Rede von
Dr.
Wolfgang
Gerhardt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen auch keine amerikanische Entwicklung, Herr Kollege Fischer,
die von einer „Hire-and-fire"-Mentalität begleitet wird. Der Herr Bundespräsident hat das, was wir mit dem Hinweis auf Amerika meinen, vor wenigen Tagen sehr präzise ausgedrückt: Wir brauchen ein Stück dieser mentalen Standortfähigkeit, die diese Nation ausstrahlt. -
Er hat das mit einen Hinweis auf Carl Zuckmayer zitiert. Es geht nicht vorrangig um die Frage von Arbeitsbedingungen und Investitionen. Es geht um die mentale Fähigkeit zur Veränderung, die wir in Deutschland brauchen.
Das, Herr Kollege Fischer, ist nun einmal klar zu beantworten, und das ist auch die Grundlage unseres Programms.
Wir werden der Veränderungen mit der sozialpolitischen Begleitung von Problemen nicht Herr werden; die kennen wir. Beschäftigungsprogramme haben wir schon gemacht. Strukturhilfen sind gewährt worden. Frühverrentungen sind gemacht worden. Arbeitszeitverkürzungen sind gemacht worden. Die AB-Maßnahmen sind erhöht worden. Viele haben geglaubt, die 35-Stunden-Woche bringe den Beschäftigungsschub. All das, was die Opposition hier im Hause erzählt, ist reale Politik, aber die Arbeitslosenzahl ist gestiegen. Deshalb kann das nicht die letzte Antwort sein.
Das hat die Koalition bewegt, sich neu zu verabreden. Ich möchte sehr persönlich sagen, Herr Bundeskanzler, Herr Kollege Waigel: Vielleicht wissen wir erst heute in der Debatte und in den nächsten Tagen, was dies für eine Bedeutung für die Koalition und für unser Land haben wird. Ich halte das für eine der wichtigsten Entscheidungen in dieser Legislaturperiode und bedanke mich ausdrücklich bei CDU und CSU für die faire Zusammenarbeit und das gute Übereinkommen.
Meine Damen und Herren, der Punkt ist doch nicht, daß sich hier Regierung und Opposition gegenübersitzen und wir mit Freude Sparmaßnahmen einleiten würden.
Wir wissen, daß sie schwerwiegend sind und daß
man Menschen überzeugen muß. Aber wir wissen
auch: Wir würden die Gesellschaft um ihre Zukunft
betrügen, wenn wir jetzt nicht zu Entscheidungen kämen. Das ist der Kern unseres Programms.
Unser Programm verlangt dieser Gesellschaft nicht zuviel ab. Es verlangt nur eines: Fähigkeit zum Wandel, Fähigkeit zu neuem Denken und Fähigkeit zu strukturellen Veränderungen. Ich erkläre ausdrücklich für die F.D.P.: Wir wollen diesen Wandel, wir wollen diese Veränderungen, wir wollen der jungen Generation eine Zukunftschance mit einer neuen, gesicherten Rentensystematik und mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten geben. Dazu bitten wir um ein Stück Zurückhaltung bei Tarifverhandlungen und um Geduld von einem Jahr bei den Zuwächsen. Das kann eine Gesellschaft ertragen, die wie unsere Gesellschaft in diesem Wohlstand lebt. Darum bitten wir.
Weltweit werden die Gesellschaften gewinnen, die die Veränderungen kompetent bewältigen, und es werden diejenigen verlieren, die verdrängen. Das Wahlergebnis im März hat im übrigen gezeigt, daß die Mehrheit der Bevölkerung denen mehr zutraut, die ihr sagen: Wir wollen uns verändern. - Wir haben all das, was jetzt beschlossen worden ist, im Wahlkampf jedem, der es hören wollte, erklärt, als notwendige Grundlage von Entscheidungen.
Die große Oppositionspartei hat die Wahlen auch deshalb verloren, weil sie die Probleme verdrängt hat und weil sie zum Wandel und zur Modernität gegenwärtig nicht auskunftsfähig ist. Das war der Kern dieser Entscheidungen.
Man muß einfach die Wahrheit sagen. Jeder weiß, daß Tarifverhandlungsrunden der Vergangenheit denen geholfen haben, die Beschäftigung hatten, und denen eher Schwierigkeiten gemacht haben, die Beschäftigung suchten. Jeder weiß, daß Solidargemeinschaften, die wir haben, von den eigenen Mitgliedern überstrapaziert worden sind, weil viele geglaubt haben, sie könnten auf Kosten Dritter leben, und es hinterher zu Beitragssteigerungen in exorbitanter Höhe gekommen ist.
