Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die eben geführte Finanzdebatte - lassen Sie mich damit beginnen - hat, denke ich, deutlich gemacht, wie sehr die Bundesregierung in eine Gemengelage aus falschen Diagnosen und untauglichen Therapien verstrickt ist.
Ihre Haushaltspolitik hat ausnahmslos alle gesellschaftlichen Bereiche und damit auch alle Einzelpläne in eine Spirale des sozialstaatlichen Abwertungswettlaufs einbezogen. Auch der vorliegende Entwurf für den Einzelplan 17 ist eine in Zahlen gegossene Liste von Versäumnissen. Er ignoriert erstens die zentralen Stränge des gesellschaftlichen Wandels, er verkennt zweitens den dringenden Handlungsbedarf, und er vermeidet drittens die so notwendige Prioritätensetzung.
In meiner Rede anläßlich der Einbringung dieses Haushalts habe ich die durchweg zweistelligen Kürzungen an den Phrasen und an den schillernden Farben der Selbstdarstellung des sogenannten Hauses der Generationen gemessen. Es war nicht schwer, diese Phrasen als hohl und die Farbe als trübe zu entlarven. Deutliche Nachbesserungen haben wir damals gefordert. Statt dessen ist auch dieser Einzelplan nun endgültig in die Haftungsverpflichtung der zusätzlichen Minderausgaben von Herrn Waigel geraten. 50 Millionen DM müssen noch einmal in diesem Einzelplan erbracht werden. In heilloser Aufregung werden 35 Millionen DM dort abgeladen, wo eine artikulierte Gegenwehr am wenigsten zu erwarten ist, bei den Aussiedlern.
Wenn jetzt niemand die Notbremse zieht, dann treibt im nächsten Jahr die vielbeschworene Querschnittsaufgabe einer intervenierenden und einer innovativen Jugend- und Frauenpolitik in Stagnation dahin. Die Familien werden eine weitere Minusrunde für ihre Kaufkraft verbuchen müssen, und von den Senioren redet seit einer ganzen Weile selbst im Seniorenministerium schon keiner mehr - wie denn auch? In Zeiten, in denen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit beschlossen ist und die Pläne für eine Rentenbesteuerung in der Schublade liegen, nehmen sich gutgemeinte Modellprojekte in diesem Bereich schon wie Boten aus einer vergangenen Zeit aus.
Die Kritik der SPD-Fraktion ist bei Finanzminister Waigel und auch bei Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen der Koalition, auf eine Wagenburgmentalität gestoßen. In Kenntnis des kurzen Atems Ihrer eigenen Zahlen haben Sie nach dem Motto „Augen zu und durch" das parlamentarische Beratungsverfahren im Haushaltsausschuß zur Routine degradiert. Alle unsere Anträge wurden niedergestimmt, Einvernehmen wäre allenfalls über zusätzliche Kürzungen zu erzielen gewesen. Auf unsere inhaltlich gut begründeten Anträge für Aufstockungen bei - darauf lege ich großen Wert - gleichzeitigen Deckungsvorschlägen haben Sie mit pauschaler Verweigerung reagiert, und das zeugt von Ignoranz und Konzeptlosigkeit.
Daß den Berichterstattern - daß Sie das mitgemacht haben, Kolleginnen und Kollegen, ist ein schlechtes Zeichen von Kollegialität - noch 24 Stunden vor der Bereinigungssitzung kein Blick in die Karten gestattet wurde, mit denen Herr Waigel den eingestandenen Teil des neuesten Milliardenlochs auf die Ressorts verteilte, offenbart Arroganz gegenüber den anderen Berichterstattern, und es zeigt die heiße Nadel, mit denen dieser Haushalt gestrickt wurde.
Welche Signale sendet denn nun das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus? Wer
Siegrun Klemmer
nur einen oberflächlichen Blick auf die Verlautbarungen zur Familienpolitik wirft, erkennt bereits, wie sehr die Wirklichkeitsvermeidung ins zuständige Ministerium Einzug gehalten hat. Als könne nicht sein, was nicht sein darf, konstatiert Frau Nolte in ihrer Stellungnahme zum aktuellen Familien-Survey des Deutschen Jugendinstituts, Ehe und Familie seien kein Auslaufmodell. Das ist so wahr wie nichtssagend. Als gelte es, die unangenehmen Ergebnisse der Soziologie zu leugnen, werden die wichtigsten Erkenntnisse sozusagen zu Nebenaspekten stilisiert.
