Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Halbwertszeit von sogenannten Sparprogrammen dieser Regierung wird immer kürzer. Wenn Sie, Herr Blüm, vorhin gesagt haben, daß hier Chaosdiskussionen entstünden und daß das sehr schädlich sei, dann haben Sie völlig recht. Nur, haben Sie diesen Vorwurf eindeutig an die falsche Adresse gerichtet. Denn dieser Vorwurf muß eindeutig an die Regierungsfraktionen gerichtet werden.
Kaum liegt der Haushaltsentwurf vor, überschlagen sich die Pressemeldungen welche zusätzlichen Einschnitte in bezug auf die soziale Sicherung und die Arbeitsförderung noch nachgereicht werden sollen. Da schwadronieren die Haushälter der Regierungsfraktionen über das Ende der Arbeitsmarktpolitik - denn nichts anderes heißt es ja, wenn der Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit ganz gestrichen wird -, über das Vorziehen des AFRG, über ganz neue Maßnahmen, die sofort verabschiedet werden sollen. Sie bezeugen damit mangelnden Respekt vor diesem Parlament und vor dem Bundesrat; denn schon der Haushaltsentwurf basiert auf Gesetzen, die noch gar nicht verabschiedet sind, geschweige denn, daß irgend jemand ernstlich ihre Wirkung beziffern könnte.
Wie sehr diese Logik einer Politik ohne gesetzliche Grundlage nach unten durchschlägt, das zeigt sich, wenn die Bundesanstalt für Arbeit schon einmal im Vorgriff auf eine beabsichtigte gesetzliche Regelung die Höhe der Anschlußarbeitslosenhilfe kürzt. Ihre Prognosen, die dem Haushalt zugrunde liegen, sind unseriös. Aber das ist ja keine Ausnahme; das hat der Kollege Fuchtel vorhin für andere Bereiche auch zugegeben. Gerade hat Herr Waigel 12,5 Milliarden DM für die Bundesanstalt für Arbeit und für die Arbeitslosenhilfe nachbewilligen müssen. Das haben wir aus den Reihen der Opposition Ihnen übrigens schon letztes Jahr vorausgesagt. Mit Ihrer Politik, die draußen niemand mehr durchschauen kann, verunsichern Sie die Betroffenen und demonstrieren die Konzeptionslosigkeit dieser Regierung.
Als am Wochenende wieder 250 000 Menschen gegen diese Politik auf die Straße gegangen sind, hat Herr Bohl gesagt, Demonstrationen würden keine Arbeitsplätze schaffen.
Dieser Satz verrät zwar auch ein fehlendes Verständnis für politische Kultur und belegt - genau wie die Ausführungen von Kanzler Kohl gestern - die Arroganz der Macht. Aber es stimmt natürlich: Durch Protestaktionen werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Das ist auch gar nicht ihre Aufgabe.
Es wäre allerdings die zentrale Aufgabe der Regierung und müßte Ziel dieses Haushaltes sein, bei ei-
Annelie Buntenbach
nem historischen Höchststand von Arbeitslosigkeit Arbeitsplätze zu schaffen. Statt dessen demonstrieren Sie Konzeptionslosigkeit bei der Bekämpfung von Erwerbslosigkeit. Sie vertrösten die Menschen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn es um Arbeitsplätze und sozial erträgliche Lebensbedingungen geht. Sie vertrösten sie auf den Tag, an dem Ihre Geschenke an Unternehmer und Besserverdienende sich endlich in Wachstum und Arbeitsplätzen auszahlen. Daß diese Rechnung nicht aufgeht, haben die letzten 14 Jahre, in denen Sie genau diese Politik betrieben haben, deutlich gezeigt - immer ist der Aufschwung am Arbeitsmarkt völlig vorbeigegangen und hat die Menschen auf der Straße stehengelassen; Unternehmensgewinne steigen, während gleichzeitig Massenentlassungen stattfinden. Neuer Armut steht neuer Reichtum gegenüber. Politikverdrossenheit und soziale Konflikte sind die zwangsläufige Folge dieser Politik.
