Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Morgen ist, wie wir alle wissen, der 1. Mai. Ich hoffe sehr, daß viele Menschen an den Kundgebungen und Veranstaltungen des DGB teilnehmen werden. Denn die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit braucht dringend Unterstützung und Nachdruck.
Die Arbeitslosigkeit hat während der Regierung Kohl unerträgliche Ausmaße erreicht. Die Sozialkassen stehen in einer sehr schweren Belastungsprobe. Die Schere zwischen Arm und Reich ist inzwischen so weit auseinandergegangen, daß das nicht nur den DGB als Interessenvertretung auf den Plan ruft. Auch die Kirchen kritisieren die unerträgliche soziale Schieflage.
Was hat die Bundesregierung nicht alles versprochen! Und welche Versprechen hat sie eigentlich nicht gebrochen? Der Kanzler wollte bis zum Jahr 2000 die Arbeitslosigkeit halbieren. Statt es aber überhaupt ernsthaft zu versuchen - und zwar in ei-
Annelle Buntenbach
nem Bündnis für Arbeit -, hat er die ausgestreckte Hand der Gewerkschaften ausgeschlagen. Die Regierung hat, genau wie die Arbeitgeber, ihren Beitrag zur Umwandlung von Überstunden in Neueinstellungen schlicht verweigert und damit zugelassen, daß 1996 und auch 1997 fast 1,8 Milliarden Überstunden geleistet wurden.
Die Beschäftigungsinitiative für Ostdeutschland mit dem Versprechen von jährlich 100 000 neuen Arbeitsplätzen ist gescheitert. Der Kündigungsschutz ist aufgeweicht worden. Sie haben mit großem Trara die Ladenöffnungszeiten verlängert. Aber wo sind denn die neuen Jobs, die Sie den Menschen dafür versprochen haben? Statt dessen haben Sie noch einmal einen regelrechten Schub in Richtung ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse in Gang gesetzt.
In Amerika kursiert ein schlechter Witz: Sitzen zwei Geschäftsleute in einem Restaurant und reden über die wirtschaftliche Entwicklung. Sagt der eine zum anderen: Inzwischen sind wir doch wirklich vorangekommen - so viele neue Arbeitsplätze haben wir geschaffen. Da dreht sich der Kellner um und sagt: Ja, zwei davon habe ich.
- Zwei.
Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wollen Sie diese Entwicklung hier wirklich noch weiter vorantreiben? Wollen Sie, daß man zwei oder drei Jobs braucht, weil man von einem nicht mehr leben kann? Mit Ihrer Ausweitung des Billiglohnbereichs, der Zerlegung regulärer Jobs in Minijobs unterhalb der Sozialversicherungspflicht drängen Sie die Menschen aus den sozialen Sicherungen heraus und setzen die Gesellschaft einer Zerreißprobe aus.
Ihre Politik führt statt zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit nur zur Verschärfung sozialer Ungerechtigkeit. Die Halbwertzeit Ihrer Versprechen wird inzwischen immer kürzer, und Sie versuchen jetzt, sich mit Wahlkampfbonbons und geschönten Statistiken über den Wahltag zu retten. Was Sie hier abliefern, ist ein echter Beitrag zur Politikverdrossenheit.
Wir brauchen aber dringend eine glaubwürdige Politik, die der Arbeitslosigkeit zu Leibe rückt: mit ökologischem Umbau, Arbeitszeitverkürzung, fundierter Arbeitsmarktpolitik, öffentlicher Förderung von Beschäftigung im ökologisch-sozial-kulturellen Bereich. Und wir brauchen die Sozialversicherungspflicht für jede dauerhafte Beschäftigung.
Eine solche Politik setzt auf gesellschaftliche Integration statt auf Ausgrenzung. Keine Gesellschaft kann es sich ohne Gefahr für die Demokratie leisten, ihr unteres Drittel einfach abzuhängen. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, ganze Gruppen von ihrem Anspruch auf Teilhabe an der Erwerbsarbeit auszuschließen, wie es diese Regierung tut, die auf Sündenböcke und Schuldzuweisungen setzt.
Lassen Sie mich hier einen Punkt ansprechen, der mir nach dem erschreckenden Wahlerfolg der DVU in Sachsen-Anhalt sehr am Herzen liegt - wir alle haben heute diesen Punkt schon angesprochen -: Jenseits aller Polemik - derer bedienen wir uns ja in Wahlkampfzeiten alle gerne - möchte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle ernsthaft und nachdrücklich auffordern und an Sie appellieren: Lassen Sie uns bitte keinen Wahlkampf auf dem Rücken von Migrantinnen und Migranten führen!
Wir können uns gerne weiter gegenseitig beschimpfen, aber lassen Sie uns darauf verzichten, mit der DVU um eine möglichst autoritäre oder restriktive Innen- und Sozialpolitik zu wetteifern.
