Rede von
Ottmar
Schreiner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Geißler hat in der heutigen Debatte zum zweitenmal die Frage gestellt, wer hier eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat. Ich will erneut, ähnlich wie in der letzten Woche, versuchen, diese Frage zu klären.
Der Kollege Geißler hat behauptet, diejenigen, die sagen, es handele sich um sozialen Kahlschlag, hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich will dem Kollegen Geißler nun mitteilen, daß es in Deutschland eine ganze Fülle von Personengruppen gibt, bei denen sich die Gesetze, die heute zur Verabschiedung anstehen, als kompletter sozialer Kahlschlag auswirken.
Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen; ich könnte die Zahl der Beispiele erweitern: Wenn ein Arbeitnehmer, der über 40 Jahre schwer gearbeitet hat, mit Mitte 50 arbeitslos wird, anschließend in den Bezug des gekürzten Arbeitslosengeldes gerät, danach jährliche Kürzungen der Arbeitslosenhilfe erfährt, später - weil es überhaupt keine Alternative mehr gibt - mit 60 in Rente wegen Arbeitslosigkeit geht, 18prozentige Abschläge von der Rente für den Rest seines Lebens hinnehmen muß, dann hat dieser Arbeitnehmer nach jahrzehntelanger schwerer Arbeit mit seiner Frau zusammen, die vier Kinder großgezogen hat, im Ergebnis Ihrer Gesetze eine Monatsrente, die unterhalb der Sozialhilfe liegt.
Wenn diese Familie, dieses Ehepaar Ihre Gesetze als sozialen Kahlschlag empfindet, wer hat hier noch alle Tassen im Schrank - dieses Ehepaar oder der Kollege Geißler?
Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen; wie gesagt, ich könnte die Zahl der Beispiele erweitern. Sie
Ottmar Schreiner
wissen, daß aus Gründen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr viele Frauen freiwillig auf Teilzeit gehen. Sie wissen, daß Frauen in Deutschland bei vergleichbarer Tätigkeit in der Regel immer noch 30 Prozent weniger Einkommen haben als Männer. Wenn diesen Frauen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 20 Prozent weggenommen werden, sitzen sehr viele dieser Frauen im Krankheitsfall in der Sozialhilfe.
Wenn diese Frauen das Gefühl haben, hier handele es sich um politischen Kahlschlag, wer hat hier noch alle Tassen im Schrank - diese Frauen oder der Kollege Geißler?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ähnlich demagogisch - Herr Geißler, Sie sind ein Meister im Verbreiten von Halbwahrheiten - sind Ihre Äußerungen zu den Lohnnebenkosten oder der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge. Sie selbst waren es, der vor wenigen Monaten noch, als die F.D.P. aus wahltaktischen Gründen die Absenkung des Solidarzuschlages gefordert hatte, öffentlich vorgeschlagen hat, alternativ zur Absenkung des Solidarzuschlages diejenigen Teile bei den Lohnnebenkosten abzusenken, die Sie seit 1991 zur Finanzierung der deutschen Einheit mißbrauchen.
Sie selbst waren es, der sich in dieser Frage jahrelang den Vorschlägen der SPD zur Absenkung der Lohnnebenkosten und zu einer gerechteren Finanzierung der deutschen Einheit angeschlossen hat? Davon wollen Sie jetzt anscheinend nichts mehr wissen. Sie verbreiten Halbwahrheiten. Sie demagogisieren hier nur noch herum.
Nächster Punkt. Der Kollege Geißler hat zu Recht auf die Globalisierung, auf die völlig neuen Herausforderungen im ökonomisch-sozialen Bereich hingewiesen. Was ich Ihnen vorhalte, ist, daß Sie die neue Zauberformel der Globalisierung schamlos und einseitig mißbrauchen, um Löhne zu drücken, Sozialstandards zu reduzieren und die Arbeitnehmer insgesamt öffentlich zu diffamieren. Das ist bei Ihnen die eigentliche Funktion der Globalisierung.
