Rede von
Oskar
Lafontaine
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Frau Bundespräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
- Vielen Dank, Herr Glos. Wo kämen wir hin, wenn Sie nicht da wären und nicht zur rechten Zeit die richtigen Stichworte geben würden?
Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich, Herr Bundeskanzler, hat die deutsche Öffentlichkeit mit Spannung auf Ihre Regierungserklärung gewartet.
- Den jungen Mann sollten Sie sich merken. Das war Repnik. Aus dem Mann sollte noch etwas werden. Ein tüchtiger Mann ist das. Merken Sie sich ihn!
Natürlich haben wir mit großer Spannung auf Ihre Regierungserklärung gewartet. Denn es ist nicht alltäglich, daß Minister aus den eigenen Reihen zum Rücktritt aufgefordert werden. Es ist nicht alltäglich, daß sich Minister mit Rücktrittsgedanken tragen, daß schon andere Namen gehandelt werden und daß auch Sie zitiert werden: „Wenn das so weitergeht, schmeiße ich den Krempel hin."
- Herr Bundeskanzler, daß wir das gern hätten, das ist richtig. Aber es gibt immer mehr, die auf der Regierungsseite sitzen und das gern hätten. Ich weiß nicht, ob Sie das in den letzten Tagen bemerkt haben.
Natürlich gab es die Frage: Werden Sie jetzt den Versuch unternehmen, Ihre Politik zu ändern, da die Politik nachgewiesenermaßen nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die Sie erreichen wollten? Das ist unstreitig.
Wir haben bei der Neujahrsansprache von Ihnen wörtlich hören können: „Wir Deutschen" - wir unterstellten, daß Sie sich damit auch selbst gemeint hatten - „können nicht einfach weitermachen wie bisher."
- Sie sehen, wenn Sie etwas Richtiges sagen, bekommen Sie auch von der Opposition Beifall, Herr Bundeskanzler. „Wir Deutschen können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wer dies versucht, verspielt unsere Zukunft."
Nun hören wir heute mit etwas Erstaunen: Die Bundesregierung läßt sich nicht beirren.
Sie wird ihren Reformkurs konsequent fortsetzen, um Arbeitsplätze in Deutschland attraktiver zu machen.
Wenn die Arbeitslosen jetzt hören, daß Sie sich bei Ihrem Reformkurs nicht beirren lassen wollen, dann wird ihnen klar, daß sie überhaupt keine Aussichten mehr haben, in der nächsten Zeit einen Arbeitsplatz zu finden; denn Ihr Reformkurs hat nun einmal dazu geführt, daß die Arbeitslosenzahlen entgegen Ihren Zielen von Jahr zu Jahr ständig angestiegen sind.
Es ist schon erstaunlich, wie wenig lernfähig diese Regierung ist. Ich wiederhole: Wir brauchen uns hier zunächst einmal gar nicht über die Methoden auseinanderzusetzen. Wir sollten auf die Ergebnisse schauen. Wir sollten einfach akzeptieren, daß die Ergebnisse darüber urteilen, ob eine Politik richtig oder falsch ist.
Es ist richtig: Wenn die Arbeitslosenzahlen steigen, dann ist die Politik falsch. Da die Arbeitslosenzahlen Jahr für Jahr steigen und Sie jedes Jahr die gleiche Rede halten können, Herr Bundeskanzler, ist Ihre
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Politik falsch. Die Schlußfolgerung daraus lautet: Diese Politik muß geändert werden.
Sie nennen richtigerweise Lehrsätze der Wirtschaftspolitik: Wenn wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dann müssen wir die Investitionsschwäche überwinden, dann müssen wir Strukturreformen vorantreiben und Forschung und Innovation stärken.
Sie haben sich seit Jahren vorgenommen, die Investitionsschwäche der deutschen Wirtschaft zu überwinden. Erstaunlich ist, daß Sie auch bei diesem Ziel gescheitert sind. Der Jahreswirtschaftsbericht - man sollte ihn genau lesen und vorurteilsfrei beurteilen - kommt schlicht und einfach zu dem Ergebnis, daß Ihre Analysen und daher auch die Vorschläge, die Sie in den letzten Jahren gemacht haben, falsch waren.
Ihre Analysen - landauf, landab von vielen verstärkt und immer wieder vorgetragen - waren: Wir leiden an einer extremen Standortschwäche. Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Also müssen wir alles tun, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken: über Steuersenkungen für Unternehmen, Lohnzurückhaltung und Kürzung sozialer Leistungen.
