Rede von
Oskar
Lafontaine
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben soeben eine Einschätzung der ökonomischen Lage vorgenommen und haben einiges über die Lage der öffentlichen Haushalte gesagt. Dieser Einschätzung der ökonomischen Lage können wir nicht widersprechen, und die Darstellung der öffentlichen Haushalte ist nach dem, was wir heute wissen, korrekt gewesen.
Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, eine Frage müssen wir Ihnen stellen: Hätten Sie diese Rede nicht auch schon vor einigen Wochen hier halten können?
War die ökonomische Lage damals wirklich so viel anders als heute? War die Lage der öffentlichen Haushalte vor einigen Wochen so viel anders als heute?
Warum haben Sie nicht den Mut gefunden, vor einigen Wochen anzukündigen, daß Sie in die Lohnfortzahlung eingreifen wollen,
daß Sie den Kündigungsschutz einschränken wollen, daß Sie das Rentenrecht verschlechtern wollen, daß Sie die Arbeitsförderung drastisch verschlechtern wollen und daß Sie das Kindergeld nicht zeitgerecht erhöhen wollen? Warum gehen Sie immer nach derselben Methode vor, daß Sie der Bevölkerung vor den Wahlen die Unwahrheit sagen, um nach den Wahlen dann mit der ganzen Wahrheit herauszurükken?
Sie haben vorhin an die Adresse der SPD und der anderen Parteien im Deutschen Bundestag gesagt, Sie wünschten, daß die Debatte um die Reform des Rentensystems aus dem nächsten Wahlkampf herausbliebe. Da können wir uns ganz auf Sie verlassen, verehrter Herr Bundeskanzler. Sie haben es bisher immer geschafft, vor Wahlen Debatten zu vermeiden, die wahrheitsgemäß gewesen wären, aber dem Volk einiges abverlangt hätten.
Dadurch sind Sie verantwortlich dafür, daß die Staatsverdrossenheit in unserem Volk gewachsen ist
und daß viele zu der Auffassung kommen: Vor Wahlen kann man den Politikerinnen und Politikern sowieso nicht mehr glauben. Die Erfahrung, wesentlich durch Sie selbst geprägt, gibt solchen Vorurteilen in unserer Gesellschaft leider recht. Sie sollten endlich
von dieser fahrlässigen, unehrlichen Vorgehensweise Abstand nehmen und den Bürger dadurch zum mündigen Bürger erklären, daß Sie gerade in den Wahlauseinandersetzungen die alternativen Konzepte der politischen Parteien diskutieren lassen.
Wenn die Arbeitslosigkeit die höchste nach dem Kriege ist, wenn die Staatshaushalte enorme Schulden haben und wenn die Steuer- und Abgabenquote viel zu hoch ist, dann stellt sich in einer Phase der Stagnation oder Rezession die Frage, wie die Politik reagieren soll, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu induzieren.
Es ist gut, meine Damen und Herren, daß jetzt zumindest die Überschriften geändert worden sind. Hieß es vor einiger Zeit noch: Wir müssen ein Sparpaket verabschieden, so heißt es jetzt richtigerweise quer durch die Parteien: Wir brauchen ein Programm für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung. Jeder weiß, die Sozialversicherungskassen und die Staatshaushalte können nur saniert werden, wenn es uns gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen und zu mehr Beschäftigung zu kommen.
Wenn man die Arbeitslosigkeit abbauen und zu mehr Beschäftigung kommen will, dann müssen die politischen Weichenstellungen richtig vorgenommen werden. Wir haben in diesem Hause oft über die Rolle der Geldpolitik diskutiert. Ich glaube, daß die Bundesbank durch die jüngsten Entscheidungen die richtigen Signale gesetzt hat. Man hat sich nicht mehr starr an der Entwicklung der Geldmenge orientiert, sondern hat in einer Phase der Stagnation oder Rezession auf Wachstum umgeschaltet. Dies ist eine richtige Entscheidung der Deutschen Bundesbank.
Ebenso ist unstreitig, daß eine solche Entscheidung durch eine moderate und zurückhaltende Lohnpolitik ergänzt werden muß. Wer die Entscheidungen der letzten Wochen und Monate betrachtet, der wird nicht an dem Urteil vorbeikommen, daß die deutschen Gewerkschaften und die Tarifpartner - in erster Linie aber muß man die deutschen Gewerkschaften nennen - an dieser Stelle ihrer Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung voll entsprochen haben; denn sie haben eine moderate Lohnpolitik auf den Weg gebracht.
