Rede von
Christian
Sterzing
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Darin sind wir uns doch einig: Wir brauchen Europa; wir brauchen eine starke Politische Union, die auf die Herausforderungen, denen sich Europa gegenübersieht, vorbereitet ist. In Ihren Ausführungen, Herr Außenminister, haben Sie zum wiederholten Male gesagt, wir seien auf einem guten Weg. Aber ich glaube, wir alle wissen, wir sind nicht auf einem guten Weg. Gemessen an den Herausforderungen, an den Hoffnungen und auch an den Versprechungen sind die Ergebnisse, die sich für Amsterdam abzeichnen, äußerst mager, ja in vielen Richtungen zeichnen sich gefährliche Weichenstellungen in die falsche Richtung ab.
Nicht nur die absehbaren Ergebnisse von Amsterdam, vor allem auch Ihre Verhandlungsstrategie bei der Regierungskonferenz machen deutlich, daß Sie, Herr Kinkel, sich von vielen Visionen eines vereinten Europa weitgehend verabschiedet haben, auch wenn Sie sie heute wieder so vollmundig beschworen haben.
Vor wenigen Tagen - anläßlich des 50. Jahrestages des Marshall-Planes - haben Sie jenseits aller europapolitischen Sonntagsreden eine viel deutlichere Sprache gesprochen. Sie zitierten zunächst Ihre amerikanische Kollegin, Frau Albright, die von „der Realisierung des am schwersten faßbaren Traums dieses Jahrhunderts - eines vereinten, stabilen und demokratischen Europas" sprach. Sie fuhren selber fort:
In der Tat: Die Europäische Union wird sich in den nächsten 20 Jahren um ein Drittel vergrößern und rund ein Drittel mehr Einwohner hinzubekommen. Ein Großteil dieser Staaten wird durch eine gemeinsame Währung, enge militärische Zusammenarbeit in WEU und NATO sowie gemeinsame Verbrechensbekämpfung und Asyl- und Zuwanderungsregelungen verbunden sein.
Ist das Ihr Traum, Herr Kinkel? Ist das Ihre Vision vom zukünftigen Europa? Immerhin, Sie machen deutlich, wo Sie Ihre Prioritäten setzen: Geld, Militär und Polizei. Indem Sie von der Verbundenheit nur eines „Großteils" der EU-Staaten sprechen, machen Sie auch deutlich, daß Sie das Ziel eines gemeinschaftlichen Integrationsprozesses aller EU-Staaten im Grunde schon aufgegeben haben. Das Kerneuropa-Konzept läßt grüßen! Flexibilisierung der Integration heißt deshalb Ihre Zauberformel. Zwar ist noch nicht klar, welche Gestalt die Integration in Amsterdam endgültig annehmen wird, doch die deutschen Vorschläge bedeuten aus unserer Sicht einen integrationspolitischen Sprengsatz für Europa.
Die Prioritäten, die in dieser Rede deutlich wurden, finden Sie alle in den Initiativen der Bundesregierung im Rahmen der Regierungskonferenz wieder. Innere und äußere Sicherheit, das waren die Themen der Bundesregierung - konkret: Militarisierung der EU durch die angestrebte institutionelle Verschmelzung mit der WEU, Ausdehnung der operativen und auch der exekutiven Befugnisse von Europol und Sicherung der Außengrenzen. Also: Sicherheitsapparate nach innen, Abschottung nach außen und Reduktion der außenpolitischen Handlungsfähigkeit auf die Schaffung von militärischen Handlungsoptionen.
Sie sprechen von Fortschritten in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und auch in der Innen- und Justizpolitik. Aber „Fortschritte " heißt für Sie: Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen ohne ausreichende parlamentarische und gerichtliche Kontrolle. Es droht ein Europa der Regierungen an Stelle dessen, was wir uns alle wünschen: ein Europa der Bürger.
Das Europäische Parlament mußte sich mit Händen und Füßen gegen den drohenden Verlust von Rechten wehren; ich hoffe, mit Erfolg. Aber es ist doch bezeichnend, daß es dieses Kampfes des Europäischen Parlaments überhaupt bedurfte. Das EP ist immer noch keine gleichberechtigte Gesetzgebungskammer. Mit dem Demokratiedefizit auf europäischer Ebene ist es wie mit dem Haushaltsdefizit auf nationaler Ebene: Trotz - oder muß man sagen: wegen? - aller Anstrengungen der Bundesregierung werden die Löcher immer größer. Das Bekenntnis der Bundesregierung zur Stärkung der Demokratie in der EU hat sich im Laufe der Verhandlungen doch weitgehend als ein Lippenbekenntnis erwiesen.