Sie predigen das Jahr für Jahr, obwohl die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erwiesen ist. In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht steht doch, daß einzig und allein der Export die Konjunktur schleppt. Wir sind keine wettbewerbsunfähige Wirtschaft; sondern wir haben eine Wirtschaft, die sich weltweit als die exportstärkste Wirtschaft behauptet. Ihre Analysen waren falsch. Daher waren auch alle Antworten falsch, die Sie in den letzten Jahren gegeben haben.
Sie können noch so viele Unternehmenssteuersenkungsrunden - wir haben schon mindestens fünf, sechs hinter uns - vorschlagen, Sie können noch soviel Lohnzurückhaltung predigen, Sie können noch so viele soziale Leistungen kürzen und meinen, dann wächst und blüht die Wirtschaft - es sind und bleiben die falschen Rezepte. Die ganze Standortdebatte war interessengeleitet; sie löste sich völlig von den Daten und der Wirklichkeit. Wir sind pro Kopf mit Abstand die exportstärkste Nation der Welt und sollten dieses Gerede und Gequatsche endlich einstellen, um uns den wirklichen Problemen unserer Volkswirtschaft zuzuwenden.
Seit Jahren haben wir ein Zurückhängen der Binnennachfrage.
- Ich höre da Lärm von der F.D.P. Dann lesen Sie zumindest einmal den Jahreswirtschaftsbericht! Da steht das nämlich wörtlich drin. Wenn Sie den noch nicht einmal gelesen haben, dann sind Sie für eine solche Debatte schlecht vorbereitet.
Wir haben seit Jahren ein Durchhängen der Binnennachfrage. Wer dies nicht sieht, wer dies nicht erkennt, ist nicht in der Lage, Strukturreformen einzuleiten, die wir brauchen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder zu stärken und insbesondere die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Zur Stärkung der Binnennachfrage liegen seit Jahren zwei Reformvorschläge von uns auf dem Tisch, die teilweise in der Fachwelt immer wieder angesprochen und teilweise auch in Ihren Reihen diskutiert worden sind. Aber seit Jahren tut sich nichts.
Der eine Reformvorschlag, der nun unstreitig ist, wie die Debatten der letzten Zeit gezeigt haben, lautet, daß es nicht so weitergehen kann, daß die Abgaben immer weiter steigen, daß die Sozialversicherungsbeiträge immer weiter ansteigen, damit die Kaufkraft der Durchschnittseinkommen schwächen, die Arbeitsplätze teuer machen und zu einem Rationalisierungsdruck auf die Arbeitsplätze und zu einem Schwächen der Binnennachfrage führen. Ändern Sie endlich diese Politik! Konkret haben Sie auch heute dazu überhaupt nichts gesagt und vorgeschlagen.
Sie streiten nun miteinander darüber, wie die Rentenfrage angegangen werden soll. Das ist innerhalb einer Partei selbstverständlich. Aber die Vorschläge, die Sie jetzt diskutieren, beispielsweise über Verbrauchsteuererhöhungen die Sozialversicherungsbeiträge zu senken, liegen seit Jahren auf dem Tisch.
Im Jahre 1990 hat der Sachverständigenrat in seinem Gutachten vorgeschlagen, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken und dafür Verbrauchsteuern zu erhöhen. Seit Jahren liegen diese Reformvorschläge auf dem Tisch. Sie diskutieren sie jetzt - das ist immerhin ein Fortschritt -, aber Sie blockieren sie seit Jahren und sehen tatenlos zu, wie die sich daraus ergebenden volkswirtschaftlichen Verwerfungen immer größer werden und damit die Arbeitsplätze wegrationalisiert werden.
Die SPD-Fraktion hat vor einem Jahr einen Vorschlag eingebracht, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Sie hat dies für die Arbeitslosenversicherung vorgeschlagen. Sie hat vorgeschlagen, im Gegenzug Verbrauchsteuern zu erhöhen, in diesem Fall Energieverbrauchsteuern. Auch diese Vorschläge sind bei Ihnen diskutiert worden. Es gibt ausgearbei-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
tete Papiere in Ihren Reihen, so zu verfahren. Dabei kann man darüber diskutieren, welche Beiträge in welchem Zeitraum wie verändert werden können.
Die gesamte Volkswirtschaft leidet an der von Ihnen seit Jahren verschleppten Lösung dieses Kernproblems. Die Abgaben in diesem Land sind viel zu hoch, die Arbeitsplätze unterliegen einem viel zu starken Rationalisierungsdruck, insbesondere in der Binnenwirtschaft und bei den lohnintensiven Betrieben. Sie haben dieses Reformwerk seit Jahren verschleppt oder - in Ihrer Sprache - blockiert. Heben Sie endlich diese Denkblockade auf, und handeln Sie, denn schon jahrelang gehen Arbeitsplätze verloren!
