Rede von
Kerstin
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man mag es erfreulich finden, daß wir in diesem schönen Plenarsaal so nett zusammensitzen. Aber wenn man dieser Debatte gefolgt ist, dann muß man feststellen: Das Vernünftigste am heutigen Tag war, daß wir über die Lage an der Oder gesprochen haben. Ich hoffe, daß das den Betroffenen auch nutzt. Ansonsten war diese Debatte bisher nicht mehr als eine einzige Wahlkampfshow. Das war auch zu erwarten.
Diese ganze Sondersitzung war von vornherein ganz einfach überflüssig. Wir hätten nämlich alle Ergebnisse aus dem Vermittlungsausschuß genauso gut im September verhandeln können,
weil vor dem September sowieso nichts mehr passiert: Weder tagt der Bundesrat noch gibt es ein neues Vermittlungsverfahren. Deshalb gibt es keinen sachlichen Grund für diese Sitzung. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, hätten uns und den Steuerzahlern diese Sitzung besser erspart.
Die große Steuerreform ist mit dem Beschluß des Vermittlungsausschusses gescheitert. Das ist in der Tat bedauerlich. Es ist bedauerlich, weil wir wirklich eine große Steuerreform brauchen. Wir brauchen eine deutliche Vereinfachung des Steuerrechts. Wir brauchen einen drastischen Abbau von Möglichkeiten, das Steuerzahlen zu vermeiden und zu umgehen. Davon profitieren nämlich nur Leute mit großen Einkommen. Wir brauchen eine deutliche Entlastung
Kerstin Müller
für Menschen mit geringem Verdienst und vor allen Dingen für Haushalte mit Kindern.
Sie vergießen hier jetzt Krokodilstränen über den Standort Deutschland, der von der angeblichen Blokkadepolitik der Opposition zugrunde gerichtet wird. Dann schauen wir uns doch einmal an, warum diese Steuerreform gescheitert ist. Das Steuerreformkonzept der Koalition konnte nicht Gesetz werden; es durfte nicht Gesetz werden. Das hat mit Blockadepolitik gar nichts zu tun, sondern ganz einfach mit der Qualität Ihrer Vorlage.
Ihr Konzept war nicht seriös, und es war nicht solide finanziert. Wir haben doch erst im Juni erlebt, wie kritisch es um den Bundeshaushalt steht. Wie mühselig hat Herr Waigel die Millionen zusammengekratzt, um Ihren Haushalt wenigstens auf dem Papier auszugleichen. Die Aktion Goldfinger wird niemand so schnell vergessen.
Die letzte Steuerschätzung brachte Einnahmeausfälle von 18 Milliarden DM. Nach der aktuellen IfoStudie werden die Ausfälle noch größer werden als im Mai erwartet. Dann, meine Damen und Herren von der Koalition, legen Sie ein Steuerreformkonzept vor, das neue, zusätzliche Löcher in Höhe von mindestens 45 Milliarden DM in die öffentlichen Haushalte reißen sollte. Das war von vornherein völlig abwegig. Herr Repnik, an diesem Punkt haben Sie uns in den Verhandlungen kein genaues und konkretes Angebot gemacht. Sie sind bei Ihrem Riesenloch geblieben. Das ist nicht zu verantworten, und deshalb sind wir nicht weiter aufeinander zugegangen.
Ein solches Konzept hätte vielleicht 1992 oder 1993 noch eine Chance gehabt. Damals waren die Spielräume größer. Aber damals wollten Sie keine Reform. Damals hat Herr Waigel das Bareis-Gutachten zunächst einmal in den Papierkorb geworfen. Aber heute: Die langsame Erholung der neuen Länder, viel langsamer als erwartet; die Kosten der deutschen Einheit, deren Schulden wir noch viele Jahre abbezahlen werden; die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit; der große, über Jahre aufgestaute Nachholbedarf in Forschung und bei den Universitäten; wegbrechende Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen. In solchen Zeiten ist für solche Manöver einfach kein Spielraum.
Deshalb haben selbst koalitionsregierte Länder im Bundesrat nicht etwa freudige Zustimmung zu Ihrer Reform erklärt. Bayern, CSU-regiert, und Baden-Württemberg, regiert von CDU und F.D.P., haben im Gegenteil mit eigenen Anträgen die Anrufung des Vermittlungsausschusses gefordert. Der Vorwurf der Wahltaktik fällt also auf Sie selbst zurück. Platter kann man Wahlkampf nicht betreiben als mit Versprechungen, für die man selbst keine müde Mark zur Verfügung hat.