Jeder weiß, daß Steuern in unserem Land hoch sind. Wenn es so einfach wäre, daß Steuersenkungen nur Ausfall in Haushalten bedeuteten, dann hätte man das schon in den 80er Jahren spüren müssen. Da hat diese Koalition Steuersenkungen durchgeführt. Das Ergebnis war: mehr Beschäftigung und mehr Konsolidierung der Haushalte.
Wenn die Steuerhöhe über die Haushaltskonsolidierung entscheiden würde, dann müßten wir einen überschäumenden Haushalt haben. - Hohe Steuern haben wir genug. -
Dr. Wolfgang Gerhardt
Aber wir haben Probleme. Das zeigt, daß der umgekehrte Weg von Senkung und Entlastupg die einzige Chance ist.
Ich will noch einmal - auch für die Öffentlichkeit - sagen: Macht eine Koalition, die mit der SPD vor vier Monaten Kindergeld von 70 auf 200 DM erhöht und 7,2 Milliarden DM Familienleistungsausgleich geschaffen hat, eigentlich einen politischen Fehler und schädigt sie die Zukunft des Landes, wenn sie jetzt darum bittet, die nächste Erhöhungsstufe erst im nächsten Jahr zu verwirklichen? Ist das eine Beeinträchtigung unserer Gesellschaft? In welchem Land leben wir denn, wenn diese Gesellschaft eine Erhöhung ein Jahr später nicht aushalten kann? Das ist doch wirklich zumutbar!
Jetzt reden wir einmal über Beschäftigung. Wer hat uns denn mit dem Stichwort „ Dienstmädchenprivileg " beschimpft,
obwohl die Bundesanstalt für Arbeit nahezu 700 000 Beschäftigungsverhältnisse in privaten Haushalten prognostiziert? Schwarzarbeit haben Sie mit Ihrem Verhalten gefördert! Wir wollen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Es zählt auch zur einfachen Wahrheit, daß in einem Betrieb mit fünf Arbeitnehmern - das sind meistens keine Betriebe mit großem Gewinn; das sind Betriebe, die in Form der Personengesellschaft geführt werden - die Entscheidung darüber, ob man einen weiteren Arbeitnehmer einstellt, auch davon abhängig ist, wie man, wenn die Ertragslage nicht mehr so gut ist, mit dem Risiko fertig wird. Deshalb ist die Erhöhung des Schwellenwertes eine Chance für Tausende von Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland und bedeutet nicht eine Vernichtung von Arbeitsplätzen.
Der Kern unserer gemeinsamen Verabredung ist doch nicht mehr und nicht weniger, als aus gemachten gesellschaftlichen Erfahrungen soziale Sicherungssysteme im Verhältnis zu Beschäftigungschancen neu zu justieren. Jeder in Deutschland weiß, daß Verteilungspolitiker in langen Jahren des Wachstums soziale Sicherungssysteme geschaffen haben, die jetzt Beschäftigung gefährden. Da aber das höchste soziale Gut Beschäftigung ist, müssen die sozialen Sicherungssysteme so umgebaut werden, daß dieses größte Gut mehr zum Durchbruch kommen kann. Das ist der Kern des Programms.
Wir wollen ihnen wieder neue Chancen geben.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, jeder weiß, daß die Gewerbekapitalsteuer eine Substanzbesteuerung ist. Sie haben im vergangenen Jahr die Koalition gebeten, die Beratungen darüber etwas zu verschieben, und dies mit der Ankündigung verbunden, auch die SPD sei auf dem Wege der Überlegung und brauche hinsichtlich einer Verfassungsänderung noch ein bißchen Zeit. Wir haben darauf reagiert. Jetzt aber kommen Sie wieder und erklären, Sie seien nicht bereit, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Das ist das absurdeste steuerpolitische Bekenntnis, das ich seit langem gehört habe. Es ist falsch; die Annahmen stimmen nicht.
Wenn Sie uns erzählen wollen, daß ein Diffamierungspotential bei einem Aufkommen aus der Besteuerung privater Vermögen in Höhe von 2 Milliarden DM möglich sei, wovon die Hälfte im übrigen durch Verwaltungskosten aufgezehrt wird,
und daß die Koalition nicht den richtigen Weg gehe, wenn sie allein aus Vereinfachungsgründen dies bei der Erbschaftsteuer mit einbinden will, dann täuschen Sie die deutsche Öffentlichkeit. Stecken Sie die Diffamierung beiseite; es lohnt sich nicht.
Meine Damen und Herren, wir haben dieses ganze Paket deshalb auf den Weg gebracht - es ist schwierig genug -, weil unsere Gesellschaft auch im Interesse der demokratischen Stabilität Auskunft über die Beschäftigung in Deutschland braucht. In unserem Land ist Arbeitslosigkeit ein größeres Problem - auch im kollektiven Gedächtnis unserer Nation - als in jedem europäischen Nachbarland. Wir haben dieses Paket auf den Weg gebracht, um der jüngeren Generation auch eine Zukunftschance zu vermitteln, wenn sie nach ihrem Erwerbsleben soziale Sicherheit im Hinblick auf das Älterwerden haben will. Darüber wird es ohnehin noch eine heiße Debatte geben.
