Frau Präsidentin! Liebe wenige Kolleginnen und viele Kollegen! Herr Kollege Irmer, ich finde es ein bißchen einfach, den Beamten, die einen solchen Text schreiben müssen, Inspirationslosigkeit vorzuwerfen.
Überlegen Sie doch einmal, woran das liegt - vielleicht an der Politik der Bundesregierung, die Ihnen kaum ermöglicht, ihre Inspirationen und ihre Ideen in die Tat umzusetzen.
Ich finde die Bestandsaufnahme in den Antworten auf die Große Anfrage einigermaßen informativ und interessant. Nachdem hier ewig und drei Tage die Bundesregierung und verschiedenste Gremien Westeuropas gelobt wurden,
möchte ich an dieser Stelle eigentlich nur eines feststellen: Wenn man die Antworten gelesen hat, wäre es angebracht, einmal festzustellen, daß die Leistungen, die die Völker der Staaten Mittel- und Osteuropas in diesen Reform- und Transformationsprozessen zu erbringen haben und erbringen, gigantisch sind
- dies nicht, weil es eingeimpft oder vorgeschrieben wäre, sondern weil sie mit unwahrscheinlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die unter anderem mit der Politik der EU, der NATO und der Bundesregierung zusammenhängen.
Einen Teil der Antworten finde ich allerdings eher peinlich, und zwar den, wo begonnen wird, eine Art Erfolgsstory der Bundesregierung zusammentragen zu lassen. „Maßgeschneidert für den jeweiligen Entwicklungsstand" habe man die Perspektive einer Mitgliedschaft in den Integrationsstrukturen eröffnet, so steht es original in der Antwort.
Wenn man sich das Eingangszitat vom Kollegen Francke, der jetzt leider nicht mehr hier ist, noch einmal in Erinnerung ruft, zeigt das eines: Die Strategie ist nicht etwas Maßgeschneidertes, sondern ein ziemlich langweiliger westlicher Einheitsschnitt, der im Grunde genommen einen wirklichen Spielraum in der Entwicklungsstrategie dieser Länder kaum eröff-
Andrea Gysi
net, der vorgibt, das zu akzeptieren, was vom Westen in diese Länder sozusagen verpflanzt werden soll.
- Das, glaube ich, ist eine arrogante Feststellung: Die Länder wollen die Verwestlichung. Ich glaube kaum, daß Sie in Gesprächen mit Ihren osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen sagen: Ihr wollt doch die Verwestlichung! Also freßt oder sterbt! - Das nämlich ist die Devise, die daraus resultiert.
Die Beitrittsstaaten sollen allein für die Anpassung an die vorgegebenen Bedingungen verantwortlich gemacht werden. Die Weichen der Annäherung wurden auf eine Art politische Union mit militärpolitischen Kompetenzen gestellt, ohne tatsächlich Entscheidungsspielraum zu lassen.
Es ist aber kontraproduktiv, den Beitrittskandidaten aus dem westeuropäischen Erfahrungshorizont politische und ökonomische Entscheidungen vorschreiben zu wollen. Die Völker wollen ihr Schicksal selbst bestimmen.
Ein stabiles Nachbarschaftsverhältnis funktioniert bekanntlich nur bei gegenseitiger Anerkennung der Verantwortungshoheit, ganz abgesehen davon, daß man wieder einmal die Chance vertut, die Kooperation, die Annäherung und das Zusammenleben von über 100 Millionen Menschen mit eigener Geschichte, eigenen Erfahrungen und eigener politischer Willensbildung für einen Neuansatz auch der Politik in Westeuropa zu nutzen.
Die Art und Weise der Herstellung der deutschen Einheit sollte eigentlich Lehre genug sein.
Diese Staaten brauchen nicht nur eine klare Beitrittsperspektive bezüglich EU mit ausreichenden Übergangsfristen usw., sondern maximale Mitspracherechte bei der Ausgestaltung ihrer in der Tat nicht einfachen Heranführung an die EU.
Drei Grundpfeiler sind aus unserer Sicht entscheidend:
Erstens sollten alle Staaten, die es wollen, konsultative Mitglieder der EU werden und in dieser Eigenschaft an den Diskussionen innerhalb der EU gleichberechtigt teilnehmen können. Das gilt selbstverständlich auch für die Regierungskonferenz zu Maastricht II.
Zweitens sollten die Seiten in einem wirklich gemeinsamen Arbeitsgremium Festlegungen treffen können, die für die EU- wie die Beitrittsstaaten verbindlich sind. Es sollte ein hochrangiges Gremium zur praktischen Gestaltung der Zusammenarbeit sein. Dann würden beispielsweise bereitgestellte EU-Fördergelder wirklich für Investitionen eingesetzt werden und nicht in erster Linie wie bisher in westliche Beratungsunternehmen zurückfließen.
Bislang fehlt es an einem Gesamtkonzept für die Außenwirtschaftsförderung, übrigens auch aus Sicht der deutschen Industrie. Das gilt nicht so sehr für die Großkonzerne, sondern vor allem für den Mittelstand, der seit langem darauf wartet, Transparenz bei außenwirtschaftlichen Trägern, Programmen und Fördermöglichkeiten zu erlangen.
