Herr Kollege Schäuble, ich bin gern bereit, zurückzunehmen, daß Sie sich auf der Rückwärtsbewegung befinden. Das ist ohne jeden Zweifel richtig. Ich stimme Ihnen sogar zu: Eine Senkung der Lohnnebenkosten allein würde nicht reichen. Die Einführung einer Ökosteuer ist eine Strukturreform, die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist keine, mein Lieber. Das müßt ihr bei der ganzen Sache bedenken.
Wenn wir über Strukturreformen reden - ich finde, das ist ein sehr gutes Argument des Kollegen Schäuble -, dann sage ich Ihnen: Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, eine reine Umfinanzierung reicht nicht, sondern eine Ökosteuer - eine Erhöhung der Steuern auf den Energieverbrauch insgesamt und insofern nicht nur eine Erhöhung der Mineralölsteuer - würde meines Erachtens einen strukturellen Effekt auch auf die Öffnung neuer Märkte und damit auf neue Arbeitsplätze auslösen, den Sie mit Ihrer Mehrwertsteuererhöhung nicht bekommen.
Nun weiter: Herr Kollege Schäuble, ich stimme Ihnen sogar ausdrücklich zu, daß wir die Strukturreform - ich habe Ihnen gerade gesagt, was mit uns machbar ist - brauchen. Wir brauchen die Strukturreform, und Sie hätten sie längst anpacken müssen. Jetzt komme ich aber zum entscheidenden Unterschied, den ich vor der deutschen Öffentlichkeit klarstelle:
Wir würden gern einer Nettoentlastung zustimmen; denn wir sehen in hohen Steuersätzen und hohen Steuerlasten für die Bürgerinnen und Bürger keinen Selbstzweck. Wozu denn? Nichts wäre für eine Opposition leichter und schöner, als die Regierung wegen zu hoher Steuern zu geißeln und zu sagen: Wenn wir an die Regierung kommen - so versprechen wir -, werden die Steuern um den Faktor X, Y oder Z in einem Abwertungswettbewerb gesenkt.
Nur: Hat das etwas mit der Haushaltsrealität zu tun? Hat ein solches Versprechen etwas mit einer verantwortlichen Politik für unser Land zu tun?
Wir würden uns auf F.D.P.-Niveau begeben, wenn wir das täten.
Davor bewahre uns ein gütiges Schicksal.
Der entscheidende Punkt, Herr Kollege Schäuble, in dem wir uns unterscheiden - da liegt der eigentliche Dissens -, ist nicht die Notwendigkeit der Strukturreform, sondern die Nettoentlastung, die Sie vorschlagen. Auch da wären wir bereit zuzustimmen, wenn Sie endlich eine seriöse Gegenfinanzierung vorstellen würden. Das Prinzip Hoffnung, daß es sozusagen einen Selbstfinanzierungseffekt geben wird, werden wir Ihnen angesichts der Haushaltslöcher nicht abnehmen können.
Joseph Fischer
Ich will Ihnen etwas sagen: 1997 haben wir einen Fehlbetrag in Höhe von 71 Milliarden DM, der mittlerweile aufgelaufen ist. In 1998 pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß dieser Haushalt unseriös ist. Mein Kollege Metzger hat gestern im Haushaltsausschuß zu Recht den Antrag gestellt, endlich die Beratungen bis zur nächsten Steuerschätzung auszusetzen, damit wir nicht über reine Zahlenfiktionen reden, sondern wissen, welche Zahlen einigermaßen seriös sind. Mit diesem Finanzminister haben wir diesbezüglich ja schon die tollsten Erfahrungen gemacht.
Wie wollen Sie denn angesichts eines zusätzlich aufgetauchten und nicht finanzierten Defizites von 71 Milliarden DM noch eine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM finanzieren? Real läuft das auf ein zusätzliches Haushaltsloch von über 50 Milliarden DM hinaus.
Gleichzeitig vertagen Sie mehr und mehr Probleme - auch die heutige Aktion zeigt das wieder - in die Zukunft. Sie wissen so gut wie ich, daß die Telekom-Aktien nicht einfach auf die hohe Kante gelegt wurden, sondern die zukünftigen Pensionsverbindlichkeiten decken sollten, die sich aus der Privatisierung ergeben. Die werden Sie nun ab dem Jahre 2000 ebenfalls aus dem Bundeshaushalt dekken müssen.
Beim Bundeseisenbahnvermögen haben Sie die Tilgung bereits storniert, ausgesetzt bzw. gestreckt, wie es mittlerweile heißt. Es gibt eine Vielzahl anderer Dinge, zu denen ich sage: Die Haushaltspolitik hat schon längst den Boden kalkulierbarer Seriosität verlassen. Dies gilt besonders, wenn ich mir ansehe, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt.
Herr Kollege Schäuble, in diesem Zusammenhang kommen Sie mit einer Nettoentlastung. Ich würde mir das sogar gefallen lassen, wenn Sie entsprechende Finanzierungsvorschläge für die Nettoentlastung gebracht hätten. Diese haben Sie mit Fug und Recht nicht gebracht. Sie wollten auf der einen Seite die Nettoentlastung in der „kleinen Koalition" mit der F.D.P. nach der Devise „Steuergeschenke für die Vermögenden und Reichen" machen, aber gegenfinanziert werden sollte es auf der anderen Seite mit der Opposition. Dies kann nicht aufgehen, denn eine Opposition, die zu diesem Konzept Ja sagt, würde sich an ihrem Wählerauftrag - auch eine Opposition hat einen Wählerauftrag nicht nur für das Allgemeinwohl, sondern auch für die Menschen, die sie gewählt haben - schlicht versündigen. Es wäre schlicht ein Wahlbetrug an den Wählerinnen und Wählern gewesen, die uns gewählt haben.