Ihre Taktik war auch ziemlich durchsichtig. Sie von der Koalition versprechen erst einmal Steuersenkungen, Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger und für die Industrie. Das klingt zunächst gut, und das ist auch wichtig, für die Steuersenkungsexperten von der F.D.P. geradezu überlebenswichtig. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Bundesrat dem zustimmt, war gleich Null. Denn das wäre der Ruin nicht nur für den Bundeshaushalt, sondern auch für die Haushalte der Bundesländer gewesen. Die Steuererhöhungen und Leistungskürzungen zur Finanzierung Ihrer Steuergeschenke sollte dann das Vermittlungsverfahren bringen. Wochenlang haben Sie zum Beispiel das Wort Mehrwertsteuererhöhung gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Erst im Vermittlungsausschuß sind Sie damit herausgerückt. Steuerentlastungen mit der Klientelpartei F.D.P. und Steuererhöhungen mit der Opposition - diese Rechnung, Herr Repnik, konnte nicht aufgehen.
Ihr Konzept war auch extrem sozial ungerecht. Herr Voscherau hat zu Recht noch einmal auf die Ergebnisse des baden-württembergischen Rechnungshofes hingewiesen. Menschen mit einem Jahreseinkommen von stolzen 250 000 DM zahlen heute im Durchschnitt real 25 Prozent Steuern. Bei diesen Leuten nun die große Entlastung anzusetzen, ist nicht sozial gerecht. Genau das hatten Sie vor: enorme Entlastung für die Spitzenverdiener - ein Drittel der Entlastung allein für die oberen zehn Prozent -, aber wenig oder nichts für die normalen Einkommen. Das untere Fünftel der Haushalte sollte bei Ihrer Steuerreform völlig leer ausgehen. Es sollte sogar durch eine höhere Mehrwertsteuer die Entlastung der Reichen und Superreichen mitfinanzieren. Das ist Umverteilung zur Freude der F.D.P., aber keine Reform, auf die die Opposition sich einlassen kann.
Sie haben an diesem Steuerkonzept mit dem Charme und der Beweglichkeit eines stillgelegten Güterbahnhofs festgehalten. Herr Gerhardt hat sogar ganz offen gesagt: Lieber scheitern lassen als verwässern! Das heißt: Ihre Gesprächsbereitschaft war gleich null. Wer, bitte schön, blockiert hier wen?
Dann kam eine Sache, die ich wirklich empörend finde. Wir entnehmen der „FAZ" vom 29. Juli 1997, die Koalition bewege sich und wolle einen neuen Vorschlag machen, der nur 15 Milliarden DM koste. Ich finde auch diesen Vorschlag absurd, denn auch die 15 Milliarden DM sind durch nichts gedeckt. Aber immerhin ist das ein Zeichen von Bewegung. Herr Repnik erklärt und Herr Schäuble wiederholt, wie toll sich die Koalition bewegt habe. Manche
Kerstin Müller
Leute haben das sogar geglaubt. Nur: Sie haben diese Vorschläge nie eingebracht.
- In keiner Arbeitsgruppe und auch nicht im Vermittlungsausschuß selbst haben Sie ein solches Angebot auf den Tisch gelegt.
Sie haben der Öffentlichkeit erklärt, Sie seien kompromißbereit, aber davon war am Verhandlungstisch nichts zu sehen.
Zu Ihren Blockadelegenden möchte ich folgendes klarstellen, Herr Repnik. Wir haben in diesem Sommer ungefähr 50 Stunden - ich glaube, es waren mehr - verhandelt. Ich habe einmal nachgerechnet: Wir haben vielleicht fünf Stunden zur großen Steuerreform verhandelt. Das war gerade einmal ein Zehntel der Zeit. Der Rest das wissen Sie genau - war ein einziges Tauziehen um vernünftige Regelungen bei der Gewerbekapitalsteuer. Das wurde dann noch dadurch unterbrochen, daß Sie vor der Tür klären mußten, was der F.D.P. noch zuzumuten wäre, zum Beispiel wenn es um die Grundgesetzänderung geht. Das hat uns so viel Zeit gekostet. Wenn Sie jetzt so tun, als hätten wir über die Zukunft des Standortes Deutschland verhandelt und diese leichtfertig verspielt, dann ist das schlicht nicht wahr, dann waren Sie in einer anderen Verhandlung als ich.
