Rede von
Karl
Lamers
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich den Kollegen Scharping richtig verstanden habe, dann hat er gemeint, die Bundesregierung habe dem Beschäftigungskapitel zugestimmt,
- ja -, obwohl sie es nicht gewollt habe.
Aber wenn der Kollege Scharping so ehrlich gewesen wäre, wie er es von der Bundesregierung gefordert hat, dann hätte er sagen müssen, daß der Streit nicht um die Frage „Beschäftigungskapitel und Koordinierung der Wirtschaftspolitik" ging, sondern um den Inhalt der Politik.
Hier kann ich nur zitieren - vollkommen zustimmend -:
Die Aufgabe, das eigene Haus in Ordnung zu bringen, wird einem von keiner supranationalen Organisation abgenommen. Hier ist die nationale Politik selbst in der Pflicht.
So Oskar Lafontaine. Es fällt mir nicht leicht, ihn mit Zustimmung zu zitieren, aber hier hat er ohne jeden Zweifel recht.
In diesem Sinne sind in Amsterdam die Entschließungen zum Beschäftigungskapitel und zum Stabilitätspakt gefaßt worden. Deswegen stimmen wir beidem uneingeschränkt zu, weil das genau dem Inhalt unserer Politik entspricht.
Herr Kollege Scharping, bei den Aufgaben im eigenen Haus sind Sie und Ihre Kollegen von der SPD es doch, die uns dauernd hindern: gestern bei der Steuerreform, heute bei der Rentenreform und vorgestern bei der Gesundheitsreform.
Herr Bundeskanzler, Sie haben recht: Denver war ein wichtiger Schritt zur weiteren Heranführung und Eingliederung Rußlands in die westlichen Strukturen. Schon deswegen ist dies erfreulich.
Wir sollten die Unterzeichnung des europäischamerikanischen Abkommens über die gegenseitige Anerkennung der Produktionsstandards nicht unterschätzen; denn das ist von manchen als der wichtigste Fortschritt in den transatlantischen Handelsbeziehungen seit langer Zeit bezeichnet worden.
Ich glaube, daß die Vorschläge des Gipfels, ein globales Netzwerk zur Überwachung global tätiger Finanzinstitute zu schaffen und hierfür verbindliche Richtlinien zu formulieren, auch von grundlegender Bedeutung sind; denn eine immer dichtere, eine supranationale, eine globale Wirklichkeit braucht immer dringlicher verbindliche supranationale Regelungen. Hierfür haben ohne jeden Zweifel die westlichen Länder und Japan eine besondere Verantwortung.
Diese Verbindlichkeit erfordert die Bereitschaft, sich einem gemeinsamen Recht zu unterwerfen. Diese Fähigkeit haben die Europäer zweifelsfrei weiter entwickelt als irgendeine andere Gruppe von Staaten. Insofern sind die Europäer ein Modell.
Bei den Amerikanern ist diese Bereitschaft aus verständlichen Gründen wesentlich weniger entwickelt. Aber die anderen, die großen aufstrebenden Nationen werden niemals zu einer solchen Eingliederung bereit sein, wenn nicht die USA, die mächtigste Nation, ebenfalls dazu bereit sind. Die Amerikaner davon zu überzeugen, dazu sind nur die Europäer in der Lage, aber auch nur, wenn sie mit einer Stimme sprechen. Ich erinnere daran, daß die Welthandelsorganisation insofern ein großartiger Erfolg gerade für Europa gewesen ist.
Natürlich ist es zu bedauern, daß es den Europäern in Denver noch nicht gelungen ist, die Amerikaner zu einer verbindlichen Reduzierung der Klimagase zu bewegen.
Aber das wird kommen.
Herr Bundeskanzler, Ihre Rede vor den Vereinten Nationen wie auch Ihre gemeinsame Initiative mit Brasilien, Südafrika und Singapur waren nach meiner Überzeugung von größter symbolischer Bedeutung.