Eine Geldpolitik und eine Lohnpolitik, die sich nicht gegenseitig blockieren, wie Herbert Giersch in einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt hat, sind die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Sie müssen durch eine stetige, wachstumsorientierte Finanzpolitik und durch eine ausgewogene Sozialpolitik ergänzt werden. Die Fragen werden heute also sein, ob die Bundesregierung zu einer stetigen, wachstumsorientierten Finanzpolitik Vorschläge ge-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
macht hat und ob die Sozialpolitik, die Sie jetzt begonnen haben neu auszurichten, ausgewogen zu nennen ist.
Zur Finanzpolitik lese ich Ihnen ein Urteil des von Ihnen in den Sachverständigenrat berufenen Finanzexperten Rolf Peffekoven vor. Auf die Frage, warum die ökonomische Entwicklung so schlecht ist und warum wir solch große Defizite in den Staatshaushalten zu verzeichnen haben, sagte er gestern folgendes:
Die Erklärung ist ganz einfach. Es besteht ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dauernden Ankündigungen und dauerndem Nichtpassieren. Wenn aber etwas geschieht, wird es nicht selten gleich wieder rückgängig gemacht. Der deutschen Finanzpolitik fehlt es an Glaubwürdigkeit und an Stetigkeit.
Sie sollten sich das hinter die Ohren schreiben, meine Damen und Herren.
Auf die Frage: Ist die Finanzpolitik unsolide? sagt er:
Wenn Sie auf die fehlende Stetigkeit und Glaubwürdigkeit verweisen, dann muß ich leider antworten: Ja, die Finanzpolitik ist unsolide.
Ihre unstete Steuer- und Finanzpolitik in den letzten Jahren ist einer der Gründe dafür, daß wir mittlerweile diese hohe Arbeitslosigkeit, diese hohe Staatsverschuldung und diese hohe Steuer- und Abgabenlast zu verzeichnen haben.
Daß Ihre Sozialpolitik ausgewogen sei, will doch auch von Ihnen niemand ernsthaft behaupten. Wenn man die Stellungnahmen etwa der CDA in den letzten Tagen zur Kenntnis nimmt, muß man zum Urteil kommen: Sie haben zwar gesagt, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, alle müßten jetzt den Gürtel enger schnallen. Enger schnallen müssen den Gürtel aber nur Rentner, Familien, Arbeitslose und Arbeitnehmer. Dies verdeutlicht die totale Schieflage Ihrer Sozialpolitik.
Das Entscheidende ist aber, daß Sie zu den eigentlichen Reformen, die jetzt notwendig sind, nicht die Kraft aufbringen. Auf konjunkturelle Probleme muß man mit sachgemäßen konjunkturellen Lösungen reagieren. Auf strukturelle Probleme muß man mit sachgemäßen langfristig wirkenden strukturellen Lösungen reagieren.
Ich komme zur Steuerpolitik. Wir halten eine Reform des Einkommensteuerrechts für dringend geboten. Wir mahnen sie seit langem an. Wir stellen fest:
Das geltende Einkommensteuerrecht schafft Staatsverdrossenheit, weil es nicht hinnehmbar ist, daß der Verkäuferin und dem Facharbeiter direkt im Lohnbüro die Steuern abgezogen werden, während es Millionäre gibt, die völlig legal keinen Pfennig Steuern zahlen. Dies untergräbt das Vertrauen der Leistungsträger unserer Gesellschaft in den Staat.
Die erste Reform, die schon lange überfällig ist, um wieder mehr Leistungswillen in der Arbeitnehmerschaft und in unserer Bevölkerung zu ermöglichen, ist die Reform des Steuertarifs, der Lohn- und Einkommensteuer. Diese Forderung ist allgemein anerkannt. Aber Sie haben keinerlei Anstalten gemacht, um dieser Forderung zu entsprechen. Wenn Sie nicht entscheidungsfähig sind, weichen Sie immer auf Kommissionen aus, verehrter Herr Bundeskanzler.
Sie hatten eine Kommission von Finanzwissenschaftlern, die Bareis-Kommission, eingesetzt, die Ihnen Vorschläge gemacht hat, wie man das Einkommensteuerrecht leistungs- und sozialgerecht reformieren kann. Herr Waigel hat die Ausarbeitung dieser Kommission in den Papierkorb geworfen. Meinen Sie, es wird besser, . wenn er selbst jetzt einer neuen Kommission vorsitzt? Das ist doch eine Lachnummer.