Ich greife jetzt nur einmal Ihre Debatte zur Rentenreform auf. Es ist gut, wenn da diskutiert wird: Sollen wir die Sozialversicherungskassen nicht von versicherungsfremden Leistungen entlasten? Das ist ein Vorschlag, den auch wir machen. Wenn Sie das genauso sehen, dann muß man sich zusammensetzen, definieren, was versicherungsfremde Leistungen sind, und dann muß man das Problem lösen.
Aber es hat keinen Sinn, über das Ganze Jahre zu schwadronieren, ohne daß irgend etwas geschieht. Die Vorschläge, die wir auf den Tisch gelegt haben, haben Sie zurückgewiesen. Sie haben sie nicht akzeptiert. Eigene Vorschläge zu diesem Thema haben Sie nicht vorgelegt, weil sich die F.D.P. in einer sehr kleinkarierten Klientelpolitik als Steuersenkungspartei profilieren wollte und nicht gesehen hat, wie die Abgaben Jahr für Jahr extreme Höhen erreicht haben, zum Schaden der Volkswirtschaft insgesamt.
Nun versprechen Sie eine Steuerreform für das Jahr 1999. Das ist doch nicht zu fassen! Seit Jahren liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Im Jahre 1994 hat die Bareis-Kommission einen Vorschlag gemacht.
Zunächst hat Ihre Regierung es sich erlaubt, diesen Vorschlag in den Papierkorb zu werfen. Nun versprechen Sie für das Jahr 1999 eine Steuerreform.
Ich sage Ihnen für die deutsche Sozialdemokratie: Für das Jahr 1999 haben Sie keinen Kredit, Herr Bundeskanzler, weil dies ein Datum nach der Bundestagswahl ist.
Sie haben die Wählerinnen und Wähler schon so oft in Steuerfragen betrogen, daß es für Sie keinen Kredit mehr gibt, weder bei uns noch im gesamten Volk.
Es ist in der letzten Zeit zum Markenzeichen Ihrer Regierung geworden, daß Sie vor Wahlen Versprechungen in ungeheurer Dreistigkeit machen und nach den Wahlen sagen: Die Dinge haben sich geändert; wir müssen das alles wieder einkassieren.
Sie haben vom Aufbau Ost und von dem Vertrauen gesprochen, das die Menschen dort in Ihre Politik haben sollten. Sie standen an diesem Pult und haben erhebliches Vertrauen verspielt, indem Sie äußerten: Wenn ich sage: „Es wird keine Steuererhöhung geben", dann gibt es keine Steuererhöhung zur Finanzierung der deutschen Einheit.
Sie haben in dieser Zeit die Steuern und Abgaben auf das Jahr gerechnet um 120 Milliarden DM erhöht. Und dann trauen Sie sich noch, bei den Wählerinnen und Wählern Kredit hinsichtlich Ihrer Glaubwürdigkeit einzufordern?
Was haben Sie, die F.D.P., im letzten Jahr veranstaltet? Da hat diese Partei, weil sie um die 5 Prozent kämpfte, den Wählerinnen und Wählern versprochen: „Der Soli wird gesenkt", um das nach der Wahl wieder einzukassieren. Solch schamloser Betrug schadet unserer Demokratie.
Solch schamloser Betrug ist auch die Ursache dafür, daß Sie sich ein Steuerreformgesetz mit Wirkung 1999 abschminken können. Das wird es nicht geben. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie das zur Kenntnis.
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß Sie von Ihrem Redemanuskript abgewichen sind. Ihr Mitarbeiter hatte Ihnen aufgeschrieben: Das Steuerreformgesetz „wird" für 1999 in Kraft gesetzt. Sie haben das abgeschwächt, indem Sie gesagt haben: sollte oder muß in Kraft gesetzt werden. Sie haben immerhin erkannt, daß andere ja noch mitzureden haben.
Sie haben völlig Recht. Deshalb wiederhole ich: Entweder verständigen wir uns auf eine spürbare Entlastung der breiten Schichten unseres Volkes zum 1. Januar 1998, oder Sie können sich das ganze Projekt abschminken. Herr Bundeskanzler, ich sage das in aller Klarheit.
Meine Damen und Herren, ich sage noch etwas zur Rentendebatte. Ich will nicht unbedingt den Finger in Ihre Wunde legen. Aber alle Beteiligten - nicht nur diejenigen, die kritisch sind, sondern auch diejenigen, die in Ihren Reihen kritisiert werden - haben sich jetzt zu fragen, ob sie in den letzten Jahren redlich gehandelt haben.