Auch wenn ich gegen eine rein symbolische Politik bin,
so glaube ich doch, daß man auf diesem Felde klare Symbole setzen muß, wenn man zu gemeinsamem Handeln kommen will. Was wäre eigentlich besser geeignet, klarzumachen, daß es notwendig ist, eine gemeinsame Politik zwischen Industrie- und anderen Ländern zu führen, als die Luft, die wir alle gemeinsam atmen?
Es besteht also Anlaß, Ihnen für Ihr Engagement in Denver und für Ihre Rede in New York zu danken.
Dasselbe gilt für Amsterdam. Meine Damen und Herren, unversehens hat sich in Amsterdam der Abschluß des Stabilitätspaktes, der eigentlich nur noch eine formelle Angelegenheit sein sollte, als genauso wichtig erwiesen wie die institutionelle Reform der Union. Das gilt mindestens in dem Sinne, als ein Scheitern auch die Währungsunion und damit das Schlüsselprojekt für den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses in Gefahr gebracht hätte. Es ist Ihr Verdienst, Herr Bundesfinanzmi-
Karl Lamers
nister, diesen Stabilitätspakt überhaupt zustande gebracht und ihn völlig unverändert über die letzte schwierige Hürde in Amsterdam gebracht zu haben. Das ist überhaupt nicht hoch genug zu veranschlagen. Meine Fraktion dankt Ihnen ausdrücklich dafür.
Die zentrale Bedeutung des Stabilitätspaktes konnte man in den letzten Wochen an den Finanzmärkten ablesen. Auf die französischen Wahlen haben die Finanzmärkte zunächst ganz gelassen reagiert. Aber als der Eindruck - mag er auch verkehrt gewesen sein - entstand, der Stabilitätspakt würde in Frage gestellt, da haben sie nervös und negativ reagiert.
Das macht ein weiteres Mal in aller Deutlichkeit klar: Für die Märkte, für die durch sie erzeugbare Stabilität und Instabilität von Wechselkursen, für Zinskonvergenz oder -divergenz ist weniger entscheidend, was im Moment ist, als vielmehr ihre Erwartung von dem, was sein wird. Ihre Frage ist: Können wir den Regierungen vertrauen, daß sie den Kurs der Stabilität nachhaltig fortsetzen, ja oder nein?
Das Festhalten am Stabilitätspakt ist für die Märkte das Signum für Nachhaltigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Dieses Vertrauen haben sie in den vergangenen Jahren und Monaten zunehmend gezeigt und mit geringeren oder gar - wie etwa im Falle Frankreichs - ganz verschwundenen Risikoaufschlägen für die Zinsen auf Staatsanleihen und mit Wechselkursstabilität belohnt. Dieses Vertrauen ist auch berechtigt. Denn alle Staaten haben in den vergangenen Jahren ganz unglaubliche, von niemandem für möglich gehaltene Fortschritte
bei der Reduzierung ihrer Budgetdefizite und bei der Bekämpfung der Inflation erzielt. Ohne den Maastrichter Vertrag wäre das niemals geschehen.
Meine Damen und Herren, man muß einmal daran erinnern: Es ist uns doch vor einigen Jahren völlig unvorstellbar erschienen, daß die Inflation im Schnitt der Europäischen Union auf ganze 1,7 Prozent sinkt und in Italien nur noch 1,6 Prozent - mit weiter sinkender Tendenz - beträgt.
Ich frage mich in allem Ernst: Was soll angesichts dieser Tendenz das Gerede von einem schwachen Euro?
Der Binnenwert des Euro wird so stark sein wie der der D-Mark. Was den Außenwert angeht, hat Wim Duisenberg in seinem letzten Bericht als Chef der niederländischen Zentralbank auf etwas sehr Interessantes hingewiesen. Er hat gesagt: Der braucht uns in Zukunft nicht mehr zu bekümmern, als er auch die Vereinigten Staaten, was den Dollar angeht, bekümmern muß. Helmut Schmidt hat in der „International Herald Tribune" gemeint, daß die äußere Stabilität des Euro wegen seines größeren Geltungsbereichs größer als die der D-Mark sein wird. Wir sollten daher mehr die phantastisch niedrigen Inflationsraten mit weiter zurückgehender Tendenz im Auge haben und darüber mit unseren Bürgern sprechen. Denn das ist es, woran sie zu Recht die Stabilität festmachen. Deshalb sollten wir nicht, wie das einige tun, versuchen gegen besseres Wissen eine Zahl mit einer Kommastelle als Symbol für Stabilität hochzustilisieren. Diese Bedeutung hat diese Zahl nachweislich nicht.