Nun sagen Sie: Die Opposition kümmert sich ausschließlich um die Verteilung und nicht um die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Sie wissen genau, daß dieser Vorwurf völlig aus der Luft gegriffen ist; denn wir sind uns darin einig, daß neue Arbeitsplätze dringend her müssen. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, verpassen doch die notwendigen Strukturveränderungen und Innovationen, zum Beispiel den ökologisch-sozialen Umbau, zum Beispiel die dringend nötige Einführung der Ökosteuer. Aber Sie können sich auch nicht vor der Frage der Verteilung drücken. Denn das können Sie nicht allein der Planwirtschaft überlassen und sagen: Hier ist dafür kein Platz. Das ist eine Armutserklärung und ein Versagen vor einer ganz zentralen Aufgabe. Denn die Verteilung von Reichtum, von Arbeit und von Zugangsmöglichkeiten zu sozialer Sicherheit in der Bundesrepublik ist zutiefst ungerecht.
Aber genau da wollen Sie nicht ansetzen; gegen wirklich zukunftsfähige Vorschläge sperren Sie sich. Eine Arbeitszeitverkürzung, die wir in großem Umfang brauchen, können Sie sich nicht einmal als Abbau von Überstunden zum Zweck von Neueinstellungen vorstellen.
Statt eine bedarfsorientierte Grundsicherung als Schutz vor Armut einzuführen, lassen Sie immer mehr Leute durch die Lücken der Sozialversicherungen fallen, die Sie mit jedem neuen Gesetz noch vergrößern. Statt der Flucht aus den Sozialversicherungen einen Riegel vorzuschieben und die sozialen Sicherungen für die Menschen wieder kalkulierbar zu machen, fördern Sie diese Flucht schon seit Jahren durch Ihre Deregulierungspolitik.
Der ungedeckte Wechsel auf eine rosige Zukunft, mit dem Sie versuchen, Zustimmung in der Bevölkerung zu mobilisieren, wird jetzt und auf der Stelle bezahlt, und zwar von den Erwerbslosen und denjenigen, die Sozialhilfe beziehen, von den unteren Einkommensgruppen, kurz: vom unteren Drittel.
Wenn Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, zu jedem neuen Waigel-Abgrund, der sich im Haushalt auftut, nichts anderes einfällt, als aus diesem schon völlig ausgewrungenen Einzelplan 11 weitere Mittel zu streichen, dann sagen Sie aber auch klar, daß genau das Ihre politische Linie ist, und geben Sie das nicht noch als sogenannten Sachzwang aus.
Schließlich nehmen Sie sich leider auch die Freiheit, auf zusätzliche Einnahmen für den Haushalt zu verzichten, zum Beispiel durch Besteuerung der Veräußerungsgewinne, Vermögen- und Erbschaftsteuer, Besteuerung von Flugbenzin.
Die Kürzung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Ost, wie im AFRG vorgesehen und im Haushalt eingestellt, ist für die fünf neuen Länder eine schlichte Katastrophe. Allein in Sachsen-Anhalt sind 17,2 Prozent Erwerbslose im August 1996 registriert; und wir alle wissen, daß die wirklichen Erwerbslosenzahlen erheblich höher liegen. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, sind mit Ihrer Wirtschafts- und Strukturpolitik Ost offensichtlich gescheitert. Gießkannensubventionen, die oft genug bei den Westkonzernen hängenbleiben, sind keine Lösung.
Solange die Arbeitslosigkeit so dramatisch hoch ist, sind besondere Anstrengungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik absolut zwingend. Statt dessen wollen Sie in einer solchen Situation in Ostdeutschland in den nächsten Jahren noch zirka 300 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosigkeit entlassen. Das ist absolut unverantwortlich.
Ich will die Probleme der Arbeitsmarktpolitik gerade im Osten gar nicht schönreden - neben vielen sinnreichen und interessanten Projekten läuft zweifellos einiges schief. Aber die entscheidende Frage ist doch, welche Konsequenzen man daraus zieht. Wir wollen, daß die Konzepte in der Arbeitsmarktpolitik verbessert werden. Sie wollen sie alternativlos streichen.