Auch vor den Wahlen des letzten Jahres wurden Briefe verschickt. In diesen Briefen, Herr Bundes-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
kanzler, haben Sie geschrieben - wörtlich -: Die Renten sind sicher.
Wenn Sie jetzt hingehen und in diesem Ausmaß Reformvorschläge machen, fühlen sich die Wählerinnen und Wähler wieder zu Recht betrogen und getäuscht. So kann man doch nicht Politik in Deutschland machen.
Solange Sie nicht erkennen, daß die Investitionsschwäche, die nun seit Jahren anhält und die sich im Vergleich zu früheren Konjunkturzyklen völlig anders ausgebildet hat, strukturelle Ursachen hat, die in Ihrer verfehlten Politik liegen, so lange wird diese Investitionsschwäche anhalten. Sie können dann noch so viele Reformpakete - ich glaube, wir haben jetzt schon das zehnte beschlossen - schnüren, Sie werden keinerlei Veränderung hinsichtlich der Investitionskonjunktur und des deutschen Arbeitsmarktes erreichen.
Die Themen „Rentenreform" und „Steuerreform" fallen unter den Oberbegriff „Strukturreform". Das ist richtig. Sie haben ja eine ganze Reihe von Strukturreformen gemacht - wer wollte das in Abrede stellen. Sie haben sie eben wieder angesprochen. Sie reden vom Entgeltfortzahlungsgesetz, also von der Kürzung der Lohnfortzahlung. Sie sind stolz darauf, daß Sie den Kündigungsschutz eingeschränkt haben. Sie sind stolz darauf, daß Sie die beschäftigungsfeindliche Vermögensteuer abgeschafft haben.
Verehrter Herr Bundeskanzler, alle Beschäftigungserfolge, die Sie noch einmal bemüht haben, haben Sie im Zusammenhang mit der beschäftigungsfeindlichen Vermögensteuer erreicht. Irgend etwas scheint doch da nicht zu stimmen. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß es viel, viel wichtiger wäre, Arbeitnehmer zu entlasten, als den Reichen ein Steuergeschenk nach dem anderen zu machen.
Im übrigen weiß ich, daß das nicht nur die SPD, die Opposition, so sieht, daß vielmehr auch weite Teile der Bevölkerung und große Teile Ihrer eigenen Partei das so sehen. Deshalb mußte ich Ihnen vorhin auf Ihren Einwand „Das hätten Sie wohl gern!" erwidern: Das ist nicht mehr nur ein Problem der SPD oder der Opposition. Wenn man einen derart falschen Ansatz in der Politik wählt und den Eindruck hervorruft, daß man, unbeeindruckt vom Anstieg der Arbeitslosenzahlen, nicht bereit ist, diese Politik zu korrigieren, dann wirft das nicht nur Fragen bei der Bevölkerung und bei der Opposition auf, sondern auch in den eigenen Reihen.
Wenn Sie von der Investitionsschwäche reden: Meinen Sie tatsächlich, Vorschläge wie der, die degressive Abschreibung zu vermindern, würden eine Stärkung der Investitionsneigung bringen? Wenn Sie von der Investitionsschwäche reden: Meinen Sie, größere Vorschläge, die darauf abzielen, die Abschreibungsmöglichkeiten zu verringern, würden eine Verstärkung der Investitionsneigung bringen? Und wenn Sie von der Investitionsschwäche und von der beschäftigungsfeindlichen Vermögensteuer reden, dann weise ich Sie darauf hin, daß allein auf Grund der Tatsache, daß Sie zur Kompensation für den Wegfall der Vermögensteuer die Grunderwerbsteuer drastisch erhöht haben, bewiesen ist, daß Sie wirklich von Wirtschafts- und Konjunkturpolitik nicht den blassesten Schimmer haben.
Wer in der jetzigen Phase einer zurückhängenden Baukonjunktur die Vermögensteuer abschafft und zur Kompensation die Grunderwerbsteuer anhebt, wer das den Ländern aufzwingt - wir hatten ja gar keine andere Wahl -, der zeigt, daß er, einfach losgelöst von den wirtschaftlichen Daten, irgendwelchen Ideologien folgt und nicht in der Lage ist, eine langfristige, durchdachte Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben.
Daß das Durcheinander in der Finanzpolitik die Investitionsschwäche in Deutschland mit bedingt, haben nicht wir, die böse Opposition, gesagt, sondern dies sagen alle Sachverständigen, der Sachverständigenrat und die Wirtschaftsinstitute.