Denn andernfalls wäre, da es im vergangenen Jahr ein Defizit von 3,8 Prozent in Deutschland und von 4 Prozent in Frankreich gab, das ganz unglaubliche Maß an Stabilität, von dem ich gesprochen habe, überhaupt nicht erklärlich.
Ich weiß - das will ich mit allem Nachdruck sagen -: Da es auf die Nachhaltigkeit ankommt, kommt es darauf an, daß wir die strukturellen Reformen wirklich fortsetzen oder in manchen Ländern erst richtig in Gang setzen.
Aber es ist auch meine feste Überzeugung: Nur mit einer, durch eine und in einer Währungsunion können wir diese Reformen durchsetzen, nicht ohne eine solche Währungsunion. Nur durch sie können wir das umfassende Modernisierungs- und Gesundungsprogramm der europäischen Volkswirtschaften durchsetzen, nicht ohne sie. Dabei geht es um unsere Zukunftsfähigkeit. Deswegen sage ich: Wer die Währungsunion nicht will, wer sie hintertreibt, versündigt sich an der Zukunftsfähigkeit Europas und seiner Völker.
Ich habe bereits gesagt, daß wir das Beschäftigungskapitel und die Erklärung zur Beschäftigung von Amsterdam nachdrücklich begrüßen, weil all das, von dem ich gerade gesprochen habe, nämlich die strukturellen Reformen, in ihnen verankert sind.
Karl Lamers
Es hat in Amsterdam und vorher eine Diskussion mit Frankreich gegeben. Ich will deswegen an dieser Stelle ein Wort an Frankreich richten: Die Verankerung des Beschäftigungskapitels und die Erklärung zum Stabilitätspakt machen deutlich, daß wir dasselbe Ziel, und zwar ein doppeltes, haben: nicht nur die Wiederherstellung oder die Festigung unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sondern gleichermaßen eine solidarische, eine soziale Gesellschaft, auch deswegen, weil ohne eine solche solidarische Gesellschaft nicht nur die Stabilität dieser Gesellschaft, sondern auf Dauer natürlich auch die Stabilität der wirtschaftlichen Entwicklung gefährdet wäre.
Wir müssen über den Weg reden, wie wir dieses Ziel erreichen. Deutschland befand sich in Amsterdam in Übereinstimmung mit allen Ländern; das muß ich einmal mit allem Nachdruck feststellen. Ich glaube, daß die neue französische Regierung bereits auf dem Wege ist, mißverstandene Signale, die sie ursprünglich gesetzt hatte, zu korrigieren. Wir sollten dem Dialog zwischen Frankreich und Deutschland über diese Fragen höchste Aufmerksamkeit widmen, nicht zuletzt im Vorfeld des sogenannten Beschäftigungsgipfels, der im Herbst dieses Jahres stattfinden soll.
Die Wirtschafts- und Währungsunion ist Teil der politischen Union, sogar ein zentraler Teil. Wir haben in Maastricht zu Recht beklagt, daß die anderen Teile bislang zu kurz gekommen sind. Nun haben wir durch den Vertrag von Amsterdam einen großen Fortschritt auch in den anderen Bereichen der politischen Union erzielt. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist gestärkt worden. Bei der Ausführung gemeinsamer Strategien sind jetzt Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit der Regelfall. Wer sich auf besondere nationale Interessen berufen will, muß eine Ausnahmebestimmung in Anspruch nehmen. Das ist, wie ich finde, ein deutlicher Fortschritt, ein Schritt hin zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit. Die Aufnahme der Petersberg-Aufgaben der WEU in den Vertrag und die Schaffung der Leitlinienkompetenz gegenüber der WEU bedeuten ebenfalls eine sichtbare Veränderung des Vertrages hin zu besserem Krisenmanagement.
