Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie werden ver-
stehen, dass auch ich diese Rede hier nicht beginnen
möchte, ohne an die Tausenden von Toten zu erinnern,
die noch immer unter den Trümmern des World Trade
Centers und des Pentagons liegen. Sie sind Opfer eines
feigen, eines hinterhältigen Terroranschlages. Unsere Ge-
danken und Gefühle sind bei ihnen, ihren Angehörigen
und Freunden.
Als jemand, der sehr viel in den USA unterwegs ist,
meine ich da werden mir viele Kolleginnen und Kolle-
gen zustimmen : Es war eine Sternstunde, zu erleben,
wie am vergangenen Freitag 200 000 Menschen in Berlin
auf die Straße gegangen sind, um Solidarität mit den Ame-
rikanern und mit den Opfern in Amerika zum Ausdruck zu
bringen.
Ich denke, dass wir jetzt alle in diesem Hause überpar-
teilich gefragt sind. Deswegen, Herr Bundeskanzler,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Dr. Peter Struck
18309
möchte ich Ihnen auf Ihre Regierungserklärung zuerst
antworten: Sie haben hier eine würdige Regierungser-
klärung abgegeben und ich möchte Ihnen jedenfalls für
die Oppositionspartei FDP zusagen und zusichern, dass
das, was Sie gesagt haben, was Sie hier als Kurs bestimmt
haben, die Zustimmung der Freien Demokraten findet.
Jetzt geht es nicht darum, den Parteienstreit fortzusetzen,
sondern jetzt geht es darum, dass wir alle unsere Verant-
wortung wahrnehmen, ob wir auf der Oppositionsseite
oder auf der Regierungsseite sitzen. Wir als Freie Demo-
kraten sind dazu bereit.
Das ist eine wichtige Herausforderung für das gesamte
Bündnis. Deswegen kann man an diesem Tage hier nicht
sprechen, ohne auch auf die besondere Situation der
Deutschen hinzuweisen. Wir sind heute Morgen vor dem
Reichstagsgebäude allesamt an drei Demonstranten vor-
beigegangen. Bei uns in Berlin ist es das gute Recht die-
ser Demonstranten, auch unmittelbar vor dem Reichstag
zu demonstrieren. Aber es sei schon erlaubt, an Folgendes
zu erinnern: Diese drei Demonstranten würden nicht de-
monstrieren, wenn die Vereinigten Staaten nicht die Frei-
heit und den Frieden in Europa und in Berlin gesichert
hätten.
Wir alle wären nicht hier. Wir könnten hier nicht sprechen.
Deutschland hat den Tyrannen nicht aus eigener Kraft
überwunden, sondern mithilfe der Amerikaner und ihrer
Verbündeten. Das ist weit mehr als nur eine dankbare
Floskel. Das ist nach meiner Überzeugung vielmehr ein
Ausdruck der persönlichen Verantwortung, die wir jetzt
haben.
John F. Kennedy hat einmal gesagt: Ich bin ein
Berliner. Er wollte damit die Verantwortung seines Lan-
des, die Freiheit in Berlin zu sichern, zum Ausdruck brin-
gen. Wenn wir jetzt sagen: Wir stehen fest an der Seite
der Vereinigten Staaten, dann ist das Jahrzehnte später
unser Beitrag dazu, den Frieden und die Freiheit in der
Welt zu sichern. Diese große Verantwortung haben jetzt
alle Demokraten. Ich denke, in den letzten Tagen konnte
man erkennen, dass unser demokratisches Gemeinwesen
dieser Verantwortung weiß Gott gerecht wird.
Ich freue mich übrigens darüber, dass die Ansichten
mancher, die in dieser Situation mit den üblichen anti-
amerikanischen Reflexen reagieren dies erfolgt selbst
am heutigen Tage; bestimmten Kommentaren in süddeut-
schen Zeitungen habe ich dies heute entnommen , im Au-
genblick widerlegt werden. Denn die Vereinigten Staaten
von Amerika handeln, wie es einer reifen Demokratie ent-
spricht: entschieden, aber auch verantwortungsvoll.
Im gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus und bei
der Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit kann es
keinen Parteienstreit geben. Deutschland verdient eine par-
teiübergreifende Verantwortung. Die FDP ist dazu bereit.
Wir werden mit Sicherheit erleben, dass das Militär,
aber auch die inneren Vollzugsbehörden der Polizei im
Rahmen der Terrorismusbekämpfung handeln werden.
