Rede von
Dr.
Winfried
Wolf
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Verkehrsetat 1997 weist vier Merkmale auf, wenn wir die Rechentricks, die Herr Wissmann vorgetragen hat und auf die Gila Altmann geantwortet hat, einmal weglassen.
Erstens. Es fließen an Bundesmitteln weit mehr Investitionen in den Straßenbau als in Schienenwege. Im direkten Vergleich sind es zunächst 8,1 zu 7,2 Milliarden DM. Bei den Verpflichtungsermächtigungen liegt die Diskrepanz bereits bei 10 zu 7 Mil-
Dr. Winfried Wolf
liarden DM. Dabei ist zu berücksichtigen, daß bei den Bahninvestitionen 3 Milliarden DM nur als rückzahlbare Darlehen gegeben werden. Die Folgen sind absehbar. Bereits Ende 1995 hatte die zwei Jahre junge DB AG neue Schulden in Höhe von gut 10 Milliarden DM. Um die Jahrhundertwende wird die Bahn AG erneut ein Sanierungsfall sein. Paradox auch das folgende. Während der schlanke Staat 1997 für 561 Millionen DM Grundstücke zum Straßenbau kauft und damit gegenüber 1994 fette 22 Prozent mehr ausgibt, soll Bahngelände im Wert von 3 Milliarden DM verkauft werden, darunter der beginnende Ausverkauf von 140 000 bahneigenen Wohnungen.
Zweitens. Im Einzelplan 12 gibt es Hunderte Projekte mit neuen Fernstraßen. Dabei fällt mir auf, daß viele Einzelprojekte im Jahr 1997 oft nur mit kleinen Beträgen angespart werden, aber gleichzeitig festgelegt ist, daß in den Folgejahren die Kosten explodieren. Beispiel B 6 bei Bad Harzburg: im Jahr 1997 gerade einmal 100 000 DM, Gesamtkosten das 530fache für 7 km. Herr Wissmann streunt 1997 gewissermaßen durch deutsche Auen, um mit Spatenstichen die Duftmarken in dem Terrain zu setzen, wo demnächst Beton auf Natur gegossen wird.
Drittens. Bei den übrigen Verkehrsbereichen lugt eine vergleichbar zerstörerische Energie aus dem Zahlenwerk. Der Transrapid ist fester Bestandteil - Verpflichtungsermächtigung 5,3 Milliarden DM. Bei der Binnenschiffahrt wird dem Prinzip gefrönt, die Wasserwege den größtmöglichen Schiffen anstatt die Schiffe bestehenden Gewässern anzupassen. Dort, wo es sinnvolle Verbesserungen gab, erfolgte das gegen den Widerstand von Herrn Wissmann und durch die Politik von unten. Blick ins Detail: In Kapitel 12 01 ist die Anschaffung von zwei Pkw mit je 170 und 180 Kilowatt Leistung für das Wissmannsche Ministerium vorgesehen. Der Trend zu PS-Potenz-Prothesen hält demnach an.
Viertens. Die Investitionen des Bundes im Schienenverkehr fließen fast ausschließlich in Hochgeschwindigkeitsstrecken. In der Fläche wird die Bahn weiter ausgedünnt. Nach meinen Informationen soll der Interregio demnächst als Angebot schlicht abgeschafft werden. Bei den Hochgeschwindigkeitsstrekken selbst kommt teure, zerstörerische DinosaurierTechnik zur Anwendung, Beispiel Aus- und Neubaustrecke München-Berlin. In diese sollen mindestens 21 Milliarden DM, inklusive Zinsen für Private, eher 35 Milliarden DM fließen.
Dabei werden Städte abgehängt und zerschnitten. Ingolstadt zum Beispiel erhält nur für drei Jahre das Versprechen eines ICE-Halts. Frühestens im Jahr 2007 soll die Reisezeit rund vier Stunden betragen. Heute benötigt der Intercity auf der direkten Verbindung über Leipzig noch siebeneinhalb Stunden. Dabei verkehrten bereits in den 30er Jahren Reichsbahnzüge mit sechs Stunden 44 Minuten. Leistbar wäre, die bestehende Strecke zu optimieren und Berlin-München mit Neigungstechnik-Zügen in fünfeinhalb Stunden, mit Sprinterzügen sogar in fünf Stunden zurückzulegen. Die Kosten würden im Vergleich zur jetzigen Planung mehr als halbiert, benötigt würden dafür nur zwei Jahre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mir vor drei Wochen das perverse Schauspiel im Leipziger Hauptbahnhof angesehen. Dort wird Europas bisher größter Kopfbahnhof buchstäblich ausgeweidet. Zwei Gleise werden herausgerissen und auf denselben inmitten des Bahnhofs Pkw-Abstellplätze gebaut. Ein großer Teil der ehemaligen Bahnhofshalle wird in eine Geschäftsstraße umgewandelt.
Hier erleben wir erneut die neuen Bundesländer in der Rolle des Versuchskaninchens. Denn in die gleiche Richtung weisen mindestens 25 Projekte, bei denen in anderen deutschen Stadtzentren Kellerbahnhöfe gebaut und in ehemalige Bahnhofshallen das Implantat Schickimicki-Konsumtempel kommen soll.
Für den kommenden Montag sind einige von uns für einen Drei-Stunden-Termin nach Venedig eingeladen. Matthias Wissmann und Heinz Dürr geben sich und uns die Ehre. Dabei ist es symptomatisch für den Autofilz, daß Herr Dürr Bahnchef und als Privatmann Eigner eines Unternehmens sein kann, das sich rühmt, weltweit führender Systemlieferant von Autolackierautomaten zu sein. Dürrs Thema in Venedig ist die „Renaissance der Bahnhöfe".
Vor dem Hintergrund der aktuellen Verkehrspolitik wird deutlich, welches Stück tatsächlich auf dem Spielplan steht: „Tod in Venedig" - Tod für bestehende repräsentative Bahnhöfe als Empfangshallen und Visitenkarten großer Städte, Tod für eine Flächenbahn, die den Mobilitätsbedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung dient und damit Absage an die sozial und ökologisch einzig vertretbare Alternative zu Autobahn und Betonorgie. Der Etat 12 ist Ausdruck dieser Politik und deswegen abzulehnen.