Dann kommt ihr jetzt sichtlich erleichtert hierher. Das war richtig zu merken. Daß ihr euch heute morgen nicht noch öffentlich geküßt habt, war alles. Aber das kommt vielleicht noch.
Die Erleichterung ist groß. Die Koalition ist bis auf weiteres gerettet. Am 11. November 1997 schauen wir weiter, was dann kommt. Sind die Steuerschätzungszahlen gut, bleibt die Stimmung heiter, sind sie schlecht, erleben wir in der Koalition wieder eine vorgezogene Karwoche. Heute seid ihr erleichtert. Es sei euch zu gönnen.
Nun zum Thema Steuererhöhungen. Der Vorschlag des Kollegen Solms war: Wir senken die Steuern, indem wir die Versicherungssteuer erhöhen. Keiner wollte für diesen politischen Wechselbalg hinterher die Verantwortung übernehmen. Das scheint vom Tisch zu sein. Es ist etwas gefunden worden, was - zumindest nach unserer Information - eigentlich zum Haushaltsausgleich 1998 vorgesehen war; da hattet ihr in der abschließenden Sitzung ja auch ein paar Probleme. Das wird jetzt schon einmal vorneweg verfrühstückt, nicht wahr?
Sie müssen aber schon gestatten, daß wir das näher und vor allen Dingen unter dem Gesichtspunkt betrachten, den Sie selbst angeführt haben: Strukturreformen. Diese Koalition der Strukturreformen, diese strukturellen Großreformatoren:
Wo sind denn jetzt Strukturreformen? Die Aktion „Goldschatz" - eine echte Strukturreform!
Was ihr heute vorgelegt habt, hat mit Strukturreform nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Es ist ein reiner Buchhaltertrick, eine Vertagung auf die Zukunft.
Aber eines muß man dieser Koalition lassen: Sie ist ästhetisch kreativ. Wie hat der Bundesfinanzminister immer für den Solidaritätszuschlag argumentiert? Der Solidaritätszuschlag wurde eingeführt, um den Erblastentilgungsfonds zu bedienen und abzubauen. Das muß man sich einmal vorstellen. Das mit dem Solidaritätszuschlag ist mittlerweile eine Leidensgeschichte, sie gleicht einem Irrentheater: rein, raus, rein und jetzt wieder raus. Wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden, gibt es vermutlich irgendwann wieder ein „rein".
Dieser Bundesfinanzminister macht heute einen Vorschlag, von dem er nicht überzeugt sein kann, wenn er seine fünf Sinne noch beieinander hat. Mit Strukturreform hat dies überhaupt nichts zu tun.
Herr Kollege Waigel, der Soli-Zuschlag war eingeführt worden, um den Erblastentilgungsfonds zu bedienen. Jetzt erklären Sie: Wir brauchen ihn für drei
Joseph Fischer
Jahre gar nicht zu bedienen, die Zinsen sind so niedrig. - Bleiben sie denn so niedrig? Was macht denn Theo Waigel, wenn die Bundesbank ein anderes Zinssignal gibt? Das ist eine spannende Frage.
Aber man liest in allen seriösen Wirtschaftsblättern: Dieser Finanzminister fährt nur noch auf kürzeste Sicht ohne Brille. Von Vorsorge ist da keine Rede mehr.
Aber Sie wissen doch so gut wie ich, Kollege Waigel, mit Strukturreform hat das alles nichts zu tun. Auch mit seriöser Haushaltspolitik hat das alles nichts zu tun. Sie versuchen, die Lösung der Probleme in die Zukunft hineinzuverlagern. Sie haben mit Ihrer Entscheidung nur ein Problem gelöst, kurzfristig ein Koalitionsproblem, aber mitnichten ein Haushaltsproblem.
Meine Damen und Herren, diese Koalition versucht, sich mühselig über die Runden zu retten. Die Interessen unseres Landes führen Sie noch im Mund; aber wenn es wirklich um Strukturreformen geht, erweisen Sie sich intern als handlungsunfähig. Schon bei 7,5 Milliarden DM hatten Sie Probleme, die Sie gerade über 14 Tage hinweg vorexerziert haben. Man könnte in einem Anfall von Ironie fast sagen: Oskar Lafontaine hat diese Koalition gerettet. Denn was hättet ihr wohl gemacht, wenn ihr 30 Milliarden DM Nettoentlastung aus eigener Kraft hättet aufbringen müssen? Das hättet ihr doch niemals hinbekommen. Das wissen Sie doch so gut wie ich. Deswegen wollten Sie die Bundesländer und die SPD in diese Aktion einbinden.
Sie haben die Interessen des Landes schon längst zugunsten des bloßen Machterhalts dieser Koalition aufgegeben. Das beweist die heutige Aktion erneut. Deswegen sage ich Ihnen: Wenn weiterhin eine Regierung an der Macht ist, die zu struktureller Erneuerung unfähig ist, dann wird dieses Land weit zurückfallen. Dann wird der Aufbau Ost weiter stagnieren. Dann wird dieses Land auseinandergetrieben, statt zusammengehalten zu werden. Genau darum wird es aber in Zukunft gehen. Die Wählerinnen und Wähler werden dies zu entscheiden haben.