivile Flugzeuge, die alle von uns be-
nutzen, durch einen todesverachtenden und mörderischen
Terrorismus in Lenkwaffen umgewandelt werden, wenn
diese in Kamikazeangriffen in Hochhäuser gejagt werden,
um diese zum Einsturz zu bringen, dann ist dies ein An-
griff auf die offene Gesellschaft, dann ist dies auch ein
Angriff auf uns alle. Wir werden uns dieser Herausforde-
rung stellen müssen.
Insofern geht es hier nicht nur um eine abstrakte Bünd-
nissolidarität. Ich bin der festen Überzeugung: Über kurz
oder lang werden auch wir direkt damit konfrontiert wer-
den. Dieses Verbrechen wurde von den Tätern ganz of-
fensichtlich zum Teil in Deutschland und anderen europä-
ischen Staaten geplant. Dieser Terrorismus ist inter-
national. Auch für uns wird sich nicht nur die Frage stel-
len, wie wir uns gegen ihn sichern, sondern vor allen Din-
gen auch, was wir tun müssen, um uns dieser Herausfor-
derung nicht nur zu stellen, sondern sie auch wirklich zu
bestehen, indem wir diesem Terrorismus keine Chance
zur Weiterentwicklung einräumen.
Das Recht auf Selbstverteidigung ist für mich eine
Selbstverständlichkeit, wie es auch in dem Beschluss des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen heißt. Wir wer-
den hier in Zukunft vor schwierigen Entscheidungen ste-
hen. Die Resolution des Bundestages war das habe ich
auf meiner Reise in den USA persönlich erlebt sehr hilf-
reich. Denn in der US-Öffentlichkeit wird jetzt natürlich
sehr genau hingeschaut, wie die Bündnispartner sich
tatsächlich verhalten.
Wir werden schwierige Entscheidungen zu treffen ha-
ben. Dazu müssen Information und Konsultation bei den
Planungen gegeben sein. Dann werden wir unsere eigene
Entscheidungskompetenz über das, was wir für ver-
antwortbar und notwendig halten, wahrzunehmen haben.
Auch das hat die Entschließung des Bundestages klar ge-
macht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Bundesminister Hans Eichel
18394
Meine Damen und Herren, es wäre falsch, zu ver-
schweigen, dass diese Entwicklung bei vielen Menschen
große Sorgen und Ängste auslöst, und zwar quer zu den
politischen Lagern. Das ist nicht eine Frage eines grün-
alternativen, pazifistischen oder linken Lagers. Bis weit
hinein in die Wählerschaft der Union, ja in konservativste
Kreise herrscht Angst vor dieser neuen Herausforderung
sagen wir es doch direkt: auch Kriegsangst , Angst vor
einer nicht kontrollierbaren Konfrontation.
Auf diese Ängste müssen wir eingehen. Eine Demo-
kratie lebt von der Zustimmung der Menschen. So wich-
tig die Solidarität der Verantwortlichen hier ist die Bun-
desregierung und auch der Bundestag haben ihre Position
zweifelsfrei klar gemacht , genauso wichtig wird es sein,
dass wir die Menschen mitnehmen und sie überzeugen.
Wir haben die neue Herausforderung in der Tat entspre-
chend darzustellen und zu erklären. Wir müssen auf die
Ängste dort reagieren, wo sie begründet sind, und sie auf-
zulösen versuchen, wo sie nicht begründet sind.
Ich möchte nochmals deutlich machen, worum es die-
sem Terrorismus geht. Haben wir denn eine Alternative,
indem wir nicht, auch nicht mit militärischen Mitteln, auf
ihn reagieren? Würde der Verzicht auf eine Reaktion diese
Terroristen von ihrem nächsten Anschlag abhalten, wäre
dies ja eine rationale Position. Ich behaupte aber: Wenn
Sie sich mit den Erkenntnissen der Dienste und Sicher-
heitsbehörden sowie mit dem beschäftigen, was öffentlich
vorliegt, dann kommen Sie nicht um die Feststellung
herum, dass das Ziel dieser Terroristen schlicht und ein-
fach darin besteht, durch diese Terroranschläge einen
Krieg der Kulturen zu entfesseln, den islamisch-arabi-
schen Raum umzustürzen und in Brand zu setzen sowie
Israel zu zerstören. Duckten wir uns weg, führte dies nicht
zu einem Ende des Terrors; vielmehr beflügelte eine sol-
che Botschaft eher den Terror.
