Rede von
Joseph
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung angesprochen - von keiner Seite wird es bestritten -: Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in der schwersten Strukturkrise seit ihrem Bestehen, einer Strukturkrise, die eng zusammenhängt mit den globalen Veränderungen, mit dem Ende einer ganzen Weltordnung in den Jahren 1989/ 90 - diese Veränderung kann man wahrhaft fast weltrevolutionär nennen -, aber auch mit Entwicklungen, die innergesellschaftlich und ökonomisch längst angelegt waren und dann nur gewaltig beschleunigt wurden. Wenn ich mir die Debatte anhöre, frage ich mich: Wie weit werden wir mit den Ritualen, die wir alle gemeinsam im Laufe der Jahre entwickelt haben, tatsächlich den Lösungsnotwendigkeiten, die aus dieser Strukturkrise entstehen, gerecht?
Meine große Furcht ist, meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, daß es dann nicht zwischen den demokratischen Parteien sozusagen zu einem Wechselspiel kommt, wenn diesmal die Erneuerung nicht gelingt. Sie haben die Politik des Aussitzens beendet und haben endlich etwas vorgelegt. Der einzige Maßstab, der daran angelegt werden kann, ist: Ist dieses Programm zukunftsfähig? Macht es die Bundesrepublik Deutschland unter den neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen, aber auch unter den neuen Bedingungen im Inland zukunftsfähig, ja oder nein?
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie im Blick auf die kommende Generation die Prioritäten in bezug auf die Zukunftsfähigkeit! Denn die Sicherheit der Renten in der Zukunft wird vor allem von der jüngeren Generation zu gewährleisten sein. Wenn hier keine Prioritäten gesetzt werden, dann haben Sie hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit in einem zentralen Punkt versagt.
Ich möchte hier nicht in Schwarzmalerei und Panikmache verfallen, aber wir stehen momentan am Anfang eines Prozesses und wissen nicht, ob am Ende der Abbau oder die Erneuerung des Sozialstaates stehen wird.
Wenn ich mir dieses Programm, das Sie heute vorgelegt haben, in seiner ganzen sozialen Schieflage, in seiner gnadenlosen Einseitigkeit anschaue, mit der die Lasten nach unten weitergereicht werden und den Erben großer Vermögen demnächst ein Erntedankfest versprochen wird, dann sage ich Ihnen: Wir sind hier am Beginn eines Abbauprozesses unseres Sozialstaates, und davor habe ich politisch große Angst.
Denn das würde unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen, meine Damen und Herren.
Wenn eine der großen Errungenschaften, an denen ja gerade Ihre Partei einen wesentlichen Anteil hat, nämlich an der Entwicklung des demokratischen Sozialstaates nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - und das war eine gelungene Antwort auf die beiden großen totalitären Herausforderungen dieses Jahrhunderts: auf die mörderischen Ideologien vor allem des Nationalsozialismus und des Kommunismus -, in Frage gestellt wird, dann werden wir irgendwann auch wieder die Frage der Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates diskutieren müssen. Und deswegen: Am Sozialstaat hängt nicht nur die zwingende moralische Frage der sozialen Gerechtigkeit in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, sondern auch die Zukunft der Demokratie als solcher.
Deswegen, Herr Bundeskanzler, ist gerade dieses Grundprinzip des Sozialstaates, zu dem sich aus der Tradition des Zentrums, der katholischen Enzykliken, die in diese Richtung gehen, wesentliche Teile der Union bekennen - unbeschadet aller Unterschiede in Ihrer Partei weiß ich, daß dies zum Kernbestand Ihrer Parteitradition gehört -, so unendlich wichtig: das Prinzip der Solidarität. Nur, wenn dieses Prinzip der Solidarität lediglich ein Schönwetterprinzip bleibt, wenn es nicht auch und gerade dann gilt, wenn weniger zu verteilen ist, wenn wir nicht auch und gerade dann daran festhalten, dann leiten Sie, Herr Bundeskanzler - ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt -, erste Schritte zum Abbau, zur Zerschlagung des Sozialstaates ein und brechen dadurch mit einer Tradition, auf die Sie und Ihre Partei in den vergangenen Jahrzehnten zu Recht - unbeschadet aller sonstigen Differenzen - stolz sein können.