Die Liste der Versäumnisse ließe sich beliebig verlängern. Lassen Sie mich ein paar Punkte, die für die Akzeptanz der Union in der Bevölkerung besonders wichtig sind, erwähnen.
Umweltpolitik: wohlklingende Textergänzungen, die aber folgenlos bleiben werden, da konkrete Konsequenzen für die Umsetzung in einzelnen Politikbereichen nicht gezogen werden.
Kosmetische Vertragsänderungen und -ergänzungen auch zum Thema Grundrechte: ein zahnloses Diskriminierungsverbot, ein zu nichts verpflichtender Artikel zum Thema Gleichstellung von Frauen und Männern, ein Akteneinsichtsrecht, das praktisch auf ein Gnadenrecht reduziert wird, und Datenschutzregelungen, die in entscheidenden Bereichen der Europäischen Union, zum Beispiel bei Europol, gar keine Geltung haben.
Christian Sterzing
Beispiel Beschäftigungspolitik: Hier ist es so off en-sichtlich wie kaum woanders, welch bremsende Rolle die Bundesregierung in vielen Bereichen der Verhandlungen gespielt hat. Da hilft es auch nichts, wenn sie jetzt kurz vor Toresschluß publikumswirksam umfällt und selbst die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag nun ein Beschäftigungskapitel fordern. Wir wissen doch: Spätestens seit dem Gipfel in Dublin hat sich die Bundesregierung mit Händen und Füßen nicht mehr gegen ein Beschäftigungskapitel, wohl aber gegen eine wirksame europäische Beschäftigungspolitik gewehrt - wie es aussieht, leider mit Erfolg. Denn was jetzt unter dem Etikett Beschäftigungskapitel auf dem Tisch liegt, ist längst nicht mehr das, wofür sich viele andere europäische Regierungen in den letzten Monaten eingesetzt haben und was sich noch im irischen Vertragsentwurf in substantiellen Regelungen niedergeschlagen hat. Bereits der niederländische Vertragsentwurf atmet die Luft von Neoliberalismus und Deregulierung. Die Aufnahme eines nichtssagenden Beschäftigungskapitels garantiert keineswegs eine wirksame europäische Beschäftigungspolitik. Von diesem Etikettenschwindel - auch im Antrag der Regierungskoalition - sollte man sich auf keinen Fall täuschen lassen.
Aber das paßt in das Bild Ihrer Prioritäten, Herr Außenminister: die gemeinsame Währung, die Herrschaft des Marktes - das alles soll keinem politischen Korrektiv mehr unterworfen werden. Sie wollen alles verhindern, was auch nur im mindesten den Primat des Binnenmarktes tangiert oder gefährdet. Das, was an neoliberaler Politik der Deregulierung und des Sozialabbaus auf nationaler Ebene nicht mehr umgesetzt werden kann, das wollen Sie jetzt im Stabilitätspakt und auch im Beschäftigungskapitel auf europäischer Ebene umsetzen. Aber wir hoffen, das wird nicht gelingen.
Das ist natürlich auch der Kern des Streites mit der französischen Regierung über ein beschäftigungspolitisches Zusatzprotokoll zum Stabilitätspakt. Wir wollen den Euro.
Doch als Instrument für eine neoliberale Politik wollen wir ihn nicht. Wir wollen eine Beschäftigungspolitik, um die Risiken der Währungsunion zu minimieren. Deshalb sagen wir: Diese Währungsunion bedarf dringend einer Einbettung in eine Beschäftigungs- und Sozialunion.
Geben Sie deshalb Ihr Bemühen auf! Die neoliberale, monetaristische Medizin hat Europa wirklich nicht geholfen, hat es nicht gesund gemacht, im Gegenteil. Öffnen Sie sich deshalb den Impulsen, die aus Frankreich kommen, und machen Sie bei einem substantiellen Beschäftigungskapitel mit!
Europa muß sozialer werden. Es muß demokratischer werden. Es muß politische Instrumente erhalten, um die natürlichen Lebensgrundlagen schützen und den Frieden in Europa sichern zu können. Schritte in diese Richtung, nicht mehr und nicht weniger, erwarten wir von Amsterdam. Dazu bedarf es
jedoch einer Bundesregierung, die das wirklich will und die sich dafür einsetzt. In der „Süddeutschen Zeitung" war heute zu lesen:
Keine Währungsunion ohne eine Politische Union, so hatte es Helmut Kohl vor Maastricht versprochen. ... Daß Kohl die Politische Union in Maastricht nicht bekam, war nicht schlimm. Schlimm ist, daß er sie inzwischen nicht einmal mehr anstrebt.
Statt Geld, Polizei und Militär müssen nach unserer Überzeugung Demokratie, Beschäftigung, Umwelt und Frieden die Leitbilder sein, an denen sich der Prozeß der Integration in Europa orientiert.