Aber ich sage uns allen in der Koalition: Ich begrüße außerordentlich, daß wir zu den beiden zentralen Punkten Tarifreform im Steuersystem sowie Diskussion der Rentenformel und der Neuentwicklung der zukünftigen sozialen Sicherheit in unserer Gesellschaft verabredet haben - es ist richtig, wie es der Herr Bundeskanzler erklärt hat -, daß wir noch in dieser Legislaturperiode, also vor Wahlen, Entscheidungen treffen und die Gesetzgebung abschließen. Das sind die wichtigsten psychologischen Orientierungsdaten für Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nicht das Verschieben der Sozialhilfeerhöhung um ein Jahr gefährdet unsere Zukunftsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt, auch nicht das Verschieben der Familienförderung um ein Jahr. Unsere Gesellschaft braucht für den sozialen Zusammenhalt in den großen Entwicklungslinien die Auskünfte, die eine Regierung geben muß. Die geben wir unserer Gesellschaft in dieser Legislaturperiode.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Das ist die wichtigste Entscheidung dieser Koalition.
Dahinter ist die übrige Diskussion darüber, die Lohnfortzahlung tariffähig zu machen, die Gesellschaft zu bitten, damit einverstanden zu sein, daß wir Erhöhungen um ein Jahr verschieben, eine zweitrangige Diskussion. Entscheidend ist, ob diese Gesellschaft und die politisch führenden Kräfte noch die Fähigkeit haben, Systeme zu verändern, bei denen die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte jedem klar vor Augen geführt hat, daß sie der Beschäftigung schaden und Zukunftsvorsorge verbauen.
Herr Kollege Fischer, Ihre Bewegung hat Verdienste. Sie hat Engagement für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen mit in diese Gesellschaft gebracht. Die Staatsquote aber ist das gesellschaftliche Ozonloch der Bundesrepublik Deutschland, und dieses muß beseitigt werden.
Darüber werden wir einen schönen Kompetenzstreit führen.
Ich freue mich darauf. Es kann eine politische Partei für die Zukunft der Gesellschaft Aussagen nur treffen, wenn sie hinsichtlich der Grundannahmen der großen Systeme ein Reformmodell vorstellt, das finanzierbar ist, den sozialen Zusammenhalt festigt und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland stabilisiert.
Eines füge ich hinzu: Nahezu jedes europäische Nachbarland hat im Hinblick auf diese Systeme schon reagiert. Alle um uns herum haben bei all dem, was wir heute besprechen, ihre Entscheidungen getroffen. Wenn Sie, Herr Kollege Scharping, in der Sozialistischen Internationale nachfragen, geben Ihnen diejenigen, die irgendwo in der Verantwortung standen oder stehen, nahezu die gleichen Auskünfte wie der Herr Bundeskanzler heute morgen.
Wir erfinden hier kein Modell, das die Armen ärmer und andere reicher machen soll.
Wir haben uns zu diesen Entscheidungen entschlossen, weil ein Stück gesellschaftliche Zukunft damit verbunden ist.
Wir haben das auch deshalb unternommen, weil wir wissen, daß, wenn in einer Gesellschaft ganze Schichten wegbrechen, wenn die keine Beschäftigungschancen mehr haben, die Demokratie doch sehr gefährdet ist. Wir haben bei Wahlen schon Vorboten erlebt. Wir haben bei der baden-württembergischen Landtagswahl wider Erwarten schon bei den kleinsten Hinweisen den Pendelausschlag erlebt, der zeigt, was sich in dieser Gesellschaft vollzieht, wenn Menschen Angst vor Wettbewerb haben und sich nicht offen den Veränderungen stellen. Eines wissen wir aber: Jeder, der sich Veränderungen entzieht, jeder, der das verdrängt, wird scheitern.
Man mag diese Koalition kritisieren, weil sie darum bittet, mit Zuwächsen zu einem späteren Zeitpunkt einverstanden zu sein. Man mag sie kritisieren, weil sie Einsparungen vornimmt. Man mag sie auch kritisieren, weil sie die Lohnfortzahlung tariffähig macht. Man muß aber eines zur Kenntnis nehmen: Dieses Land steht jetzt im Kern vor der Frage der Veränderungsbereitschaft und der Modernisierungsbereitschaft.
Wer zur Modernisierung nicht bereit, nicht fähig oder in der Lage ist, der kann hier nicht regieren. Die Auskunft der Koalition ist die Fähigkeit der Koalition zur Modernisierung des Standortes Deutschland. Deshalb wollen wir auch weiter gut und fair zusammenarbeiten.