Aber ich finde, wir sollten bei alledem das Politische nicht
aus den Augen verlieren: Wir werden den Terrorismus in
der Welt nicht in erster Linie mit Militär und Polizei, son-
dern nur mit politischen Lösungskonzepten bekämpfen
können.
In dieser Situation ist festzustellen: Die Bevölkerung er-
wartet von uns zu Recht, dass wir entschieden handeln,
um den Terrorismus zu bekämpfen. Aber sie erwartet von
uns auch, dass wir so besonnen handeln, dass der Frieden
in Europa erhalten bleibt.
Es gibt einen bemerkenswerten Gedanken in dem fa-
belhaften Buch Kassandra von Christa Wolf, der mir in
diesen Tagen immer wieder in den Sinn gekommen ist.
Sie schreibt dort:
Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber
wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe,
müsste man sie weitersagen.
Ich persönlich bin zu dem Ergebnis gekommen: Wenn Po-
litiker mehr über Kriegsszenarien als über Friedenslö-
sungen sprechen, dann beginnt ebendieser Vorkrieg. Die
Bevölkerung erwartet von uns zu Recht, dass wir uns
zunächst darüber unterhalten, wie man einen solchen Pro-
zess hin zum Krieg verhindern kann.
Es geht jetzt nicht um eine einseitige Fixierung auf das
Militärische. Wir brauchen vielmehr zuallererst politische
Lösungskonzepte. Politiker, die sich jetzt in öffentlichen
Interviews über Kriegsszenarien äußern, denen sollte man
sagen: Friedensszenarien sind jetzt bei uns in der Bevöl-
kerung gefragt.
Gleichwohl ist es notwendig, Entschiedenheit und
Härte zu zeigen. Gleichwohl ist es natürlich auch not-
wendig, über die Rolle der Bundeswehr zu sprechen. Wir
können nicht so tun, als gäbe es hier keine Probleme.
Meiner Einschätzung nach sollten wir in dieser Debatte
zunächst einmal über Prävention und nicht nur über Re-
pression sprechen. Dabei geht es auch um regionale Kon-
fliktlösungsmechanismen. Wenn etwas in diesen Tagen
klar geworden ist, dann das, dass es auf dieser einen Welt
keine regionalen Konflikte mehr gibt, von denen andere
Teile der Welt unbetroffen sein könnten. Jeder regionale
Konflikt ist in Wahrheit auch ein weltweiter Konflikt. Je-
der ungelöste regionale Konflikt trägt den Keim in sich,
auch bei uns Unglück zu säen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Dr. Guido Westerwelle
18310
Deswegen müssen wir auch und gerade jetzt in diesen
Zeiten eine globale politische Verantwortung wahrneh-
men, wenn es um die Konfliktlösung im Nahen Osten
geht. Wir erneuern hier unseren Vorschlag und appellieren
an Sie als Bundeskanzler und an den Außenminister, die-
sen Vorschlag in der Europäischen Union einzubringen.
Es geht darum, dass wir als Lösung eine Konferenz für Si-
cherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten anbieten,
dass wir sie initiieren; denn man hört viel zu oft, man
könne im Nahen Osten niemals zum Frieden finden, dort
sei alles so verhärtet, das sei nicht mehr zueinander zu
führen, das könne nur noch militärisch auseinander ge-
schlagen werden.
Dies ist sträflicher, ja geradezu tödlicher Leichtsinn,
meine Damen und Herren. So wie es uns in Mitteleuropa,
im Nachkriegsdeutschland, im Nachkriegseuropa gelun-
gen ist, aus Erbfeinden Freunde zu machen, so ist es auch
in anderen Regionen der Welt möglich, Menschen mitei-
nander zu versöhnen, wenn der Wille und die Anstren-
gung groß genug sind. Das muss erstes Ziel der deutschen
Politik sein.
Ich will Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der Bundesre-
gierung in dieser Debatte ein paar Bemerkungen aber
nicht ersparen. Wir haben die Debatte über den Haus-
halt unterbrochen, als uns die Nachricht von diesem
schrecklichen Terroranschlag im wahrsten Sinne des Wor-
tes getroffen hat. Wir werden diese Debatte über den
Haushalt aber fortsetzen. Wir müssen sie auch fortsetzen.
Vorgestern meldete die Deutsche Presse-Agentur eine
Erklärung eines Sprechers des Verteidigungsministe-
riums. Dieser verglich die Situation der Bundeswehr mit
einem Kaufhaus, in dem viele leere Regale stehen und
mehrere Abteilungen wegen Umbaus geschlossen sind.