Die erforderlichen Reaktionen wünscht sich die Bun-
desregierung nicht; aber das ist die bittere Wahrheit, die
wir den Menschen bei uns sagen müssen. Deswegen wer-
den wir nicht umhinkommen, diese Herausforderung an-
zunehmen. Die offene Gesellschaft, die Demokratie,
muss sich gegenüber dem menschenverachtenden Terro-
rismus durchsetzen; anderenfalls brauchen wir über eine
Weltordnung, wie wir sie uns für das 21. Jahrhundert vor-
stellen, allen Ernstes nicht zu sprechen.
Es ist offensichtlich, dass auf diesem Gebiet jetzt auch
politische Gestaltungsaufgaben auf uns zukommen. Wenn
man über Selbstkritik redet, dann vielleicht in folgender
Weise das meine ich gar nicht parteipolitisch : Wir hät-
ten eigentlich durch die Entwicklung auf dem Balkan und
das Wiederentstehen des Nationalismus gewarnt sein
müssen. Wir hätten nach dem Ende des Kalten Krieges im
Laufe der 90er-Jahre begreifen müssen, dass eine ökono-
mische Globalisierung allein nicht zureichend ist, wenn
die politischen Konflikte in der Welt zunehmen, wenn
Ungerechtigkeiten nicht angegangen werden und wenn es
keine multilaterale Anstrengung der Weltgemeinschaft
nicht einer oder zweier Mächte gibt,
eine Ordnung zu schaffen, die auf Menschenrechte, De-
mokratie, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gründet und
die in den heißen Konflikten dieser Welt einen Interes-
senausgleich herbeizuführen versucht. Wenn wir das nicht
aufnehmen, wird der Kampf gegen die terroristische He-
rausforderung nicht zu gewinnen sein.
Meine Damen und Herren, darauf kommt es ganz ent-
scheidend an. Das bezeichne ich als die richtige Kritik an
der Globalisierung. Es gibt aber auch eine falsche Kritik.
Wenn die Ereignisse zu einer weiteren Abschottung
führen, wenn die offene Weltwirtschaft und auch die of-
fene Kommunikation im Endeffekt dazu führen, dass wir
uns vielleicht aus den Notwendigkeiten der inneren Si-
cherheit heraus wieder abschotten, wenn sich Angst-
denken breit macht, wenn wir uns zwar dagegen wehren,
Menschen, die anders aussehen und aus einem anderen
Kulturkreis kommen, als Feinde zu sehen, aber unter dem
Druck des Terrorismus mehr und mehr so fühlen das
wird sein Ziel sein , dann, so fürchte ich, werden wir in
eine Entwicklung geraten, in der nicht mehr die Offenheit,
der Dialog, auch nicht mehr die wirtschaftlichen und so-
zialen Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft und auch
einer offenen Weltwirtschaft überwiegen werden, und
dann wird die Abschottung zu Ängsten, diese wiederum
zu Ideologien und diese zu Konfrontationen führen. Das
wäre der erste große Sieg der Terroristen.
Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir
jetzt die Kürze der Zeit lässt eine längere Ausführung
nicht zu die politischen Gestaltungsmöglichkeiten nut-
zen. Das bedeutet aber auch, dass wir im Rahmen der An-
titerrorkoalition die Menschenrechte nicht vergessen
dürfen.
Hier wird nun von mancher Regierung, deren demokrati-
sche Legitimation ich formuliere das jetzt sehr zurück-
haltend nach unseren Maßstäben nicht gegeben ist, ver-
sucht, mit der politischen Opposition reinen Tisch zu
machen. Aber auch hier besteht die Aufgabe und Not-
wendigkeit der Differenzierung. In diesem Zusammen-
hang betone ich erneut: Die Kritik an den Ereignissen in
Tschetschenien, die wir formuliert haben, beinhaltet
keine Kritik an der Legitimation ich behaupte sogar: an
der Pflicht der Russischen Föderation, ihre territoriale
Integrität zu erhalten. Russland hat nicht nur das Recht
auf, sondern auch die Pflicht zur Selbstverteidigung ge-
genüber Terrorismus. Das habe ich nie infrage gestellt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Bundesminister Joseph Fischer
18395
Man muss aber sehr wohl die Frage stellen, ob dies Men-
schenrechtsverletzungen in dem Ausmaß legitimiert, wie
sie etwa unabhängige Menschenrechtsorganisationen dar-
gestellt haben.