Sie hatten die Steuerreform nach kürzester Zeit abgeschrieben. Sie haben sich in den Verhandlungen keinen Millimeter bewegt. Sie haben Ihr Steuerkonzept als Fertigmenü aufgetischt und sind jetzt empört, daß wir als Opposition das nicht heruntergewürgt haben. Das ist kein fairer Umgang zwischen Bund und Ländern. Fairer Umgang ist etwas anderes: Man muß dann schon bereit sein, das Menü gemeinsam zu kochen.
Bei den vorliegenden Konzepten gibt es viele Überschneidungen. Natürlich wären Einigungen und Kompromisse möglich gewesen. Aber Sie sind in der Koalition ja so blockiert, daß Sie sich selbst nicht mehr rühren können.
Machen Sie neue, realistische Vorschläge! Kommen Sie endlich auf den Teppich und lassen Sie uns nach Lösungen suchen!
Jetzt wollen Sie also ein weiteres Vermittlungsverfahren beantragen.
Ich sage Ihnen: Solange Sie keine neuen und seriösen Angebote machen, muß auch dieses Verfahren scheitern.
Jeder hier im Saal, der an den vergangenen Verhandlungen teilgenommen hat, weiß das - auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition. Deshalb ist dieses Verfahren überflüssig wie ein Kropf. Es hat nur einen einzigen Zweck. Es geht um den Solidaritätszuschlag. Sie wollen Zeit gewinnen, Zeit für den Streit mit der F.D.P., ob der Soli auch ohne Steuerreform gesenkt werden soll oder nicht. Herr Sohns erklärt zum Thema Soli, die Senkung komme auf jeden Fall, egal wie. Die CDU solle gefälligst ihre Ministerpräsidenten im Osten zur Räson bringen. Das Wie sei ihr Problem. Übrigens ein interessantes Verständnis vom Bundesrat! Dagegen erklärt Herr Finanzminister Waigel zum Thema Soli: Wer das will, muß mir sagen, wie wir das gegenfinanzieren wollen.
Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Aber Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., haben dazu gleich ja noch Gelegenheit.
Nun rückt also die Stunde der Wahrheit näher: Umfallen oder raus aus der Regierung? Es geht doch längst nicht mehr um kompromißfähige Lösungen; es geht längst nicht mehr um die Solidarität mit dem Osten. Es geht nur noch um das Überleben der F.D.P.
Das ist Ihre aktuelle Misere. Diese Selbstblockade der Koalition lähmt nicht nur die Verhandlungen im Vermittlungsausschuß, sie lähmt die Stimmung im ganzen Land. Der Porsche-Chef Wiedeking sagte so treffend: Viele Leistungsträger halten sich zurück, weil sie nicht wissen, wohin der Zug fährt. Wie sollten sie auch, wenn im Stellwerk komplettes Chaos herrscht?
Die Selbstblockade der Koalition sieht man noch an einem anderen Punkt, nämlich bei der Senkung der Lohnnebenkosten. Der Vermittlungsausschuß hat dazu einen Vorschlag gemacht: Wenn Sie ernsthaft Arbeitsplätze schaffen wollen, müssen Sie hier Bewegung zeigen. Die Senkung der Lohnnebenkosten um zwei Punkte bringt etwa 200 000 neue Arbeitsplätze.
Wir Bündnisgrünen wollen die Sozialbeiträge durch die ökologische Steuerreform senken, wir wollen die Steuern insbesondere auf den Energieverbrauch erhöhen, um im Gegenzug die Lohnnebenkosten senken zu können. Nur auf diese Weise erhält die Wirtschaft entscheidende Modernisierungsimpulse, die auch zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen. Solange wir die ökologische Steuerreform nicht
Kerstin Müller
energisch angehen, werden wir die Strukturprobleme nicht in den Griff bekommen.
Nun hat sich die SPD offenbar als Zeichen von Kompromißbereitschaft bereit erklärt, die Senkung der Lohnnebenkosten teilweise durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu finanzieren. Wir halten das aus zwei Gründen für sehr problematisch: Erstens hat die Mehrtwersteuer keine ökologische Lenkungswirkung. Zweitens bedeutet die Erhöhung der Mehrwertsteuer schlicht und einfach ein Stück Inflation. Fast alle Preise werden steigen, und das ist natürlich besonders für die Menschen bitter, die jetzt schon niedrige Einkommen beziehen oder arbeitslos sind. Diese Menschen merken dann nur eines: Sie zahlen höhere Steuern. Deswegen halten wir nichts von einer Mehrwertsteuererhöhung und werden uns zu diesem Punkt des Vermittlungsergebnisses der Stimme enthalten.