Dies sagt nicht ein Oppositionspolitiker, sondern ein
Sprecher des Verteidigungsministeriums. Herr Bundes-
kanzler, wenn es Staatsräson ist, dass jetzt auch die Op-
position zum Bündnis steht und wir tun das , dann ist
es Ihre Staatsräson, dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr
entsprechend anständig ausgestattet wird.
Diese Strukturfragen haben wir zu beantworten und ich
gehe davon aus, dass Sie, Herr Finanzminister, einen kor-
rigierten Haushalt vorlegen werden.
Ich möchte an das anknüpfen, was Sie, Herr Kollege
Struck, gesagt haben. Sie haben gesagt, man dürfe nicht
den Eindruck erwecken Sie haben völlig Recht dabei ,
dass dann, wenn man nur Milliarden in die Terrorismus-
bekämpfung stecken würde, die Probleme gewisser-
maßen gelöst seien. Sonst würde man den Bürgern etwas
vormachen. Da haben Sie Recht. Ich sage Ihnen aber
auch: Wenn wir diese Milliarden D-Mark nicht in die Ter-
rorismusbekämpfung stecken, lösen wir die Probleme
auch nicht und machen den Bürgerinnen und Bürgern
auch etwas vor.
Deswegen ist es notwendig, dass wir in der Diskussion
über die innere Sicherheit noch auf das Folgende hin-
weisen: Herr Innenminister, das, was rechtsstaatlich not-
wendig ist, um Freiheit und Sicherheit in Deutschland zu
gewährleisten, werden wir mit Ihnen gemeinsam be-
schließen. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber
ich füge auch hinzu: In meinen Augen beruht das Problem
der inneren Sicherheit nicht zuerst auf einem Gesetzes-
defizit, sondern auf einem Vollzugsdefizit. Die Ausstat-
tung der Polizeibehörden übrigens auch der Verfas-
sungsschutzämter in Deutschland lässt zu wünschen
übrig. Dies ist eine finanzielle, eine haushaltspolitische
Herausforderung.
Eine bessere Ausstattung ist notwendig. Ich denke, dass
wir dieses Problem lösen werden. Antworten Sie darauf!
Richten Sie sich darauf ein!
Ich möchte zum Schluss gerne noch einen Gedanken in
diese Debatte einführen. Es ist ein Gedanke, der mir eben-
falls sehr wichtig ist. Alle haben darauf hingewiesen, dass
man nicht im Namen von Religion derartige Verbrechen
begehen kann. Das ist völlig richtig. Ich möchte es aus
meiner Sicht noch einmal sagen: So, wie ich als Christ
nicht dafür in Haftung genommen werden möchte, dass in
Nordirland kriminelle Fundamentalisten Schulkinder
bombardieren und glauben, sie täten das im Namen der
Bibel, so ist es auch unzulässig, Andersgläubige in Haf-
tung zu nehmen, weil sich Straftäter auf den Koran beru-
fen. Bei dem einen geht es nicht um die Bibel, bei dem an-
deren nicht um den Koran. Beides sind Verbrechen.
Das möchte ich gerade als Liberaler, der unverdächtig
ist, dass es ihm an Toleranz mangeln würde zur wehr-
haften Demokratie sagen.
Ich glaube, das sind wir alle in diesem Augenblick. Oder
etwa nicht? Ich meine das übrigens ganz ernst.
Bezogen auf das liberale Verständnis möchte ich Ihnen
etwas sagen, was ich gerade in dieser Zeit für ganz be-
sonders wichtig halte: Toleranz ist gut. Toleranz gegen-
über Intoleranz ist in meinen Augen aber nicht liberal,
sondern dumm.
Darauf muss man in dieser Situation hinweisen; denn da-
rum geht es.
Herr Bundeskanzler, für das, was Sie in Ihrer Regie-
rungserklärung gesagt haben, haben Sie die Rücken-
deckung der Freien Demokraten. Wir gehen davon aus,
dass Sie uns auch weiter informieren. Zu dem, was Sie uns
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 187. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2001
Dr. Guido Westerwelle
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nicht gesagt haben, können wir uns nicht äußern. Wir ha-
ben Verständnis dafür, dass Sie zwar mehr wissen, aber
natürlich nicht alles sagen können. Sie sehen ein, dass wir
unsere Zustimmung nur Punkt für Punkt zu dem, was Sie
in Ihren Erklärungen geäußert haben, geben können.
Wenn Sie einen entschiedenen, aber zugleich auch beson-
nenen Weg gehen, werden Sie die Unterstützung über die
Parteigrenzen hinweg erhalten. Das kann ich zumindest
für die Freien Demokraten in diesem Hause sagen.