Wenn man die gegenwärtige Diskussion um die Steuergesetzgebung nimmt, dann kann man nicht zu dem Ergebnis kommen, daß Sie aus den Erfahrungen der letzten Zeit irgend etwas gelernt hätten.
Das erste ist: Der Zeitpunkt ist falsch. Er wird so nicht gehalten werden können; ich sage Ihnen das in aller Klarheit.
Das zweite ist: Die Mehrwertsteuer oder Verbrauchsteuern zu erhöhen, um die Absenkung der Spitzensteuersätze zu finanzieren, dies ist ökonomisch falsch und sozialpolitisch unverantwortlich. Auch diesen Vorschlag können Sie sich abschminken. Er wird keine Mehrheit finden.
Das dritte ist: Ihr Vorschlag hinsichtlich des Tarifs weist eine Reihe von Ansätzen auf, die durchaus bedenkenswert sind und sich teilweise mit Vorschlägen, die wir gemacht haben, überschneiden. Es ist merkwürdig, vor diesem Hintergrund immer zu fragen: Wo bleiben die Vorschläge der Opposition?
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Ich habe bereits vor einigen Monaten festgestellt, daß es gut ist, daß Sie aus dem Katalog, den der nordrhein-westfälische Finanzminister Schleußer aufgestellt hat, eine ganze Reihe von Vorschlägen übernommen haben. Das ist gut, das schafft die Möglichkeit, ein gemeinsames Gesetz zu finden. Aber wenn Sie schon abschreiben, dann tönen Sie nicht dauernd so, als gäbe es keine Vorschläge der Oppositionsparteien.
Das gleiche gilt für den niedrigen Eingangssteuersatz. Wie oft habe ich Ihnen bei Steuerverhandlungen gesagt, Herr Finanzminister: Der niedrige Eingangssteuersatz ist kontraproduktiv. Bei allen Steuerrunden, in denen wir in den letzten Jahren zusammensaßen, habe ich Ihnen immer wieder gesagt: Er ist falsch und führt zur Schwarzarbeit.
- Entschuldigung, der hohe Eingangssteuersatz, danke sehr.
- Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ich habe mich versprochen. Das führt bei Ihnen zu großer Heiterkeit; Sie versprechen sich offensichtlich nie. Manchmal habe ich den Eindruck, Sie versprechen sich einzig und allein dann, wenn Sie einmal die Wahrheit sagen. Bei der Steuerpolitik wäre das wirklich notwendig.
Beim Steuertarif gibt es eine ganze Reihe von Vorschlägen, die vernünftig sind, die wir deshalb mittragen können. Das ist einmal das Absenken des Eingangssteuersatzes, und das ist das Streichen einer ganzen Reihe von Steuersubventionen.
Die Streichung der Steuersubventionen wird seit Jahren gefordert, aber diese Forderung ist mit einer Idee verbunden, nämlich mit der Idee der Steuergerechtigkeit. So sehr ich auf der einen Seite begrüße, daß Sie den Eingangssteuersatz absenken, und so sehr ich auf der anderen Seite begrüße, daß Sie beispielsweise viele Vorschläge aus der Liste von Schleußer übernommen haben, um die niedrigen Unternehmensteuersätze zu finanzieren, so sehr muß ich Ihnen aber auch sagen, daß der Tarif ansonsten eine wirkliche soziale Schlagseite hat.
Warum? Wir haben über Jahre geklagt, daß der Steuertarif auf den Kopf gestellt worden ist, weil es dazu gekommen ist, daß der einzelne nicht mehr nach der Leistungsfähigkeit Steuern gezahlt hat. Der Tarif wurde in seinem Sinn praktisch auf den Kopf gestellt, weil den Arbeitnehmern brav die Steuern abgezogen wurden, während die Bezieher höherer Einkommen - auch Einkommensmillionäre - über vielfältige Abschreibungsmöglichkeiten legal ihre Steuern auf Null senken konnten.
Diesen Sachverhalt haben wir angeprangert und haben gesagt: Das schafft Staatsverdrossenheit und muß geändert werden. Damit haben wir aber nicht vorgeschlagen, daß jetzt die Privilegien für die Einkommensmillionäre gestrichen werden und ihnen dafür 100 000 DM als Steuergeschenk hinterhergeworfen werden. Wer so handelt, hat nicht verstanden, was Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit in unserem Volk heißt.