- Nein, wenn ich mir anschaue, daß gegenwärtig die Abrißbirne ausgepackt wird, in welchem Umfang gegenwärtig versucht wird, Sozialabbau zu betreiben, Frau Kollegin Fuchs, dann sage ich Ihnen: Wir stehen hier vor einer „neuen Qualität von Sozialabbau". Ich gehöre nun weiß Gott nicht zu denen, die der Meinung sind, man solle Begriffe wie „Klassenkampf von oben" so ohne weiteres einführen. Aber wenn ich mir anschaue, mit welchem fast an Zynismus grenzenden Kalkül die Gewerkschaften durch eine 20prozentige Reduktion der Lohnfortzahlung und 10prozentige Reduktion beim Krankengeld zum Arbeitskampf provoziert werden sollen, dann sage ich Ihnen: Offensichtlich soll hier eine Politik eingeleitet werden, die bereit ist, weit über das hinauszugehen,
Joseph Fischer
was wir bisher an Sozialabbau kennen. Genau darum geht es, meine Damen und Herren.
Aber ich möchte zurückkommen zur Frage der Zukunftsfähigkeit. Die erste Frage, die wir uns hier stellen müssen, ist doch die nach der Krise der Haushalte. Dahinter steckt die Beschäftigungskrise und hinter dieser Beschäftigungskrise die Herausforderung eines radikalen Strukturwandels.
Ich habe das Prinzip der Solidarität für uns definiert. Es ist unverzichtbar. Aber genauso notwendig ist es, daß dieses Prinzip der Solidarität beim Sparen um- und eingesetzt wird. Wenn Sie jetzt auf der einen Seite Einschnitte machen, vor allen Dingen bei Leistungsempfängern, und gleichzeitig ankündigen, daß Sie die Vermögensteuer abschaffen wollen, dann - sage ich Ihnen - kündigen Sie das Prinzip der Solidarität auf.
Und wenn Sie Schweden angeführt haben, Herr Bundeskanzler, dann sollten Sie auch anführen, daß die Vermögen in Schweden steuerlich ganz anders belastet werden als bei uns.
Wenn Sie diesen Weg gehen wollen, daß wir, wenn unten Einschnitte gemacht werden müssen, auch die Schultern stärker belasten, die mehr tragen können - und die nominal hohen Spitzensteuersätze in diesem Land sind ja dergestalt skandalös, daß gut organisiertes großes Vermögen tendenziell einen Steuersatz null oder wenig darüber zu bezahlen hat, das muß dringend geändert werden -,
wenn Sie also dieses Prinzip Schwedens bei der Erneuerung des Sozialstaates hier durchsetzen wollen - nur, davon findet sich nichts in Ihrem Papier -, dann werden wir Sie voll unterstützen. Das heißt nämlich: Wenn Lasten unten getragen werden müssen, dann hat um so mehr auch oben Lastenverteilung stattzufinden. In Ihrem Programm ist das Gegenteil der Fall.
Der Bundeskanzler hat heute zu Beginn seiner Rede einen Satz gesagt, den man zur Kenntnis nehmen sollte. Er hat die Wachstumserwartungen nach unten korrigiert. Ich frage Sie, wieweit die Annahmen des Finanzministers für das 50-Milliarden-Loch ebenfalls zu korrigieren sind.
- Nächste Woche, sagt Herr Lafontaine.
Denn wir wissen ja, in der Annahme steckt etwas Erstaunliches - da müßten eigentlich die Kollegen von der F.D.P. spitze Öhrchen bekommen -: In der Annahme ist enthalten, daß das Steuervolumen, das dem 50-Milliarden-Loch für 1997 zugrunde liegt, bereits Steuererhöhungen beinhaltet. Wenn Sie jetzt die Wachstumszahlen nach unten korrigieren müssen und wenn wir gleichzeitig davon ausgehen, daß es nicht zu Steuererhöhungen kommen wird - Sie haben das hier noch einmal gesagt -, dann reden wir vermutlich nicht über ein 50-Milliarden-Loch für 1997, sondern vielleicht von einem 100-MilliardenLoch. Es kann sehr gut sein, daß wir heute wieder einmal eine Scheindebatte führen, und zwar auf Grund der Annahmen, die der Bundesfinanzminister vorgelegt hat.