Drittens sollten die MOE-Staaten schrittweise ihre Vollmitgliedschaft erreichen, indem sie in allen Bereichen, in denen dies möglich ist, Teilmitglieder werden können.
Ich möchte noch ein weiteres Problem nennen, das meines Erachtens auf die osteuropäischen Beitrittsstaaten zukommt. Wenn 1999 tatsächlich die Währungsunion eingeführt werden sollte, dann werden mit Sicherheit jene Fragen in den Vordergrund treten, die sich aus der Heranführung derjenigen EU- Mitglieder ergeben, die nicht von Anfang an der Geldunion angehören. Man braucht kein Prophet zu sein, um abzusehen, daß angesichts der dann auftretenden Probleme in Westeuropa die Zusammenarbeit mit den ost- und südosteuropäischen Staaten stark in den Hintergrund treten wird. Die Leidtragenden werden die Menschen in diesen Ländern sein, die massiven sozialen Verwerfungen ausgesetzt sein werden.
Die letzten Minuten, die mir von meiner ohnehin knappen Redezeit verbleiben, möchte ich mich mit dem Thema NATO-Ostausdehnung befassen. Eine solche Gewichtung ließen übrigens die Kolleginnen und Kollegen vermissen. Auch empfinde ich es als etwas arrogant, den osteuropäischen Staaten, insbesondere Rußland, vorzuwerfen, sie seien so auf die Diskussion um die NATO-Ostausdehnung fixiert. Es ist der Westen, es sind die NATO-Staaten, die diese Fixierung hervorgerufen und erzwungen haben. Bei der NATO-Ostausdehnung ist eine Art Testfeld für die politische und wirtschaftliche Kooperation initiiert worden.
Die Integrationskandidaten haben ohnehin enorme ökonomische und soziale Umbrüche zu bewältigen, von den ökologischen gar nicht zu reden. Tatsächlich aber werden sie gezwungen, mit diesen Problemen möglichst alleine fertigzuwerden. Außerdem werden sie dem Konflikt mit Rußland ziemlich alleine ausgeliefert. Einen großen Teil der auf sie zukommenden finanziellen Lasten für die Um- und Aufrüstung in ihren Ländern, für die Herstellung der Kompatibilität mit NATO-Armeen etc., werden die Beitrittsstaaten selbst tragen müssen. Ich möchte einmal wissen, wie Sie die Frage danach, wie das bezahlt werden soll, eigentlich beantworten wollen.
Fest steht, die Osterweiterung der NATO wird durchgeführt; die Termine sind gesetzt. Es geht für Sie hier gar nicht mehr um das Ob, sondern besten-
Andrea Gysi
falls um das Wie. Klar ist: Egal, wie das Wie aussieht, Sie wollen es durchziehen.
Die ständigen Beteuerungen, die Osterweiterung richte sich nicht gegen Rußland, die russischen Befürchtungen seien gänzlich unbegründet, werden durch die führenden NATO-Staaten selbst laufend ad absurdum geführt. Auch in der Antwort auf die Große Anfrage wird dankenswert offen die Strategie - übrigens auch hinsichtlich der WEU - angesprochen, die dazu führen soll, Europa militärisch handlungsfähig und die NATO zum Militärbündnis Nummer eins in der Welt zu machen. Das alles ist in der Antwort auf die Große Anfrage wunderbar dargestellt. All das muß aber dazu führen, daß die Befürchtungen nicht nur in Rußland, sondern auch in osteuropäischen und westeuropäischen Staaten aufkommen.
Das sogenannte Angebotspaket an Rußland kann in der Tat nur dann als ein Zugeständnispaket angesehen werden - so, wie Sie es auch verkaufen wollen -, wenn man Rußland nicht als wirklich befreundeten Staat akzeptieren will. Denn wenn man seitens der Bundesregierung tatsächlich ein freundschaftliches Verhältnis zu Rußland pflegen will, dann werden in diesem Angebotspaket nur regelrechte Selbstverständlichkeiten zu finden sein.
Deshalb ist das, was der Westen zur Besänftigung der russischen Diskussion um die NATO-Ostausdehnung vorschlägt, eigentlich kein Zugeständnispaket, sondern ein ziemlich dreister Versuch, den sauren Apfel, in den Rußland beißen soll, schmackhaft zu machen und Rußland über diesen Konflikt in irgendeiner Form hinwegzuhelfen. Dabei ist gleichzeitig klar, daß man sich ohnehin durchsetzen wird.
Aus unserer Sicht kann es nur eine Möglichkeit geben, diesen Konflikt mit Rußland beizulegen: auf die NATO-Ostausdehnung zu verzichten und endlich eine Kehrtwende in der europäischen Sicherheitspolitik einzuläuten, das heißt, die OSZE zur Grundlage zu machen, um den Ausbau eines solchen militärischen Bündnisses zu verhindern und abzurüsten, abzurüsten und nochmals abzurüsten.
Ich danke Ihnen.