Festhalten läßt sich: Die Heiratsbereitschaft nimmt ab. 1972 lebten in der alten Bundesrepublik 137 000 Paare in nichtehelichen Lebensgemeinschaften; 1994 sind es fast zehnmal soviel. Die Zahl ist auf 1 300 000 Paare angestiegen. Das Heiratsalter steigt ebenso wie die Scheidungsquote. Die Zahl der nichtehelich geborenen Kinder steigt an; in Ostdeutschland beträgt sie mittlerweile 50 Prozent.
Ein typisch nordeuropäisches Familienmodell hat sich nach der Wende ausgebreitet: eine schleichende Ersetzung der alten Kernfamilie durch . andere Lebensformen. Da tut sich Reformbedarf auf, sollte man meinen. Endlich soll das angestaubte Kindschaftsrecht abgelöst werden. Aber von der Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und gleichgeschlechtlicher Paare ebenso wie vom Ausbau der Kinderrechte ist die Familienministerin weit entfernt.
In ihrem Jahresbericht 1995 feiert Frau Nolte den kontinuierlichen Ausbau des Familienlastenausgleichs zum Familienleistungsausgleich.
Quasi im gleichen Atemzug - Sie alle sind Zeugen dieses Vorgangs gewesen - muß die SPD die Kindergelderhöhung gegen den Finanzminister und gegen sein Jahressteuergesetz 1997 durchsetzen.
Auf ein deutliches Wort von Ihnen, Frau Nolte - das habe ich schon bei der Einbringung gesagt -, warten die Familien bis heute.
Da paßt es dann zum negativen Bild unseres Gott sei Dank doch noch reichen Landes, daß dieser Tage anläßlich einer Tagung des Deutschen Kinderhilfswerks bekannt wird, daß die Zahl der Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, doppelt so hoch ist wie die der Erwachsenen, die das gleiche Schicksal ereilt. Bereits 1,5 Millionen Minderjährige sind in Deutschland auf Sozialhilfe angewiesen.
Der Regierungsentwurf sieht beim Erziehungsgeld Ausgaben in Höhe von 7 Milliarden DM vor. Gegenüber dem Entwurf des Vorjahres mußte der Ansatz für diese gesetzliche Leistung - das ist ja kein Gnadenakt - mehrfach nach unten korrigiert werden. Die Ursache dafür liegt in den seit 1986 unveränderten
Einkommensgrenzen. Das bedeutet, in Zeiten sinkender realer Kaufkraft werden dadurch immer mehr Familien 'von dieser so wichtigen Hilfe bei der Kindererziehung ausgeschlossen.
In den letzten beiden Jahren haben die Familien Minderausgaben beim Erziehungsgeld in Höhe von über 1 Milliarde DM hinnehmen müssen. Dies konterkariert nicht nur jeden ernstzunehmenden Familienleistungsausgleich, sondern auch - das müßte Sie doch interessieren - volkswirtschaftlich erweist sich das natürlich als Bumerang.
Die mehrfach angemahnten Hausaufgaben der Bundesregierung zur Frauenförderung blieben unerledigt. Noch immer wird der einzige im Einzelplan 17 veranschlagte Titel von einer Vielzahl von Projekten bevölkert. In ihrer Summe ist kein frauen- oder gleichstellungspolitisches Konzept zu erkennen. Zusätzlich hat Frau Nolte die Claims einseitig abgesteckt. Diejenigen Modellprojekte, die sich wichtigen aktuellen Entwicklungen und Aufgaben stellen, sind fest in der Hand von katholischen und/oder konservativen Trägern.