Unbestritten ist, daß wir eine weltweite rasche Zunahme der wirtschaftlichen Verflechtung zu verzeichnen haben. Das Entscheidende aber ist: Wenn sich die Antwort der hochentwickelten Industriestaaten auf die Globalisierung in einem aggressiven Wettlauf um immer niedrigere soziale und ökologische Standards erschöpft; dann setzen sie eine Abwärtsspirale in Gang, die die Fundamente unserer Gesellschaft zerstört,
weil soziale Gerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt nach allem Konsens der letzten Jahrzehnte unabdingbare Voraussetzungen für eine stabile Demokratie sind.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Diese Formulierung im Grundgesetzes war die Antwort der Mütter und Väter unserer Verfassung. Das war breiter gesellschaftlicher Konsens zu Beginn unserer Republik.
Die Antwort der Verfassung auf die totalitäre Barbarei der Nazis lautete: Rechtsstaat. Dies war gleichzeitig die Antwort auf die verhängnisvolle ökonomisch-soziale Abwärtsspirale der späten 20er und frühen 30er Jahre, die in 6 Millionen Arbeitslosen im Jahr 1932 gemündet hatte. Diese 6 Millionen Arbeitslosen waren der soziale Anfang vom politischen Ende der Weimarer Demokratie.
Das, was Sie jetzt machen, ist in einem einzigen Punkt damit vergleichbar. Sie wiederholen die verhängnisvollen Fehler der frühen 30er Jahre. Sie sparen, kürzen und kürzen. Sie kürzen ausschließlich zu Lasten der Arbeitnehmer und der sozial schwachen Einkommensbezieher.
Das ist konjunkturpolitisch die falscheste Antwort, die eine Bundesregierung in der gegenwärtigen Phase geben kann. Diejenigen, deren Kaufkraft als Nachfrage auf den Märkten gebraucht wird, werden geschröpft; denen, die viel haben, schenken Sie Milliarden hinzu.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Sätze zu dem sagen, was die Bundesregierung als zentrale Zielvorgabe formuliert hat. Sie hat gesagt, bis zum Jahr 2000 die Arbeitslosigkeit halbieren zu wollen. Deshalb wurden diese Gesetze vorgelegt.
Meine Damen und Herren, ich habe Sie in den letzten Monaten wiederholt gefragt: Welches sind die Eckpunkte der Bundesregierung, um die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren zu halbieren? Bis zur Stunde sind Sie mir jede Antwort schuldig geblieben. Ich könnte Ihnen den Nachweis bringen, daß Sie überall da, wo Handlungsbedarf besteht, so
Ottmar Schreiner
handeln, daß die Arbeitslosigkeit weiter in die Höhe getrieben wird.
Das will ich Ihnen an wenigen Beispielen deutlich machen.
Ihre Gesetze werden die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren nicht reduzieren, sondern weiter in die Höhe treiben. Allein die vorgezogene Erhöhung der Lebensarbeitszeit wird nach unseren Überlegungen zu einer zusätzlichen Arbeitslosigkeit von rund einer halben Million führen.
Vor wenigen Tagen hat der Präsident des BDI, Herr Henkel, auf die Frage nach der Halbierung gesagt: Die Industrie kann sich glücklich schätzen, wenn sie ihren Beschäftigungsstand in den nächsten zwei Jahren halten kann. Neue Jobs können nur im Bereich der Dienstleistungen geschaffen werden.
Wenn man sich den Bereich der Dienstleistungen anschaut, dann machen Sie in Ihren Gesetzen genau das Gegenteil dessen, was nötig wäre: Sie privilegieren die Hochverdienenden, und der Bundesfinanzminister finanziert aus seinem Etat die Privatangestellten. Beschäftigungspolitisch werden Sie damit überhaupt nichts gewinnen.
