Rede von
Ulrich
Irmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Lieber Kollege Poppe, wenn einem Bericht, der ersichtlich - notwendigerweise, zwangsläufig und richtigerweise - von Beamten verfaßt wurde, eine gewisse Inspiration fehlt, dann halte ich das für normal.
Es wäre erschreckend, wenn es anders wäre. Es ist jetzt an uns hier, das nötige Maß an Inspiration hineinzubringen, und das werde ich jetzt versuchen.
Wir haben hier ein ernsthaftes Problem. Meine Partei hat sich sehr frühzeitig und sehr intensiv und leidenschaftlich dafür eingesetzt, und zwar von Anfang an, seit dem Umbruch 1989/90, daß wir unsere bewährten westlichen Institutionen für die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas öffnen. Das haben die Koalition und auch die Bundesregierung mit größter Beharrlichkeit betrieben, übrigens dankenswerterweise von der Opposition vehement unterstützt. Das will ich hier anerkennend feststellen.
- Von der SPD immer und von Bündnis 90/Die Grünen in Teilen, die ich vorhin schon charakterisiert habe.
Aber wenn wir jetzt in die akute Phase treten, in der konkrete Beitrittsverhandlungen beginnen können, dann sollten wir - da nehme ich sehr ernst, was Markus Meckel hier gesagt hat - natürlich nicht vergessen, daß dies allenfalls ein sehr unzulänglicher Zwischenschritt in der Gesamtentwicklung ist, die wir anstreben. Diese Gesamtentwicklung muß sein, daß wir gesamteuropäische Strukturen schaffen, daß wir eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aufbauen, daß wir gesamteuropäische Wirtschafts- und Sozialstrukturen finden und daß wir damit nachhaltig zu Stabilität auf dem gesamten Kontinent beitragen.
Wer heute meint - das ist eine gewisse Gefahr bei der Konzentration der Debatte allein auf die Beitrittsverhandlungen -, mit der Aufnahme einiger ausgewählter Länder in die NATO und auch in die Europäische Union seien die Probleme mehr oder weniger erledigt, und wir könnten uns dann zurücklehnen und sagen: „Was sind wir doch großartig, und was haben wir alles geschafft", der irrt natürlich. Ich sehe zwei große Probleme, denen wir uns widmen müssen, und ich meine auch mehr, als wir das bisher getan haben. Wir müssen die Vorbehalte, die Rußland uns tagtäglich entgegenhält, ernst nehmen. Ich plädiere auf keinen Fall dafür, von unserer klaren Position abzugehen, daß niemand ein Vetorecht hat, wenn Staaten von ihrem in der Charta von Paris verbrieften Recht Gebrauch machen, daß sie über die Zugehörigkeit zu einem Bündnis nach ihrer Wahl selbst bestimmen. Da gibt es kein Veto, da gibt es kein Wackeln, da gibt es kein Vertun. Aber wenn die Folge sein könnte, daß das in anderen Bereichen zu weniger Stabilität führt, dann muß das ernstgenommen und in den Beitrittsverhandlungen sowie bei der Durchführung dieses Projekts bedacht werden.
Übrigens gilt das, wie ich fürchte, nicht nur in Richtung Rußland. Ich halte die Gründe, die die Russen vortragen, für wenig überzeugend. Die Russen wissen ganz genau, daß die NATO keine Aggressionen ihnen gegenüber entwickelt, weder in dem Zustand, in dem sie heute ist, noch nach einer etwaigen Öffnung, nach dem Beitritt weiterer Mitglieder. Die NATO ist nie aggressiv gewesen. Sie ist es heute weniger denn je, und sie wird es in Zukunft noch weniger sein. Im übrigen ist sie weit mehr als ein militärisches Bündnis; sie ist eine Stabilitätsgemeinschaft und auch eine Wertegemeinschaft.
Ulrich Irmer
Nein, ich sehe die größere Gefahr darin, daß diejenigen Länder, die in der ersten Runde, und zwar was beide Beitritte betrifft, aus objektiven Gründen nicht dabeisein können, in einer Weise reagieren könnten, die dem gesamteuropäischen Zusammenhalt abträglich wäre. Es besteht die große Gefahr, daß sie sich zurückgesetzt und zurückgestoßen fühlen. Deshalb müssen wir sehr darauf achten - das ist auch eine Frage der Psychologie -, daß wir nicht diejenigen, die in der ersten Runde nicht dabei sind oder die in absehbarer Zeit, in den nächsten Jahren, nicht beitreten können, von Anfang an zu den Outs erklären. Es muß vermieden werden, daß sich diese Länder als ausgestoßen, als nicht zugehörig fühlen. Sonst schaffen wir nämlich mehr Probleme, als wir vielleicht durch die Integration der wenigen „erwählten" Länder lösen.
Deshalb - hier ist, glaube ich, von keiner Seite des Hauses schon ausreichend nachgedacht worden, wir müssen uns wirklich anstrengen, Möglichkeiten wie Überleitungsbestimmungen und Zwischenschritte zu einer Mitgliedschaft zu finden - und weniger des Prestiges halber, das da immer beschworen wird, halte ich es für so wichtig, daß die erste Runde der Beitrittsverhandlungen - ich rede jetzt von der Europäischen Union - von allen gleichzeitig wahrgenommen werden kann, daß alle, die einen Antrag gestellt haben, nach der Eröffnung dieser Konferenz mit am Tisch sitzen und daß dann gesagt wird: Es gibt objektive Gründe, weshalb ihr in der ersten konkreten Verhandlungsrunde über Einzelheiten nicht dabei seid. Wir wollen euch aber ermutigen. Wir wollen euch dabei helfen, dafür zu sorgen, daß die Voraussetzungen, die heute noch fehlen, so bald wie möglich geschaffen werden.
Noch etwas: Wir sollten bei den Ländern, die bereits so weit sind oder die kurz davor stehen, nicht den Fehler machen, zu sagen: Ja, aber es gibt noch ungelöste Probleme. Deshalb kommt die Vollmitgliedschaft erst einmal nicht in Frage. - Wenn es ungelöste Probleme gibt - ich erwähne hier beispielsweise die Landwirtschaft -, dann müssen wir sagen: Diesen geben wir eine möglicherweise langjährige Überleitungsfrist. Der politische Wille aber muß klar sein - dies ist hier schon erwähnt worden -: die politische Mitwirkung, wo immer sie möglich ist. Das wird uns auch bei den dringend notwendigen Reformen innerhalb unserer Europäischen Union weiterhelfen.
Lassen Sie mich am Schluß noch eines sagen: Europa ist mehr als Sicherheit, mehr als Außenpolitik, mehr als Wirtschaft. Ein Thema, dem wir uns ebenfalls widmen sollten: Durch die jetzt mögliche Öffnung haben wir die Chance, an das anzuknüpfen, was in früheren Jahrhunderten einmal Bestand hatte und von blutrünstigen Diktatoren, von den Nazis und den Stalinisten, kaputtgeschlagen worden ist: an die gesamteuropäische Kultur. Wir müssen uns mehr um die kulturelle Dimension des gesamteuropäischen Einigungsprozesses kümmern, damit wir aus der Vielfalt all derer, die dazu beisteuern, die kulturelle und damit auch die seelische Kraft schöpfen können, die Europa braucht, um seine Probleme zu bewältigen.
Danke schön.