Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt Selbständige, und es gibt abhängig Beschäftigte. Grundsätzlich sind Selbständige nicht pflichtversichert,
und grundsätzlich müssen sich Beschäftigte versichern.
Von diesen Grundsätzen gibt es - wie immer im deutschen Recht - Ausnahmen. Selbständige, die wie Architekten und Rechtsanwälte in verkammerten Berufen tätig sind, müssen auch eine Pflichtversicherung haben; Handwerker sind für einen begrenzten Zeitraum versichert. Bei den Beschäftigten gibt es Ausnahmen, wenn ihr Verdienst oberhalb der Versicherungsgrenze angesiedelt ist oder wenn sie unterhalb der Grenze auf der Basis von 620-DM-Verträgen beschäftigt sind. Das ist die Ordnung, die wir haben.
Wer nun 620-DM-Verträge versicherungspflichtig machen möchte und wer vielleicht auch noch die Versicherungspflichtgrenze nach oben anheben möchte, wer Selbständige mit der Begründung, sie seien Scheinselbständige, in die Pflichtversicherung zwingen möchte, der will vor allem nur eins: mehr Beiträge in die Sozialkassen lenken.
Das ist vielleicht ein gutes Vorhaben, wenn man nur die Finanznöte in den Sozialkassen bedenkt; aber es ist ein schlechtes Vorhaben, wenn man die übrigen ökonomischen Wirkungen bedenkt: das Anziehen der Daumenschrauben, um dem Bürger noch mehr Geld aus den Taschen zu ziehen.
Beide Themen, Scheinselbständigkeit und geringfügige Beschäftigung, gehören insofern zusammen, als beide in die gleiche Richtung zielen und beide den gleichen Bedenken begegnen. Beginnen wir mit den Scheinselbständigen.
Scheinselbständige sollen für die Rentenversicherung eingefangen werden. Was ist scheinselbständig?
„Meide jeden bösen Schein", heißt es. Wie bekommt man diesen bösen Schein als Selbständiger?
Herr Scharping, Ihre Sozialpolitiker haben Sie ein bißchen schlecht beraten. Man hätte Ihnen doch noch einiges in Ihre Papiere hineinschreiben müssen,
zum Beispiel die Urteile: Lastwagenfahrer sind sozialversicherungspflichtig, wenn sie nur für einen Betrieb arbeiten dürfen - BVG 1996. Mutterschutz einer selbständigen Handelsvertreterin wird nicht ausgehebelt, wenn die Erwerbstätige nur für einen Auftraggeber tätig sein darf, außerdem umfangreichen Weisungen unterliegt - Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein.
Beschäftigt ein Bauunternehmer einen Arbeiter einer anderen Baufirma vorübergehend, so handelt es sich nicht um einen Subunternehmer, sondern um einen Arbeitnehmer - versicherungspflichtig.
Gibt eine Deutschlehrerin im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit Unterricht mit vorgegebenem Lehrbuch und vorgegebenen Unterrichtszeiten, so ist sie sozialversicherungspflichtig. Ein Schlachter, der wei-
Dr. Gisela Babel
sungsgebunden beschäftigt ist, ist sozialversicherungspflichtig, auch wenn er ein Gewerbe angemeldet hat.
Meine Damen und Herren, die schockierenden Fälle, die wir in der Anhörung erfahren haben, beziehen sich nach geltendem Recht allesamt auf Menschen, die nicht scheinselbständig, sondern abhängig beschäftigt sind. Hier muß das geltende Recht durchgesetzt werden.
Nun stelle man sich einmal folgendes vor: Es wagt ein junger Mensch den Sprung in die Selbständigkeit, vielleicht aus der Arbeitslosigkeit, der Ausbildung oder aus einem Beschäftigungsverhältnis heraus. Einen Mitarbeiter kann er sich zu Beginn noch nicht leisten. Er fängt klein an, und vielleicht hat er am Anfang auch nur einen einzigen Kunden. Schließlich ist er neu am Markt; das Geschäft soll sich erst entwickeln. Die SPD nennt das in ihrem Wahlprogramm einen „mutigen Existenzgründer". Sie verlangt in ihrem Wahlprogramm „wirksame Hilfen" für unseren jungen Existenzgründer. Außerdem will sie ihn laut Wahlprogramm unter anderem durch eine Senkung der Lohnnebenkosten fördern. Aber vorher holt die SPD erst einmal zu einem Schlag gegen diesen jungen Selbständigen aus: Er soll, bevor er überhaupt seine Existenz neu begründen darf, Sozialabgaben für sich selbst abliefern.