Sie wollen die Ergebnisse dieser Kommission - da sind Sie konsequent, mein Kompliment - aus dem Wahlkampf heraus halten, denn dieses Gesetz soll erst nach der Bundestagswahl wirksam werden. Sehr verehrter Bundeskanzler, hier liegt ein klassischer Beweis dafür vor, daß der von mir zitierte Finanzwissenschaftler recht hat: Sie sind mit dieser Koalition nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, auch wenn in den Kommissionen da oder dort Richtiges erarbeitet wird. Vertagen Sie eine leistungs- und sozialgerechte Steuerreform nicht auf das Jahr 1999, sondern setzten Sie sie jetzt in Gang! Wir bieten dazu die notwendige Bereitschaft an.
Der richtige Weg bei der heutigen konjunkturellen Lage ist - da darf es überhaupt keinen Zweifel geben -, daß der Solidaritätszuschlag abgebaut wird. Wir halten den zügigen Abbau für notwendig, um die Konjuktur zu unterstützen, um nicht die Arbeitseinkommen über Gebühr zu strapazieren. Denn dies hemmt auch den Leistungswillen in unserer Bevölkerung. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise man zu einem zügigen Abbau des Solidaritätszuschlags kommen kann. Wir schlagen eine Vermögensabgabe auf hohe Vermögen vor, wie sie bereits nach der deutschen Einheit von vielen Fachleuten vorgeschlagen worden war.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wir fordern Sie auf, Ihren Vorschlag, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und statt dessen die Steuern für Handwerker, für Friseurmeister, Kraftfahrzeugmeister, Dachdeckermeister und viele andere zu erhöhen, zurückzuziehen. Es ist doch ein Treppenwitz der Weltgeschichte, daß Sie in dieser Phase der Konjunktur, in der die Nachfrage nach Investitionsgütern lahmt, eine Abschreibungsverschlechterung, sprich: Steuererhöhungen, für das Handwerk und den Mittelstand vorschlagen. Ziehen Sie diesen Vorschlag zurück! Er ist ökonomisch so unvernünftig, daß Sie in der Fachwelt niemanden finden, der diesen Vorschlag rechtfertigt.
Steuererhöhungen für Handwerk und Mittelstand, wie Sie sie jetzt, kaschiert als Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen, vorschlagen, sind jetzt wirklich nicht akzeptabel. Was der F.D.P.-Vorsitzende offensichtlich immer noch nicht verstanden hat: Im Saldo - lesen Sie die Gutachten der Industrieverbände nach - handelt es sich beim Gesetzentwurf zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer um eine Steuererhöhung. Nehmen Sie in der jetzigen Phase der Konjunktur von dieser Steuererhöhung endlich Abstand!
- Sie waren damals noch nicht im Parlament, zumindest einer von denen, die jetzt so laut dazwischengerufen haben; aber ich habe im letzten Jahr denselben Vortrag gehalten. Das Problem ist bei Ihnen nur: Man kann Ihnen noch so viele Argumente vortragen, Sie sind unbelehrbar und wollen Handwerk und Mittelstand weiterhin steuerlich höher belasten.
Die zweite wichtige Reform, die jetzt anzugehen ist, ist die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Es ist einfach nicht hinnehmbar, daß die Beiträge zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversicherung immer weiter ansteigen. Der Bundeskanzler hat vorhin eine Teilschuld seiner Regierung und der Koalition bei der Entwicklung dieses die Wirtschaft schädigenden ständigen Anstiegs der Beiträge eingeräumt. Mit dieser Entwicklung sind in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze bei Handwerk und Mittelstand verlorengegangen.
Es wäre notwendig, die sozialen Versicherungskassen von versicherungsfremden Leistungen zu befreien. Das ist völlig unstreitig. Aber in Ihrem Programm wird dieser Gedanke nicht oder nur in geringem Umfang aufgegriffen. In Wirklichkeit gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt nicht an, weil Sie nach wie vor daran festhalten wollen: Es ist bequemer, die Kosten der Einheit den sozialen Versicherungskassen aufzubürden, statt sie sauber von allen Steuerzahlern bezahlen zu lassen.
Dies ist ungerecht; denn es dürfte überhaupt keine Frage sein, daß die Kosten, die aus der deutschen Einheit entstanden sind, nicht nur von den Beitragszahlern bezahlt werden können. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher wäre es notwendig, dieses Reformprojekt jetzt anzugehen. Wiederum werden Arbeitsplätze dadurch wegrationalisiert, daß ein ernsthaftes Bemühen bei der Bewältigung dieser Reform in Ihrem Vorschlag nicht zu erkennen ist.