Diese Kraft der Differenzierung dürfen wir nicht aufge-
ben.
Gäben wir sie auf, bedeutete das ebenfalls, dass der Ter-
rorismus mit seiner Ideologie einen Sieg davongetragen
hätte.
Die offene Gesellschaft muss sich jetzt erweisen. Das
gilt auch für unser humanitäres Engagement. Wir haben
die Afghanistan-Unterstützungsgruppe, der wir vorsitzen,
für morgen erneut einberufen, denn wir sehen in diesem
Land eine humanitäre Katastrophe. Allerdings existiert
diese humanitäre Katastrophe, die sich jetzt verschärft,
seit Jahren. Ich frage jetzt hier, ob wir bisher wirklich an-
gemessen auf die Tatsache reagiert haben, dass seit 1992
in Algerien 100 000 Menschen ihr Leben verloren, oder
ob unsere Reaktion nur dadurch bedingt war, dass die
Massaker dort und nicht in Europa stattfanden. Ich hoffe,
dass wir alle gemeinsam für die Zukunft daraus lernen,
dass wir mit dieser terroristischen Herausforderung nur
fertig werden, wenn wir eine neue Ära des Engagements
für diese eine Welt einleiten. Anderenfalls werden wir
meines Erachtens in unseren Bemühungen scheitern.
Lassen Sie mich deswegen noch ganz kurz, fast im
Telegrammstil sagen, wie wichtig es sein wird, dass sich
der Nahostkonflikt nicht weiter entwickeln kann und dass
wir auf dem Balkan keine Eskalation zulassen. Hätten wir
auf dem Balkan nicht eingegriffen, wäre die Lage der ver-
triebenen albanischen Muslime in Albanien, in Mazedo-
nien und anderswo weit schlechter. Schauen Sie sich die
Erfahrungen in Bosnien an und die Kontakte, die es da-
mals zum islamistischen Radikalismus gab. Daran erken-
nen Sie, wie wichtig es war, dass Europa keinen Krieg der
Religionen zugelassen hat, sondern dass sich das christ-
liche Europa für europäische Muslime, ihre Menschen-
rechte und elementaren Interessen eingesetzt hat. Ange-
sichts dessen kann ich nur sagen: Der Balkan macht
ebenfalls klar, dass wir uns verstärkt einmischen müssen,
und zwar nicht, um eine Kriegspolitik zu betreiben. Las-
sen wir doch endlich diesen Quatsch von gestern! Wenn
wir uns hier nicht mit allem, was wir haben, von der mi-
litärischen Seite bis zur humanitären, über Wirtschaft, Po-
litik und Kultur, einmischen, dann kann das unabsehbare
Folgen zeitigen.
Nein, nein, das sage ich auch zu Ihnen.
Es tut mir wirklich Leid. Wenn ich mich an manche Ma-
zedoniendebatte erinnere
wir werden in dieser Woche vermutlich noch einmal
eine solche zu führen haben , dann richtet sich mein Ap-
pell nicht nur an eine Seite des Hauses, verehrter Herr
Kollege.
Ein letzter Satz: Ich bedaure es sehr, dass Europa hin-
sichtlich der politischen Integration noch nicht weiter
vorangekommen ist. Gerade in dieser Krise mussten wir
es wieder erleben. Wir dürfen aber nicht beim Bedauern
stehen bleiben. Ich war immer der Meinung, dass wir in
diesem Jahrzehnt die politische Union, das international
handlungsfähige Europa brauchen, bedingt durch die Er-
weiterung der Europäischen Union, bedingt durch die
ökonomischen Konsequenzen des Euro und bedingt
durch internationale Krisen, die von außen auf uns ein-
wirken. Ich ging allerdings nicht davon aus, dass es zu ei-
ner solchen Zäsur kommen würde. Umso wichtiger wird
es sein, dass wir Europäer jetzt noch sehr viel schneller
politisch erwachsen werden.
Ich bedanke mich.