Gegenstand der Anträge, über die wir heute zu befinden haben, ist ein Systemwandel, eine tiefgehende Veränderung der Arbeits- und Lebenssituation vieler Menschen, die insbesondere ihre soziale Absicherung im Kern betrifft. Das hat der Kollege Scharping sehr anschaulich ausgeführt. Scheinselbständigkeit oder Beschäftigung unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze sind nicht etwa ein Phänomen am Rande der Gesellschaft, sondern finden massenhaft in der Mitte statt.
Im Baubereich haben Sie eine ganze Branche mit Ihrem halbherzigen Entsendegesetz und seinen mangelhaften Kontrollmechanismen zu einem Versuchsfeld für Lohn- und Sozialdumping und illegale Beschäftigung gemacht, mit katastrophalen Folgen für die dort noch Beschäftigten.
Scheinselbständig sind mehr als eine Million Menschen. Die Zahl geringfügiger Beschäftigungen ist nach den neuesten Untersuchungen rasant auf mehr als 5,5 Millionen angewachsen, und die meisten davon sind Frauen. Während diese Minijobs seit 1992 um 25 Prozent zugenommen haben, hat gleichzeitig die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 2 Millionen abgenommen. Auch das ist eine Ursache für Arbeitslosigkeit. Das müssen wir uns an dieser Stelle klarmachen.
Folgen dieses Abbaus von regulärer Beschäftigung und dieser Erosion der Sozialversicherung sind Ausfälle bei der Sozialversicherung, die der DGB auf zwischen 15 und 20 Milliarden DM im Jahr schätzt. Darüber jammern Sie aus den Regierungsfraktionen zwar schon lange, aber Sie tun nichts. Alle Vorschläge, die heute zur Entscheidung auf dem Tisch liegen, kommen aus den Reihen der Opposition.
Daß Sie, meine Damen und Herren aus der CDU/ CSU-Fraktion, in den letzten Monaten alle möglichen Vorschläge in der Presse unterbreitet haben, die jetzt im Parlament eben nicht auf dem Tisch lie-
Annette Buntenbach
gen, macht die Sache nur noch peinlicher. Sie sind als Regierung schlicht handlungsunfähig.
Sie beschleunigen mit Ihrer Politik der Deregulierung den Prozeß, bei dem Sie sich anschließend weigern, dafür die Verantwortung zu übernehmen und wenigstens vernünftige Rahmenbedingungen zu setzen, mit denen der Veränderungsprozeß sozial abgesichert würde. Das ist in Anbetracht der Größe des Problems schlicht verantwortungslos.
Ich will versuchen, das Problem einmal greifbar zu machen. Ich will es mit Hilfe eines Beispiels tun: Wenn ein Arbeitgeber seinem Transportfahrer einen Bully verkauft und ihn verpflichtet, zukünftig die Vertretung für Urlaub und Krankheit selbst zu organisieren und zu bezahlen, ihn dann als Arbeitnehmer entläßt und als Unternehmer unter Vertrag nimmt, ist er die Kosten für die Sozialversicherung los. Er entzieht sich seiner sozialen Mitverantwortung und bürdet die Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter allein dem Arbeitnehmer auf.
So lange der „worst case" nicht eintritt, der Mensch jung und fit ist, gibt es nicht sofort ein Problem. Aber da beim Paketdienst niemand so gut bezahlt wird wie im Profifußball, ist der gemütliche Lebensabend mit der individuellen Vorsorge leider unwahrscheinlich.
Noch unwahrscheinlicher ist es für die Frau, die jahrelang in einem 620- bzw. 520-Mark-Job arbeitet und keine Chance hat, eine eigenständige soziale Absicherung aufzubauen. Von der Sozialhilfe ist sie dann später nur einen Gatten entfernt.
Gemeinsam haben all diese prekären Jobs: Das Leben und Arbeiten bleibt unsicher, die Menschen erpreßbar, fast jeder Anforderung durch den Arbeitgeber ausgeliefert. Das ist der ungebremste Zugriff des Chefs auf die Lebensstruktur der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer statt Wahlmöglichkeiten ihrerseits, zum Beispiel demokratische Mitbestimmung über die Lage und Dauer der Arbeitszeiten. Hier kann dann - und das wissen wir alle - oft auch der Betriebsrat nicht mehr helfen, zumal dieser ja im Zuge der Ausgründung als erstes verlorengeht.
Kaum einer dieser Jobs ist sozialversichert. Um die Abgaben zu sparen, wird die Sozialversicherungspflicht schlicht umgangen. Und nach Möglichkeiten dazu muß kein Arbeitgeber lange suchen; die Bundesregierung hat hierzu ja reichlich Wege frei gemacht.