Wenn Sie wissen wollen, was konsensfähig ist, dann können Sie an der Grundstruktur des Tarifes bezüglich des Eingangssteuersatzes und der Tarifführung festhalten, Sie müssen ihn allerdings oben deutlich weiter hochziehen. - Daß Sie dabei lachen, Herr F.D.P.-Vorsitzender, ist mir klar. Merken Sie sich aber: Es gibt nicht nur 5 Prozent in der Bevölkerung, es gibt 100 Prozent. Wir machen Steuerpolitik für 95 Prozent, nicht für 5 Prozent.
Deshalb: Ziehen Sie den Tarif weiter hoch! Das ist innerhalb von vier Wochen zu leisten. Ich wiederhole: Das ist innerhalb von vier Wochen zu leisten! Es ist überhaupt kein Problem. Ich wiederhole deshalb unsere Forderung: Diese Entlastung muß zum 1. Januar 1998 kommen, oder sie kommt nicht.
Was dann im einzelnen abzuklären ist, sind die Streichvorschläge der Bareis-Liste, über die wir bereits öfter gesprochen haben. Als die Bareis-Liste auf den Tisch kam, habe ich den Rat gegeben: Rechnet das und insbesondere die Kulmination dieser Vorschläge für einzelne Fälle durch.
Das haben Sie offensichtlich nicht getan. Wenn Sie das nicht getan haben, meine Damen und Herren von der Koalition, ist das kein Argument, uneinsichtig daran festzuhalten. Wenn Sie es versäumt haben, das Zusammenwirken von Kilometerpauschale, Arbeitnehmerpauschale, von Nacht- und Schichtzuschlägen usw. zu berechnen, dann ist das Ihr Fehler. Aber es ist kein Grund, an diesem Fehler festzuhalten.
Es dürfte Ihnen doch klar sein - unabhängig davon, wie man zu einzelnen Vorschlägen steht -, daß Ihr Tarif in dieser Ausformung und Finanzierung die Leistungsträger unserer Volkswirtschaft abstraft, nämlich die Facharbeiter, die Schichtarbeiter, die Krankenschwestern, die Busfahrer und wen sonst ich alles nennen könnte. Was Sie hier versuchen, ist doch hirnrissig.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Es ist ohne weiteres möglich, einen Steuertarif zu verabschieden, der auf den Prinzipien fußt, die ich hier vorgetragen habe, und der die Kulmination mit dem Ergebnis, daß Leistungsträger der Gesellschaft Einkommenseinbußen erleiden, verhindert. Es gibt gar keine andere Möglichkeit.
Wenn Sie sagen, daß wir miteinander verhandeln sollen, dann müssen wir uns natürlich bei diesen Verhandlungen auch noch darüber verständigen, wieviel gepfuscht werden soll.
Ich hätte eigentlich von Ihnen erwartet, daß Sie heute irgend etwas zu Ihren Steuervorschlägen sagen, Herr Bundeskanzler. Das hätte die deutsche Öffentlichkeit erwarten dürfen. Wird jetzt die Mehrwertsteuer erhöht, ja oder nein, und wenn ja, in welchem Umfang wird sie erhöht?
Hören Sie doch auf, sich an irgend jemanden zu wenden und irgendwelche Vorschläge zu erbitten, solange Sie die Fragen nicht geklärt haben, wie viele Löcher Sie in Zukunft aufreißen wollen, wie Sie rückfinanzieren wollen und wer wie belastet werden soll! Es ist doch einfach unmöglich, wie Sie an dieser Stelle vorgehen, meine Damen und Herren.
Dasselbe gilt für die Mineralölsteuererhöhung. Ich kann ja verstehen, daß der eine oder andere aus Ihren Reihen sagt, bei einer Mehrwertsteuererhöhung seien die Länder beteiligt, daher solle man auf die Mineralölsteuer zurückgreifen. Das ist ja ein Argument. Aber nun sagen Sie doch endlich, was Sie eigentlich wollen.
Es ist ja ganz schön, wenn Sie immer wieder lautstark Vorschläge der Opposition einfordern. Ich sage Ihnen noch einmal: Schleußer-Liste, Bareis-Liste. Wir brauchen eine Verständigung darüber, den Tarif deutlich nach oben zu ziehen. Das alles ist innerhalb von vier Wochen zu machen. Aber Sie sind auf der anderen Seite nicht bereit, zu sagen, wie Sie die Gegenfinanzierung gestalten wollen. Die Kritiker in Ihren Reihen haben recht: Es war ein gravierender, ein schwerer Fehler, die Mehrwertsteuererhöhung mit der Senkung des Einkommensteuertarifs bei den oberen Einkommensgruppen zu verbinden.