Schauen Sie sich die Erfahrungen der letzten Jahre an: 1991, als die sogenannte steuerliche Förderung bei der Einstellung von Privatangestellten eingerichtet worden ist, ging die Regierung von einem Arbeitsplatzzuwachs von 100 000 aus. Tatsächlich haben wir seit 1991 eher Verluste bei den Festangestellten im Bereich der häuslichen Dienstleistungen. Das heißt, beschäftigungspolitisch ist damit überhaupt nichts gewonnen worden. Das einzige, was Sie real betreiben: Sie unterstützen die Vermögenden, die Hochverdienenden, indem Sie ihnen in Zukunft ihre Butler und ihre Kammerzofen auch noch aus dem Etat des Bundesfinanzministers bezahlen.
Die SPD wird Sie in absehbarer Zeit mit einem eigenen Konzept konfrontieren, von dem wir der festen Überzeugung sind, daß es dem wirklichen Bedarf im Rahmen der häuslichen Dienstleistungen gerecht wird und tatsächlich einen ernsthaften Beschäftigungseffekt zusätzlich leisten kann.
In der gestrigen Debatte um die Frage: Wie gehen wir mit Lohndumping in Deutschland um? hat die sozialpolitische Sprecherin der F.D.P.-Fraktion gesagt, die Regierung befinde sich in einer Sackgasse. Wir haben Ihnen schon vor einem Jahr, als Sie Ihren Gesetzentwurf zusammenzimmerten, gesagt, daß daraus niemals etwas werden kann, weil diejenigen Kräfte, die Sie zur Umsetzung brauchen, schon damals gesagt haben, daß sie diesen Gesetzen nicht zustimmen werden.
Der Präsident der Deutschen Bauindustrie hat vorgestern gesagt: Wenn es bei der Untätigkeit der Bundesregierung bleibt, werden in diesem Jahr 1996 6 000 mittelständische Bauunternehmen in Konkurs gehen und in den nächsten Jahren 300 000 weitere Bauarbeitnehmer in Deutschland ihren Arbeitsplatz verlieren.
Die Bundesregierung aber tut nichts.
Sie sieht tatenlos zu, wie sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland in einer ganzen Reihe von Feldern weiter aufbaut. Die Bundesregierung ist neben der britischen Regierung die einzige Regierung in Europa, die sich gegen eine europäische Beschäftigungsinitiative strikt wehrt, ja die sich sogar strikt dagegen wehrt, daß in den Maastricht-Vertrag europäische Beschäftigungsziele aufgenommen werden.
Die Bundesregierung hat mit der Vorlage eines neuen Gesetzes zur Arbeitsförderung dazu beigetragen, daß in den nächsten Jahren nach Schätzungen aller Experten 250 000 Menschen zusätzlich in Arbeitslosigkeit geraten werden, weil sie die vorhandenen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik vor allem zu Lasten Ostdeutschlands weiter reduziert.
Zu all diesen Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen klare Alternativen der SPD als Gesetzesanträge oder als Initiativanträge im deutschen Parlament vor.
- Zu all diesen Fragen liegen Gesetzesinitiativen der SPD im Parlament vor. Sie sollten vielleicht etwas weniger Zeit in Kneipen verbringen und etwas mehr Aktenstudium betreiben, dann könnten Sie sich sachkundig machen über das, was die SPD im Parlament eingebracht hat.
Lassen Sie mich zum Schluß zusammenfassen: Die vorliegenden Gesetzentwürfe sind sozialpolitisch unanständig, weil sie kleine und mittlere Einkommen, Arbeitnehmereinkommen einseitig belasten. Sie sind konjunkturpolitisch völlig verfehlt, weil die Kaufkraft dort abgeschöpft wird, wo sie sich bei einer labilen Konjunktur als Nachfrage auf dem Binnenmarkt am ehesten äußern könnte. Und sie sind beschäftigungspolitisch völlig falsch, weil sie die Arbeitslosigkeit nicht senken, sondern dazu beitragen, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland in der nächsten Zeit steigen wird.
Meine Damen und Herren, mit diesen Gesetzentwürfen zieht die Koalition den Karren, den sie in den letzten Jahren in den Sumpf gefahren hat, nicht aus dem Dreck heraus, sondern sie schiebt den Karren noch tiefer und noch weiter in den Sumpf hinein.