Wer die Förderung von Frauen im Ehrenamt an die CDU-nahe Jakob-Kaiser-Stiftung delegiert, folgt einem Konzept von Ehrenamtlichkeit, das Frauen aus dem ersten Arbeitsmarkt zurück in ein konkurrenzfernes Hausfrauendasein verbannt.
Der Vernetzungsstelle der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten, als dreijähriges Modellprojekt intensiv genutzt und voll von breitester Anerkennung und Wertschätzung, bleibt eine weitere Bundesförderung und damit eine Zukunft versagt. Hier hätte eine politische Entscheidung vordergründige haushaltspolitische Bedenken problemlos beiseite schieben können. Daß diese unterblieb, muß auch als eine Form von Frauenpolitik verstanden werden.
Nicht besser sieht es bei der Jugendpolitik aus. Mit der Beschlußfassung über diesen Haushalt am kommenden Freitag werden Kürzungen Gesetz, die in dieser Höhe eine nie gekannte Dimension erreichen. Ganze Programme innerhalb des Kinder- und Jugendplanes - und seien sie wie die Mädchenarbeit erst vor wenigen Jahren eingerichtet worden - werden unter die Schwelle gestutzt, die eine Fortführung der bisherigen Arbeit ermöglicht hätte. Dies ignoriert den gewaltigen Handlungsbedarf der Jugendpolitik.
Nach einer erst letzte Woche veröffentlichten Studie der Universitäten Bamberg, Jena und Erlangen greifen unter west- und unter ostdeutschen Jugendlichen angesichts von Arbeitslosigkeit und finanzieller Abhängigkeit Verunsicherung und Zukunftsangst um sich. Entwicklungspsychologen konstatieren stark ausgeprägte Streßsymptome. Parallel dazu sinkt das Vertrauen der jungen Generation in Politik, Regierung und Parteien weiter. Die Folge sind Resignation oder die Zuwendung zu destruktiven und antidemokratischen Subkulturen.
Siegrun Klemmer
Für die SPD-Fraktion kann es darauf nur eine Antwort geben. Die Räume für die demokratische Artikulation und die Selbstorganisation Jugendlicher müssen ausgebaut und da, wo vorhanden, stärker als von Ihnen geschützt werden.
Den Jugendverbänden, aber auch der offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen kommt dabei eine wichtige Funktion zu. Den routinemäßigen Gleichmut - davon muß man leider schon sprechen -, mit dem Frau Nolte ihr Haus verkünden läßt, die Haushaltssituation lasse dies nicht zu, können wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Lobheischend verkündet das Jugendministerium die Bereitstellung von 2 Millionen DM für den deutschtschechischen Jugendaustausch.
- Natürlich, Frau Kollegin Albowitz, ist die Entscheidung zu begrüßen, nicht aber die etatmäßigen Begleitumstände; denn dieser Betrag wird ja nicht etwa, wie von uns im Haushaltsausschuß gefordert, zusätzlich eingestellt. Sie wissen, dieser Betrag geht zu Lasten anderer internationaler Maßnahmen und Projekte. Inklusive dieser 2 Millionen DM sollen die Ausgaben für internationale Jugendarbeit sogar sinken. In der Folge werden Jugendbegegnungen zurückgefahren; mit den Ländern Südosteuropas werden sie 1997 zum Erliegen kommen.
Den auslaufenden Fördermaßnahmen nach § 249 h AFG und den Folgen des kürzlich verabschiedeten AFRG werden die freien Träger der Jugendhilfe besonders drastisch ausgesetzt sein. Nach dem Auslaufen der unzureichenden AFT-Programme - was übersetzt heißt: Aufbau freier Träger in den neuen Ländern - konnte es auf Grund unzureichender öffentlicher Förderung nur wenigen von ihnen gelingen, eine stabile und auf lange Sicht ausgerichtete Finanzierung für die hauptamtlichen Mitarbeiter zu erreichen. Hier ist eine große Kraftanstrengung der öffentlichen Förderung der Jugendhilfe notwendig, um mühsam aufgebaute Strukturen davor zu bewahren, wie Kartenhäuser zusammenzustürzen. Wenigstens von den Koalitionskollegen aus den neuen Ländern hätten wir an dieser Stelle einen etwas deutlicheren Protest oder überhaupt Protest erwartet;
denn wie auch im Zusammenhang mit anderen Punkten - davon wird in dieser Woche ja noch die Rede sein - haben sie zu Hause in ihren Wahlkreisen zwar laut geredet, dann aber hier teilweise nur noch leise gemurmelt, und bei den entscheidenden Abstimmungen sind sie weggeknickt.