Sie sprachen Strukturreformen an und redeten wiederum für die Teilzeitarbeit. Es ist richtig, Herr Bundeskanzler, daß die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze in den letzten 20 Jahren konstant geblieben ist. Zu der Statistik, die Sie immer wieder bemühen, ist aber zu sagen - das sollten Sie einmal korrigieren -, daß in den letzten Jahren drei Millionen Teilzeitarbeitsplätze dazugekommen sind. Es ist auch richtig, wenn Sie sagen, von diesen drei Millionen Teilzeitarbeitsplätzen hätten zwei Millionen Frauen profitiert. Man müßte allerdings noch näher unter die Lupe nehmen, was hier „profitieren" heißt.
Sie haben es ja selbst angesprochen, daß es problematisch ist, daß schlecht bezahlte Arbeitsplätze in der Regel Frauen angeboten werden. Wir fügen hinzu: Es ist noch problematischer, daß die nicht registrierten und in keiner Statistik auftauchenden versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse im wesentlichen für die Frauen reserviert sind, was zu dem Ergebnis führt, daß sie im Alter geminderte oder gar keine Rentenansprüche haben.
Das ist eine der Strukturreformen, die Sie verschleppen. Sicherlich wird man für einen Teilbereich solche Beschäftigungsverhältnisse akzeptieren müssen. Wenn etwa Studenten Zeitungen austragen, wird niemand auf die Idee kommen, das müsse ein Vollerwerbsarbeitsplatz sein. Aber folgen Sie doch denen aus Ihren Reihen, die sagen, es könne nicht so weitergehen, daß die Aufsplitterung auf dem Arbeitsmarkt jetzt auf den Handel überschwappt, so daß immer mehr Vollzeitarbeitsplätze in 610-DMJobs zerstückelt werden, die dann am Ende dazu führen, daß die Betroffenen keine Rentenansprüche haben und auf die Sozialhilfe angewiesen sind! Das kann so nicht weitergehen.
Diese Strukturreform verschleppen Sie seit Jahren, wie Sie die Steuerreform seit Jahren verschleppen
und wie Sie die Reform der sozialen Versicherungssysteme seit Jahren verschleppen. Bei der Teilzeitarbeit sind Sie es doch, die über Jahre blockiert haben.
Vor Jahren haben wir, das Saarland, im Bundesrat einen Antrag eingebracht, der verlangte, die Teilzeitarbeit auch im Beamtenbereich zu öffnen. Ich habe in der letzten Bundestagsdebatte an Sie appelliert, endlich Ihren hinhaltenden Widerstand an dieser Stelle aufzugeben. Nach endlosem Gehänge und Gewürge ist jetzt eine Öffnungsklausel für die Länder herausgekommen. Warum erwähne ich dies? Ich erwähne dies, weil deutlich wird, daß Sie über Jahre die Entwicklung von Teilzeitarbeit in Deutschland blockiert haben. Aber Sie standen hier einmal als jemand, der gesagt hat, die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit sei dumm, töricht und absurd. Herr Bundeskanzler, Sie sind durch die Geschichte längst widerlegt worden. Ohne die Verkürzung der Arbeitszeit könnten Sie noch nicht einmal von den 3 Millionen Halbtagstätigkeiten berichten, die in den letzten zehn Jahren zusätzlich entstanden sind. Sie verstehen noch nicht einmal die Zusammenhänge und die Probleme.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Deshalb sage ich Ihnen: Bei all den Strukturreformen - Sozialversicherungssysteme, Steuersystem, Beschäftigungsverhältnisse im nicht sozial abgesicherten Bereich - ist es notwendig, weiterhin auf die Verkürzung der Arbeitszeit zu setzen. Es ist gut, daß Sie das jetzt endlich erkannt haben. Aber Sie waren diejenigen, die über Jahre eine falsche Politik betrieben haben, mit den Ergebnissen, die wir jetzt landauf, landab sehen können.
Am rührendsten ist es, wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, wir müßten Forschung und Innovation stärken.
Das ist nun wirklich ganz toll, meine Damen und Herren, daß wir Forschung und Innovation stärken müssen. Was ist in der letzten Zeit geschehen? Da haben Sie den herrlichen Vorschlag gemacht, wir müßten das BAföG verzinsen, wahrscheinlich um eine Belebung der Universitäten zu erreichen. Wir haben Ihnen gesagt, daß wir eine solche Bildungspolitik nicht mitmachen, weil die Begabungen nicht nach Einkommensschichten in unserem Volke verteilt sind.