Das ist nun einmal nicht das, was wir uns unter Förderung von Existenzgründungen vorstellen.
Wer den Schritt in die Selbständigkeit wagt, hat es ohnehin schwer genug. Ämter, Behörden, Genehmigungsverfahren, amtliche Bescheinigungen machen die Existenzgründung bei uns zu einem Hindernislauf. Das letzte, was wir brauchen, sind neue finanzielle Belastungen für unsere jungen Selbständigen.
Wir sind dafür, daß sich Selbständige für das Alter absichern. Wir haben verschiedene Möglichkeiten, das zu erreichen. Es soll nicht so sein, daß sie unbedingt auf Fürsorgeleistungen angewiesen sind. Wir denken nicht reflexartig an die Eingliederung in kollektive Sicherungssysteme.
Gerade bei den Selbständigen bietet sich eine private Altersabsicherung an.
Das wäre auch ein Beitrag zur Entlastung der Rentenkassen, deren Situation in 20, 30 Jahren schwierig genug sein wird.
Nun noch einmal zu den geringfügig Beschäftigten: Niemand, nicht einmal ein Arbeitsloser, nicht
einmal ein Eckrentner, ist so oft durch die Plenardebatten „gescheucht" worden wie der geringfügig Beschäftigte. Dabei ist er gar nicht zu bedauern. In ganz überwiegender Zahl ist er mit seinem Los, mit seiner Beschäftigung und seiner Entlohnung völlig zufrieden, und zwar auch die Frauen. Zufrieden sind auch die vielen Arbeitgeber. Denken Sie doch nicht nur an die Kettenläden! Ich habe selbst oft genug an dieser Stelle gesagt, daß die Zustände in den Kettenläden auch unsere Zustimmung nicht finden. Aber bitte sehen Sie sich doch einmal andere Arbeitgeber an: Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt. Denken Sie an die Parteien,
denken Sie an die Vereine. Denken Sie vor allem auch an Universitäten, von denen gerade Studenten Beschäftigung als studentische Hilfskräfte erhalten. Sie glauben doch wohl selber nicht, daß die Universitäten dann, wenn die Versicherungspflicht kommt und diese Verträge verteuert werden, den Studenten noch in demselben Ausmaß Beschäftigung anbieten können.
Alle diese Verträge wollen Sie mit der Verteuerung treffen. Mir ist unbegreiflich, warum es hier nicht einen viel heftigeren Widerstand gibt. Ich glaube, daß die Öffentlichkeit hierüber nur hinlänglich informiert ist.
Den Beschäftigten nutzt der Versicherungsschutz nichts; das haben wir hier schon öfter ausgeführt. Auch den Sozialkassen bringt dies langfristig keine Entlastung. Selbst Professor Ruland hat gesagt, daß man bei Einführung der generellen Versicherungspflicht dafür sorgen muß, daß ihnen dann nicht sofort andere Leistungen aus den Sozialkassen zur Verfügung stehen. Sie sehen schon die Schwierigkeiten.
Arbeitslosigkeit kann man nicht mit der Verteuerung bekämpfen. Man schafft Flexibilität ab, und man trifft auch oft die Familien, in denen ein oder zwei Mitglieder zu einem zusätzlichen Familieneinkommen beitragen.
Die F.D.P. ist für eine Politik, die hierbei nur auf das Heute und nicht auf das Morgen setzt, in der Tat nicht zu haben. Wir sind für die Sanierung der sozialen Sicherungssysteme, aber nicht durch das Erschließen immer neuer Personenkreise.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung: Wir sind am Vorabend des 1. Mai mit seinen Kundgebungen. Daß der DGB glaubt - und dagegen polemisiert -, der Sozialstaat werde zu Grabe getragen, muß niemanden verwundern. Daß aber die evangelische Kirche es zuläßt, daß Totenmessen auf den Sozialstaat gelesen wer-
Dr. Gisela Babel
den, finde ich unglaublich und unglaublich abstoßend.
Die Bürger unseres Landes, die Gläubigen der Kirche haben es nicht verdient, daß sich die Kirche so schrill, so unwahr, so anmaßend und so unchristlich gebärdet.
Ich rufe die evangelische Kirche auf: Machen Sie diesem Hexenspuk ein Ende! Die Sozialordnung in Deutschland ist und bleibt gesichert.
Ich bedanke mich.