Den heutigen Vorschlag der Koalition, die Lohnnebenkosten um einen Punkt zu senken und dafür die Mehrwertsteuer zu erhöhen, werden wir ablehnen. Er ist nämlich nicht nur unsozial, er ist auch halbherzig. Von dem einen Prozentpunkt, um den Sie senken wollen, werden bereits 0,3 Prozentpunkte zum 1. Januar 1998 allein durch die Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung aufgefressen. Das wird nicht reichen, um auf dem Arbeitsmarkt wirklich etwas zu bewegen.
Es geht hier übrigens um Steuererhöhungen. Mich würde interessieren, was die Steuersenkungshelden von der F.D.P. dazu sagen. Das ist hier leider noch nicht angesprochen worden, aber die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat ja nun nichts mit Steuersenkungen zu tun.
Man muß den Eindruck gewinnen, daß sich die Koalition eigentlich schon selbst aufgegeben hat. Da sagt Herr Gerhardt: Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht.
Das ist ein wirklich beispielloser Satz. Damit leisten Sie, Herr Gerhardt, damit leistet diese Regierung im Grunde, einen Offenbarungseid.
Die Verantwortung für die verfahrene Situation trägt allein der Herr Bundeskanzler, der jetzt leider nicht da ist.
Er hat sich völlig verkalkuliert, weil er an den Niederungen der Tagespolitik keinen Anteil mehr nimmt,
weil er sich meilenweit von den Ängsten und Sorgen der Menschen im Lande entfernt hat und weil er nicht mehr in der Lage ist, die Zukunft des Landes zu gestalten.
Mich würde interessieren, ob er einen ganz konkreten Vorschlag dazu hat, wie es mit der Steuerreform weitergehen soll, wie neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, wie auch in so schwierigen Zeiten wie den jetzigen Solidarität mit den Schwächsten erhalten werden kann. Ich fürchte, da wird nicht viel kommen; denn er hatte ja Gelegenheit dazu vor der Sommerpause. Da hat er uns 14 Monate Wahlkampf angekündigt und keine konkrete politische Initiative ergriffen.
Ich fürchte, wir werden auf Hintze-Niveau 14 Monate lang immer dieselbe Debatte darüber erleben, wer schuld daran ist, daß in der Bundesrepublik nichts vorangeht. Was für eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger: statt Problemlösung, statt politischer Gestaltung 14 Monate Wahlkampf auf Hintze-Niveau.
Einmal angenommen, alles das, was Sie in den letzten Tagen öffentlich erklärt haben, wäre richtig, einmal angenommen, es wäre wirklich so, daß Herr Lafontaine ein Schreckensregiment über die SPD-Ministerpräsidenten errichtet hat, daß die SPD wegen der bevorstehenden Bundestagswahl den Bundesrat mißbraucht und blockiert, daß eine rot-grüne Wahlkampftaktik die Verhältnisse in Deutschland lenkt, daß diese Regierung nicht mehr regieren kann, sondern nur noch machtlos ist, was müßte dann die Konsequenz sein?
Wenn das so wäre, dann gäbe es nur eine Alternative: Dann müssen die Wählerinnen und Wähler entscheiden, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger an der Urne die politische Lähmung beenden, dann muß es Neuwahlen geben, und zwar jetzt. Das ist die einzige Konsequenz aus Ihrem Gejammere.
Wenn Sie sich so blockiert sehen, dann verbinden Sie doch einen neuen, seriösen Vorschlag zur Senkung der Lohnnebenkosten mit der Vertrauensfrage. Wenn die F.D.P. noch einen letzten Rest von Glaubwürdigkeit hat, dann müßte sie sofort aussteigen, und der Weg für Neuwahlen wäre frei.
Es gibt nur einen einzigen Grund, warum Sie diesen Weg nicht gehen, weil Sie nämlich sofort an das Wahldebakel Ihres Freundes Jacques Chirac denken, Herr Bundeskanzler, weil Sie Angst haben, bei Neuwahlen endlich die Quittung für Ihre verfehlte Politik zu bekommen. Die reine Angst vor dem Wähler treibt Sie dazu, weiterzuwursteln wie bisher - zum Schaden aller.
Kerstin Müller
Herr Bundeskanzler, werden Sie Ihrer Richtlinienkompetenz gerecht! Stellen Sie sich der Wählerentscheidung! Machen Sie den Weg für Neuwahlen frei, und zwar jetzt!