Rede von
Christel
Hanewinckel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Kollege Singhammer, ich möchte Sie darauf hinweisen, daß ich hier keine Zahl genannt habe, wie Sie es jetzt darstellen. Aber ich denke, es bleibt eine Schande, daß immer noch über eine halbe Million Kinder - es gibt Statistiken, die etwas anderes aussagen - von Sozialhilfe leben müssen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß das, was Sie morgen verabschieden wollen, noch mehr Familien, noch mehr Kinder und noch mehr Alleinerziehende in die Sozialhilfe treiben wird.
Ich finde es nicht gut, daß immer wieder darauf verwiesen wird, auf Sozialhilfe gebe es schließlich einen Rechtsanspruch. Ich betrachte es nach wie vor als eine Schande, daß in diesem reichen Lande so viele Kinder von Sozialhilfe leben müssen.
Frau Kollegin Nolte, Ihr Forderungskatalog an alle anderen ist unendlich. Machen Sie doch nicht immer andere verantwortlich, übernehmen Sie selbst endlich Verantwortung, und gestalten Sie, was Sie gestalten können! Aber Sie nehmen unwidersprochen hin, daß Ihr Kabinettskollege Waigel Ihren Etat auf diese Art und Weise zusammenkürzt. Wir haben von Ihnen kein einziges Wort vernommen, mit dem Sie sich dagegen zur Wehr gesetzt hätten. Nein, Sie stellen sich hin und verteidigen ihn auch noch.
Der Kinder- und Jugendhilfeplan wird um 10 Prozent zusammengestrichen. Aber die Bundesregierung sollte sich vielleicht besser die Worte des Bundespräsidenten zu Herzen nehmen, wenn sie schon nicht auf die Opposition und auf die Betroffenen selbst hört. Er warnte vor Einsparungen im jugendpolitischen Bereich angesichts der Tatsache, daß viele Kinder in einer Familie leben, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, und daß junge Menschen vor den negativen Einflüssen von Gewalt und Dro-
Christel Hanewinckel
gen geschützt werden müssen. Jugendarbeit braucht Kontinuität und Prävention.
Die Jugendministerin erkennt dies durchaus an. Sie sagt nämlich:
Wir dürfen nicht erst dann aktiv werden, wenn es zu Vorfällen gekommen ist. Die Prävention ist das erfolgversprechendste Instrument gegen Jugendkriminalität. Der Erziehung in der Familie kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Wir dürfen die Familien bei ihren Aufgaben jedoch nicht allein lassen.
Das sind tolle Worte. Allerdings läßt Frau Nolte ihren Worten keine Taten folgen. Der Jugend werden Chancen und Perspektiven verweigert, und die Familien sind zum Lastesel der Nation geworden. Der Haushalt beweist, daß Sie die Familien und die Jugend im Stich lassen.
Die Caritas hat zur Zeit eine Anzeige geschaltet, vielleicht kennen Sie sie:
Jung - und schon am Ende? Die Caritas hilft. Helfen Sie mit.
Eine solche Anzeige, Frau Ministerin, kommt doch nicht von ungefähr. Sie macht doch darauf aufmerksam, daß das, was Sie zu tun haben, einfach nicht getan wird. Sicherlich ist es richtig, daß alle in der Gesellschaft, alle Gruppen und Kräfte, dafür mitverantwortlich sind, wie es in unserem Land steht, vor allem um die Jugend. Aber das, was in den nächsten Wochen und Monaten passieren wird, wird vor allen Dingen zu Lasten der Jugend gehen.
Meine Damen und Herren in den Koalitionsfraktionen, sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß die von Ihnen gewollten Kürzungen bei den ABM und bei den Maßnahmen nach § 249h AFG die soziale Infrastruktur in der Bundesrepublik, vor allen Dingen in den östlichen Bundesländern bedrohen? In Sachsen-Anhalt werden auf Grund Ihrer Kürzungen, denen Sie morgen zustimmen wollen, rund 9 000 Stellen wegfallen, davon jede zwölfte bei den sozialen Diensten. Der Paritätische Wohlfahrtsverband in Sachsen-Anhalt hat ganz eindeutig festgestellt, daß ganze Teile seiner Arbeit, insbesondere in der Jugendarbeit, aber auch in der Alten- und Behindertenhilfe schlicht nicht mehr vorhanden sein werden. Wir haben von Ihnen, Frau Ministerin Nolte, keinen Protest gegen die Kürzungen gehört. Wo, bitte, hat das etwas mit Wachstum und Beschäftigung zu tun?