Sie behaupten, der zweite Arbeitsmarkt im Osten sei schuld daran, daß der erste nicht funktioniert. Sie wissen genau, daß das eine Umkehrung der Fakten ist. Im Bereich der sozialen Infrastruktur beispielsweise gibt es zur Zeit kaum einen ersten Arbeitsmarkt. Dauerhafte Aufgaben der öffentlichen Hand werden von den Kommunen, die viel zuwenig Geld haben, über Arbeitsmarktmittel finanziert, zum Beispiel in der Jugendarbeit und in der Altenbetreuung.
Wenn Sie die AB Ost so wie derzeit geplant zusammenstreichen, dann wird die soziale Infrastruktur in den Kommunen einbrechen. Das hat der DPWV ein-
Annelie Buntenbach
drucksvoll belegt. Er hat auch einen interessanten Vorschlag zur Abhilfe mitgeliefert, mit dem wir uns in den Ausschußberatungen gründlich auseinandersetzen sollten, nämlich weg von der schrägen Finanzierung über Arbeitsmarktmittel, die dann für andere Projekte der Arbeitsförderung frei würden, hin zu einer Finanzierung dieser dauerhaft erforderlichen Stellen über Steuermittel.
Wenn Sie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Ost so zusammenstreichen, wie Sie das zur Zeit vorhaben: Was meinen Sie damit eigentlich wirklich zu sparen? Die Menschen werden nicht im ersten Arbeitsmarkt unterkommen. Sie werden auch nicht nur ihrer Regierung zuliebe aufhören zu essen. Irgendwovon müssen Sie leben: Arbeitslosengeld? Arbeitslosenhilfe? Sozialhilfe?
Das, was Sie in diesem unsoliden Haushalt alles an Einsparungen kalkulieren, ist doch eine einzelbetriebliche Milchbubenrechnung. Was aus dem Bundeshaushalt nicht mehr bezahlt werden muß, muß entweder die Bundesanstalt für Arbeit bezahlen oder die Kommunen, die schon jetzt finanziell am Ende sind.
Ihre ganze sogenannte Arbeitslosenhilfereform ist ein glänzendes Beispiel für den Verschiebebahnhof von Kosten, den Sie veranstalten, weil Sie nicht willens und imstande sind, statt bornierter Kurzfristkalkulationen eine gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung in den Blick zu nehmen und daraus die vernünftigen Problemlösungen zu entwickeln.
Was Sie bei dieser Kostenschieberei kurzfristig allerdings einsparen, ist das, was Sie den Betroffenen durch die Kürzung der Leistungen direkt aus der Tasche ziehen. Zusätzlich überziehen Sie die Leute mit einer andauernden Mißbrauchsdebatte, mit ständig schärferen Kontrollen und Weiterdrehen an der Zumutbarkeitsschraube. Unter dem politischen Kampfbegriff „Mißbrauchsbekämpfung" haben Sie sogar Minderausgaben in Milliardenhöhe im Haushalt eingestellt, die komplett spekulativ sind und jeder sachlichen Grundlage entbehren.
Mit solchem Vorgehen bauen Sie Pappkameraden für die Stammtischdiskussionen auf.
Leider haben Sie wohl aus der Asyldebatte wenig gelernt. Bei zirka 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen ist doch nicht der Mißbrauch von Leistungen das Problem, sondern daß so viele gezwungen sind, sie zu gebrauchen.
Einen Etatposten habe ich bei der Durchsicht des Haushalts gefunden, der höher angesetzt ist. Das ist die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesarbeitsministeriums, deren Etat um 11 Millionen DM auf 34 Millionen DM erhöht worden ist.
Wenn Sie den Vandalismus, den die Regierung hier veranstaltet, Herr Minister Blüm, der Öffentlichkeit verkaufen wollen, werden Sie mit diesem Betrag kaum auskommen.