Aussiedler kommen, zumal wenn sie jung sind, in diesem Haushalt doppelt unter die Räder. Bereits im Regierungsentwurf war eine 11prozentige Kürzung gegenüber dem Vorjahr veranschlagt. Die neue Minderausgabe trifft diesen Bereich noch einmal mit 35 Millionen DM.
Schon die letzten Jahre hatten dazu geführt, daß sich die Trägerverbände, die bei der Gestaltung ihrer Personalstruktur auf Aussagen der Bundesregierung in den Jahren 1990 und 1991 vertraut hatten, getäuscht sahen. Die Vokabel muß man leider benutzen: Sie haben die Verbände getäuscht. Bis zu 50 Prozent ihres in diesem Bereich tätigen Personals mußte wieder entlassen werden. Parallel dazu hat sich der Eigenmittelanteil vervielfacht, zum Beispiel beim Diakonischen Werk in Baden-Württemberg von 5 auf 57 Prozent. Im Klartext heißt das: Wenn die Verbände den Wegbruch der staatlichen Förderung nicht mit ihren Verbandshaushalten aufgefangen hätten, wäre diese Betreuungsaufgabe zum Erliegen gekommen.
Jede weitere Kürzung für 1997 ist unverantwortlich, und sie ist vor allen Dingen auch unlogisch. Die kurzfristige Schwankung von Aussiedlerzahlen kann doch nicht die Legitimation für eine analoge Kürzung sein, wenn es um die Bereitstellung von Infrastruktur für Beratungsangebote geht.
Vor allen Dingen - das wissen doch auch Sie, weil Sie in Ihren Wahlkreisen mit den Forderungen derjenigen konfrontiert werden, die diese Arbeit leisten - die nachlassende sprachliche Kompetenz der jüngsten Aussiedlergeneration und ihre stärkere kulturelle Verwurzelung im Herkunftsland läßt doch einen eher steigenden Beratungs- und Integrationsbedarf erkennen.
Die SPD hat mehrfach deutlich gemacht, daß eine verantwortliche Aussiedlerpolitik die neuen Mitbürger nach ihrer Ankunft nicht im Regen stehenlassen darf.
- Das ist nicht richtig, Frau Kollegin Albowitz. Auch wenn Sie das hier betonen, wird es dadurch nicht richtiger. - Unterlassung von Integrationshilfen ist in diesen Zeiten mit aktiver Ausgrenzung gleichzusetzen, und aktive Ausgrenzung bedeutet all die negativen gesellschaftspolitischen Folgen, die wir kennen.
Was ist das Fazit der Beratungen über den Einzelplan 17? Dieser Haushalt ist das Ergebnis einer verfehlten Politik. Er zeitigt katastrophale Folgen für zentrale Gruppen unserer Gesellschaft. Er ist ein fatales Signal an die Bürgerinnen und Bürger, indem er gleich einem Armutszeugnis offenbart, daß mit dem
Siegrun Klemmer
Bund als einem gestaltenden und schützenden Akteur in diesem Bereich nicht mehr zu rechnen ist.
Die SPD will Familien entlasten. Darum beantragen wir die Änderung der Bemessungsgrundlagen für das Erziehungsgeld. Wir wollen Jugendliche in Ausbildung bringen, wie gestern auf dem Parteitag in Köln beschlossen. Wir wollen, daß ältere und alte Menschen ihren Lebensabend in Sicherheit verbringen können, ohne daß an ihren Renten und beim Eintritt in das Rentenalter gefummelt wird. Aus diesen Gründen werden wir der familien- und jugendpolitischen Geisterfahrt von Frau Noltes Haushalt im Zusammenspiel mit Herrn Waigel natürlich unsere Zustimmung verweigern.