Letzte Woche fand das erste deutsch-tschechische Jugendtreffen nach der Wende statt. Auch die Jugendministerin war da. Sie haben dort angekündigt, für den deutsch-tschechischen Jugendaustausch in Zukunft 2 Millionen DM zur Verfügung zu stellen. Das ist richtig und falsch zugleich. Sie haben der Öffentlichkeit nämlich nicht mitgeteilt, daß dafür Gelder von den anderen Initiativen des internationalen Jugendaustausches weggenommen werden. Sie haben auch nicht mitgeteilt, daß der Titel insgesamt um ungefähr 1,4 Millionen DM gekürzt wird. Was Sie hier tun, ist für Jugendliche unfaßbar.
Verständigung und Aussöhnung sind notwendig und wichtig. Wir wissen alle, daß dafür Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Mittel sind Investitionen in den Frieden und den europäischen Einigungsprozeß. Wenn Sie aber den jungen Leuten nur die halbe Wahrheit erzählen, Frau Ministerin Nolte, dann zerstört das Vertrauen. Ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie sich an die DDR-Zeiten erinnern, wo wir immer wieder die Erfahrung machen mußten, daß wir belogen und mit Phrasen hingehalten wurden. Was Sie jetzt tun oder getan haben, geht für mich in eine ähnliche Richtung.
Die Zukunft unserer Gesellschaft hängt davon ah, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, Kinder vor sexueller Ausbeutung und Vermarktung zu schützen, hat keine Zukunft. An welcher Stelle, Frau Nolte, sind in Ihrem Haushalt in Zahlen die Konsequenzen aus der Konferenz in Stockholm und der Weltfrauenkonferenz in Peking vermerkt? An keiner Stelle. Auch hier erheben Sie Forderungen, stellen im Ausland fest, was notwendig ist. Wie eigentlich wollen Sie im nächsten Jahr das, was Sie in der Frauenpolitik und in der Kinderpolitik versprochen und gefordert haben, umsetzen? Ihr Haushalt enthält dazu nichts.
Kurz nach Ihrem Amtsantritt haben Sie, Frau Nolte, Ihre Schwerpunkte verkündet:
Insgesamt sehe ich meine Aufgabe als Ministerin darin, Lobbyistin und Verfechterin für die Interessen der Familien, der Senioren, der Frauen und der Jugendlichen zu sein.
Wenn ich mir ansehe, was von dem, was Sie damals verkündet, versprochen und gefordert haben, tatsächlich in Politik umgesetzt worden ist, dann muß ich heute, zwei Jahre danach, feststellen: nichts von alledem.
Im Gegenteil: Sie wollen bei der Steuer so eingreifen, daß die, die vom Existenzminimum leben, eine höhere Belastung tragen müssen. Sie wollen dafür sorgen, daß durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters die Frauen ihre Rente später beziehen. Sie wollen bei der Krankenversicherung dafür sorgen, daß die Kürzung des Krankengeldes auch erwerbstätige Mütter und Väter trifft, die zur Betreuung ihrer kranken Kinder zu Hause bleiben. Bei der Arbeitslosenversicherung halte ich es für einen Skandal, daß jungen Müttern die Zeit ihres Mutterschutzes nicht mehr als Vorversicherungszeit bei der Arbeitslosenversicherung anerkannt wird; damit verkürzt sich die Dauer ihres Bezuges von Arbeitslosengeld, falls sie arbeitslos werden.
Meine Damen und Herren, die Gemeinheiten stekken wie immer im Detail, und es gibt viele davon. Ich kann sie hier nicht alle aufzählen. Eine Ministerin für
Christel Hanewinckel
Familie, Senioren, Frauen und Jugend muß darauf achten, daß es nicht zu einseitigen Belastungen dieser Gruppen kommt.
Ihr „Haus der Generationen", Frau Nolte, ist baufällig. Fangen Sie an, Ihr Amt als Ministerin ernst zu nehmen, und tun Sie etwas für die Gruppen, deren Lobbyistin Sie sein wollten, zum Beispiel morgen, indem Sie gegen das Kürzungspaket stimmen. Setzen Sie Ihre Stimme ein für die Familien, die Frauen, die jungen und die alten Menschen. Machen Sie endlich etwas aus Ihrer Macht!