Wir sagen: Das Einkommen der Eltern darf nicht darüber entscheiden, ob jemand eine gute universitäre Ausbildung erhält, und dabei bleibt es. Geben Sie diese rückwärtsgewandten Vorschläge auf, meine Damen und Herren!
Sie haben dann vor ein paar Jahren als großer Förderer von Forschung und Innovation das MeisterBAföG abgeschafft. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Viele Handwerksbetriebe haben immer wieder darauf hingewiesen, wie falsch diese Entscheidung war. Wir haben im Gegenzug - um ein neues Wort aufzugreifen - gegen Ihre Blockade einen Kompromiß durchgesetzt, so daß das Meister-BAföG wieder eingeführt worden ist. Das Handwerk ist uns dankbar. Sie sollten der Opposition dankbar sein, daß sie Ihre Fehler korrigiert hat, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Am tollsten ist es, daß Sie vortragen, Forschung und Innovation müßten gestärkt werden, wo Sie seit Jahren einen Fehler machen. Seit Jahren weisen wir Sie immer wieder darauf hin, daß dieses Land, das rohstoffarm ist, nur dann die Chance haben wird, die Zukunft zu gewinnen, wenn es auf die Forschung setzt, das heißt auf die private Forschung, aber auch auf die staatliche Forschungsförderung. Aber seit Jahren streichen Sie die Forschungsmittel zusammen. Dann korrigieren Sie doch wenigstens diesen
Fehler, oder fügen Sie sich der Erkenntnis, die Sie hier vorgetragen haben!
Es ist ja fast schon überflüssig, zu fragen, wie es denn mit dem Haushalt weitergeht: Von Punktlandung zu Punktlandung.
Als die Haushälter meiner Fraktion im letzten Jahr gesagt haben, es werde ein Defizit von etwa 20 Milliarden DM auflaufen, da habe ich - das sage ich in allem Freimut - gefragt: Seid ihr sicher, daß das wirklich eine solche Größenordnung annehmen wird? Denn 20 Milliarden DM sind ja keine vernachlässigbare Größe. Und wie wurden die Haushälter der Opposition von Ihnen beschimpft, als sie immer wieder auf dieses Defizit hingewiesen haben!
Ich weiß aus der Rednerliste, daß nachher der Finanzminister spricht. An dieser Stelle können Sie einmal Abbitte leisten. Hören Sie auf unsere Haushälter, wenn Sie Prognosen abgeben, und hören Sie weniger auf die eigenen Erkenntnisse und Einsichten!
Und wenn es wirklich so ist, meine Damen und Herren, daß Sie eine Haushaltssperre zurückgenommen haben, nur weil Sie sagen, die Presse könnte sonst schlecht sein - meistens stimmt das, was durchsickert und was erzählt wird, ja doch -, dann ist das auch kein Ausweis von Souveränität und erst recht kein Ausweis von in sich konsequenter Politik.
Aber vielleicht sagt der Finanzminister zu diesem Thema etwas. Er hat ja nachher die Möglichkeit dazu.
Ich möchte noch einen Hinweis geben: Sie haben allen Bemühungen europäischer Regierungen, zu einem europaweiten Beschäftigungspakt zu kommen, trotzig und selbstgefällig mit der Bemerkung widerstanden: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause. Man kann nur hoffen, daß es in anderen Ländern nicht so aussieht wie hier bei Ihnen, wo Sie der Chefkoch sind und Beschäftigungspolitik zu Hause machen.
Meine Damen und Herren, Sie haben vor einigen Jahren den Wahlkampf mit der Parole geführt: Weiter so, Deutschland. Nach 14 Jahren kommen Sie nun zu folgendem Ergebnis: Wir, die Deutschen, können nicht so weitermachen wie bisher. Herr Bundeskanzler, Ihre Rede allerdings hat bei uns den Eindruck hinterlassen, daß Sie mit „wir" nicht sich selbst meinen, sondern alle anderen - die Tarifparteien, Gewerkschaften, Unternehmer, die Opposition oder
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
wen auch immer - und daß Sie unbeirrt an Ihrem vermeintlichen Reformkurs festhalten.
Dieser Reformkurs setzt auf die falschen Rezepte. Er schwächt die Binnennachfrage. Er zerstört die soziale Gerechtigkeit. Er verzögert wichtige Reformen, unter anderem auch - Kollege Fischer wird darüber noch sprechen - die ökologische Steuerreform, die seit mindestens zehn Jahren verschleppt worden ist. Sie, Herr Bundeskanzler, sind die Ursache unserer Krise. Es wird Zeit, daß Sie daraus die Konsequenzen ziehen.