Rede von
Andrea
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, der soeben vom Bundesrat verabschiedet wurde, liegt in der Unterbindung des Mißbrauchs von Sozialleistungen. Als Sozialpolitikerin kann man im Ernst nicht dagegen sein, weil Sozialmißbrauch die Legitimität von Sozialleistungsgesetzen untergräbt. Aber hier stellt sich die Frage: Haben wir es überhaupt mit Mißbrauch zu tun?
Nach dem Gesetzentwurf sollen Ausländer mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus von Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes ausgeschlossen werden. Man kann sich ganz schnell im Dickicht des unübersichtlichen Ausländerrechts verlieren. Lassen Sie uns aber lieber von den Menschen reden, um die es hier geht.
Es geht zum Beispiel um rund 5000 ausreisepflichtige algerische Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen vor dem Terror in ihrem Heimatland. Wegen des in vielen Fällen nichtstaatlichen Charakters des Terrors in Algerien erhalten diese Flüchtlinge nach unseren sehr strengen Asylgesetzen in Deutschland kein Asyl. Weil die Lage in Algerien aber unabweisbar dramatisch ist, ist es in den letzten Tagen zu einer Debatte darüber gekommen, ob man für sie nicht ein Abschiebestopp verhängen sollte.
Die Innenministerkonferenz hat eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall zugesagt, wenn es denn bei der Rückführung um Gefahr für Leib und Leben geht. Dieses Versprechen ist das Papier nicht wert, auf dem es abgegeben wurde.
Wenn der Gesetzentwurf durchkommt, dann wird diesen algerischen Flüchtlingen jede materielle Unterstützung entzogen. Sie haben dann gar keine Alternativen, außer sich entweder in die Kriminalität zu flüchten - arbeiten dürfen sie ja nicht, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen - oder in ihr Heimatland zurückzukehren. Das halte ich für eine besonders niederträchtige Form, um Abschiebebegehren durchzusetzen.
Deutsche Behörden haben die Abschiebung mit Verweis auf die gefährliche Lage in Algerien ausgesetzt. Dann wird die Abschiebung durch den Entzug der materiellen Lebensgrundlagen hinterrücks erzwungen, ohne daß sich ein einziger Polizist die Finger schmutzig machen muß. Der Rechtsstaat wird damit ad absurdum geführt, das Sozialrecht in sein Gegenteil verkehrt. Es soll nicht länger sozialen Schutz gewähren, sondern durch den Entzug des sozialen Schutzes soll massiver Druck zum Verlassen des Landes ausgeübt werden. Diese Perversion des Sozialrechts trifft auf unseren erbitterten Widerstand.
Reden wir noch von einer anderen Gruppe, von den rund 200 000 bosnischen Flüchtlingen und von den Kosovo-Albanern. Der neugewählte Präsident der Republika Srpska, Dodik, hat angekündigt, sein Land wolle die Flüchtlinge wieder aufnehmen. Diese Ankündigung kann er aber nicht von einem Tag auf den anderen umsetzen, ohne dem Wiederaufbauprozeß in seinem Lande schweren Schaden zuzufügen.
Andrea Fischer
Wovon aber sollen die bosnischen Flüchtlinge in den nächsten Monaten, die bis zu ihrer Rückkehr in ihr Land vergehen mögen, leben, wenn dieser Gesetzentwurf durchkommt und ihnen die materielle Unterstützung unterzogen wird? Mir drängt sich der Verdacht auf, daß der großen Koalition der Law-and-order-Politiker eine erhöhte Kriminalität von Flüchtlingen in den nächsten Wahlkampfmonaten nicht ungelegen käme: Man hätte ein Thema, mit dem man von den ungelösten innenpolitischen Problemen ablenken könnte.
Mich macht es richtig fassungslos, zu welchen Gemeinheiten man rechtsstaatliche Mittel nutzen kann.
Nehmen wir die Kosovo-Albaner. Trotz schwerster Verfolgung erhalten sie wegen des restriktiven Asylrechts hier kein Asyl. Mit Jugoslawien wurde ein Rückübernahmeabkommen vereinbart, das in der Praxis nur zu einer sehr langsamen Rückkehr führt, weil Jugoslawien nur wenige Menschen aufnimmt. Obwohl wegen dieses Abkommens die Rückkehr nicht möglich ist, wollen Sie die Menschen aus Deutschland vertreiben, indem Sie sie dem Hunger aussetzen. Es macht mich unglaublich zornig, mit welchem Zynismus Menschen hier in eine rechtliche Falle gejagt werden, aus der sie sich nur durch neuerliche Flucht befreien können: durch eine Flucht genau in das Land, aus dem sie zuvor vor der Verfolgung geflohen sind.
Das Asylbewerberleistungsgesetz selbst war bereits der Sündenfall. Damals haben Sie ein geteiltes Existenzminimum eingeführt. Seitdem haben wir zwei Klassen von Armen. Im nächsten Schritt haben Sie die Zahl der Menschen, die nur die schlechten Leistungen erhalten, dramatisch ausgeweitet. Jetzt muten Sie ihnen zu, drei Jahre von Eßpaketen und mit eingeschränkter medizinischer Versorgung zu leben.
Nun geht man noch einen Schritt weiter und entzieht den Betroffenen jedwede Unterstützung. Falls es überhaupt noch Leistungen gibt, dann in Form von Almosen und nach freiem Ermessen der Sozialbehörde. Ich hätte es mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorgestellt, daß mein Land mit fein säuberlichen rechtsstaatlichen Vorschriften Menschen in die Not treibt, anstatt ihre Menschenrechte zu schützen.
Mit der drastischen Einschränkung des Asylrechts und mit der Abschottung der Grenzen haben Sie die Zahl derjenigen, die in unserem Land Zuflucht finden können, ohnehin schon stark dezimiert. Dann sollten Sie wenigstens diejenigen, die es überhaupt noch hierher schaffen, anständig behandeln.
Heute behaupten Sie, Sie würden unseren Sozialstaat vor Mißbrauch schützen.
Morgen werden wir alle merken, daß wir unserer Selbstachtung und Würde großen Schaden zugefügt haben, indem wir solche ungeheuerlichen Vorgänge zugelassen haben. Werfen Sie nicht alle Ansprüche an Rechtsstaat und Menschenwürde über Bord!