Die Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und Rechtspolitik ist grundlegend weiter verbessert worden. Ja, durch die Vergemeinschaftung von Asylrecht, Visapolitik, Kontrolle der Außengrenzen, Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Drittstaatler und justitieller Zusammenarbeit wie durch die Integration von Schengen in den EU-Rahmen haben wir in diesem Bereich Fortschritte erzielt, die über unsere vorsichtigen Erwartungen deutlich hinausgingen.
Es gibt sogar - wer hätte das eigentlich für möglich gehalten? - zumindest Ansätze für operative Zuständigkeiten von Europol. Es gibt auch eine sehr wichtige Neuerung in der dritten Säule, nämlich die Einführung der Quasi-Richtlinien.
Was die parlamentarische Kontrolle angeht, Frau Wieczorek-Zeul, so meine ich, haben sich die Verfahren für die Beteiligung des Deutschen Bundestages und die gesetzlichen Grundlagen für die Beteiligung
der Länder bewährt. In diesem Rahmen werden wir Lösungen finden.
Die Effizienz und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sind also gestärkt worden, wobei dies - das will ich hinzufügen; auch der Bundeskanzler hat es gesagt - nicht überall in dem Maße geschehen ist, wie wir es uns gewünscht haben. Aber solche Verträge sind immer Kompromisse. Jedenfalls gibt es einen Fortschritt.
Es ist wahr, die Reform der Kommission ist unzulänglich. Die Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten ist ein Fortschritt. Aber das andere ist problematisch. Vor allem das Fehlen einer Regelung bezüglich der Neugewichtung der Stimmen im Rat könnte bei der Erweiterung Probleme schaffen. Aber ich meine, wir sollten uns an die Erfahrungen erinnern, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Wenn ein ausreichend starker Druck vorhanden ist, dann gibt es auch eine Einigung. Ich bin sicher, daß der Druck der Beitrittsverhandlungen dazu führen wird, daß wir bei der notwendigen Reform auch hier Fortschritte erzielen.
Der vielleicht größte Gewinner der Verhandlungen von Amsterdam - auch das hat kaum jemand für möglich gehalten - ist das Europäische Parlament,
das, wie der ehemalige Präsident Hänsch zu Recht festgestellt hat
- der neue leider nicht, Kollege Haussmann; aber ich glaube, der Kollege Hänsch versteht noch genug von diesen Dingen, um ein zutreffendes Urteil dazu abgeben zu können -, in einem Maße Rechte erhalten hat, wie man es sich vor zehn Jahren überhaupt nicht hätte vorstellen können.
Ich will das, was der Bundeskanzler zu der strategischen Bedeutung der Flexibilitätsklausel gesagt hat, mit allem Nachdruck unterstreichen. Das ist wirklich eine strategische Weichenstellung, die lange Zeit kaum möglich erschien.
An dieser Stelle will ich auch einen Dank an die Briten richten. Sie haben unsere Vorschläge nicht in dem Maße akzeptiert, wie wir es uns gewünscht haben. Aber es hat sich gezeigt: Die neue britische Regierung versucht wirklich, konstruktiv in Europa mitzuarbeiten. Das sollten wir anerkennen.
Amsterdam war ein wesentlicher Fortschritt im europäischen Integrationsprozeß. So gefestigt, können wir uns der nächsten großen Herausforderung stellen, nämlich der Erweiterung. Herausforderung bedeutet Chance und Risiko. Wir würden unseren künftigen Mitgliedern wie uns selbst den größten Gefallen tun, wenn wir bei aller Nüchternheit stärker die Chancen sähen, unseren gesamten Kontinent als eine Zone der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands, als ebenbürtigen Akteur an der Seite der
Karl Lamers
USA - und nicht für immer unter deren Fittichen - sowie als ein Modell für die Welt zu gestalten, in dem freie, starke und selbstbewußte Völker eine neue, den Erfordernissen der Gegenwart angemessene Form des Zusammenlebens finden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.