Der Transportfahrer beim Paketdienst ist nur ein Beispiel für die immer größer werdende Gruppe der Scheinselbständigen. Andere sind Fahrradkuriere, Versicherungskaufleute, Kellnerinnen, Ein-MannSubunternehmen im Baugewerbe oder - auch das gibt es ja inzwischen - die selbständige Regalauffüllerin im Handel. Diese Art der Selbständigkeit hat für die Betroffenen überhaupt nichts mehr gemein mit einem größeren, unabhängigen, also selbständigen
Entscheidungsspielraum. Im Gegenteil: Sie haben nichts dazugewonnen, sondern etwas Wesentliches verloren, nämlich ihre soziale Absicherung. Und wenn sie jetzt abstürzen, dann tun sie das ohne Netz, direkt in die Sozialhilfe. Der Arbeitgeber entledigt sich der Kosten für die Sozialversicherung, zahlen muß letztlich die Allgemeinheit.
Da möchte ich Sie doch fragen: Ist denn das die neue Kultur der Selbständigkeit, die der Kanzler einklagt? Ich halte das eher für einen Schritt zurück in die sozialen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts, in den Frühkapitalismus.
Herr Schäuble hat einmal von den „immer teurer werdenden Zwangseinrichtungen" unserer sozialen Sicherungssysteme gesprochen, als sei der Anspruch auf Beteiligung, auf solidarische Versicherung illegitim, als sei es etwas Heroisches, sich dagegen aufzulehnen oder sich zumindest zu entziehen. Zwang wird die Pflichtversicherung für diejenigen, die nicht den Schutz und die Solidarität im Vordergrund sehen, weil sie meinen, sie seien nicht darauf angewiesen. Für die anderen bedeutet die Existenz und die Funktionsfähigkeit der Solidarversicherung ein Stück Freiheit, nämlich Freiheit von existentiellen Ängsten vor Risiken, die die Leute allein nicht abfangen können, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Pflege. Von dieser Freiheit hat Herr Schäuble nicht gesprochen, sondern die Freiheit, die er meint, ist die des Stärkeren. Ausgerechnet er, der sonst so gern auf Nation und Staatsräson verweist, hat damit indirekt dazu aufgerufen, sich gesellschaftlicher Verantwortung zu entziehen.
Die Vorschläge der Opposition, wie wir das immense Problem der immer unsichereren Arbeitsverhältnisse angehen können, liegen ja auf dem Tisch. Die Regierung hat dazu praktisch, Herr Louven, außer Bedenken eben nichts zu bieten. Sie ist offensichtlich nicht handlungsfähig, wenn es um die zeitgemäße Verbesserung sozialer Absicherung geht und eben nicht um deren Durchlöcherung oder um Steuergeschenke für Reiche.
Wir haben bei jeder Gelegenheit - und das gilt für alle Oppositionsfraktionen hier - jeden noch vertretbaren Kompromiß angeboten, weil wir alle wissen, wie die Zeit drängt und daß uns das Problem über den Kopf zu wachsen droht.
Monatelang haben wir alle möglichen Vorschläge aus den Reihen der CDU der Presse entnommen; jede zweite Meinung ist mit Veröffentlichung geadelt worden. Daß trotzdem hier heute kein Antrag der Regierungsfraktionen vorliegt, ist zwar der Blockade der F.D.P. geschuldet, aber es ist schlicht ein Armutszeugnis für die gesamte Regierung.
Annelle Buntenbach
Deshalb haben wir noch einmal eine Teillösung des Problems als Entschließungsantrag eingebracht. Diese Teillösung sieht eine Kombination aus dem österreichischen Modell und der Absenkung der Geringfügigkeitsgrenze vor; das liegt Ihnen schriftlich vor. Wir haben damit einen Vorschlag aus den Reihen der CDA aufgegriffen.
- Ja, dann stimmen Sie bitte zu!
Wir haben unseren Antrag vorgelegt, in dem wir unsere Vorstellungen, wie das Problem gelöst werden könnte, formuliert haben. Ich bin aber gern bereit - und das haben wir in der ganzen Debatte deutlich gemacht -, mich auch auf Teillösungen einzulassen, weil ich weiß, daß ansonsten die Sozialversicherungen weiter ausbluten, daß die Wettbewerbsverzerrungen weitergehen, daß die eigenständige Absicherung von Frauen leidet und jeder weitere Aufschub eben besonders zu Lasten von Frauen geht. Deshalb haben wir noch einmal eine Teillösung vorgelegt, von der wir hoffen, daß Sie ihr auch zustimmen können.
Ich denke, wenn wir wenigstens diesen Schritt gemeinsam gehen, dann haben wir eben nicht einen Aufschub um ein weiteres halbes Jahr. Aber wenn Sie sich heute auch diesem Vorschlag verweigern, dann - das kann ich Ihnen jetzt ankündigen - wird die Neuregelung, der Einbezug jeder dauerhaften Beschäftigung in die Sozialversicherung, eines der ersten Dinge sein, die eine rotgrüne Regierung nach dem 27. September zügig anpackt.