Das dritte Reformprojekt, an dem wir festhalten, ist der umweltgerechte Umbau unseres Steuer- und Abgabensystems. Würde man hier in diesem Bundestag abstimmen, dann würde diesem wichtigen Reformprojekt unserer Gesellschaft im Grundsatz zugestimmt. Es würde auf eine große Mehrheit quer durch die Fraktionen stoßen. Das ist jedem bekannt, der sich mit der Materie einmal beschäftigt hat.
Es gibt eine Reihe von Voten, die deutlich machen, daß die Idee, die Arbeit in diesem Lande billiger zu machen und auf der anderen Seite den Umweltverbrauch zu verteuern, eine richtige Idee ist, weil sie einerseits zu mehr Arbeitsplätzen führt und andererseits längerfristig die Lebenschancen zukünftiger Generationen erhält. Bitte, gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt unserer Gesellschaft endlich an!
Die Tatsache, daß wir auf dem weltweit wachsenden Umweltmarkt, der nach internationalen Schätzungen 1 000 Milliarden Dollar umfaßt, bei dem Export von Umwelttechnik nicht nur pro Kopf, sondern absolut Weltmeister sind, sollte uns doch Ermutigung sein, diesen Weg weiterzugehen. Ich will Ihnen eines sagen: Die Tatsache, daß wir in Deutschland bei der Umwelttechnik vorne sind, ist eher ein Ergebnis der Ökologiebewegung
als ein Ergebnis der gezielten Politik Ihrer Regierung.
- Natürlich, Herr Kollege Fischer, haben auch die Grünen einen Anteil an dieser Entwicklung; ich möchte das ausdrücklich von diesem Pult aus feststellen.
Das vierte Reformprojekt, das wir jetzt angehen müssen, ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich in größerem Umfang am Produktivvermögen und am Kapital zu beteiligen. Alle Daten, die wir heute zur Kenntnis nehmen können, sprechen
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
dafür, dieses seit Jahrzehnten diskutierte, aber immer wieder aufgeschobene Reformprojekt unserer Gesellschaft jetzt endlich in Angriff zu nehmen. Die Zeit ist überreif für dieses große Reformprojekt.
Es ist doch nicht zu bestreiten: Wir finanzieren den größten Teil der Soziallasten über die Arbeit und verteuern sie in einem Umfang, der nicht mehr am Markt durchzusetzen ist. Gleichzeitig ignorieren wir, daß der Anteil der Einkommen aus Vermögen steigen wird, während der Anteil von Arbeitseinkommen am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Es ist offensichtlich ein Fehler, gerade die Einkommen zu belasten, deren Anteil am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Also muß man die Finanzierung ändern.
Also muß man jetzt endlich in einer Zeit, in der die Realeinkommen seit Jahren stagnieren, auch in diesem Jahr, in dem die Aktienkurse ja nun wirklich nicht sinken, sondern Rekordhöhen erreicht haben, in dem die Höhe der Gewinne nach den Stellungnahmen der Sachverständigen insgesamt keine Probleme aufwirft und sie in einzelnen Branchen geradezu wieder exorbitant hoch sind, zu einer Veränderung in unserer Gesellschaft kommen, die man in die Worte fassen kann: Sich mit stagnierenden Reallöhnen abzufinden kann keine Antwort auf diese Entwicklung sein. Vielmehr muß die Antwort lauten, endlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch am Kapitalertrag und am Produktivvermögen zu beteiligen.
Eine einmalige Chance wäre es gewesen, beim Aufbau Ost mit dieser Arbeit zu beginnen.
Wenn man schon das völlig fehlerhafte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" mit all den Verwerfungen, die sowohl für die Investitionen als auch für die Vermögensverteilung in den neuen Ländern damit verbunden waren, durchgesetzt hat, dann hätte man im Gegenzug damit beginnen müssen, dort die Arbeitnehmer am neu aufgebauten Produktivvermögen, zumal es mit enormen staatlichen Mitteln finanziert worden ist, zu beteiligen. Hier haben Sie die Chance nicht genutzt, einen richtigen Einstieg in dieses Reformprojekt unserer Gesellschaft zustande zu bringen.
Wenn ich lese, daß man sich jetzt Gedanken darüber macht, ob nicht die Vorstandsbezüge in Deutschland in Form von Aktienoptionen an die Höhe der Vorstandsbezüge amerikanischer Manager angepaßt werden müssen, damit sie über Jahreseinkommen in zweistelliger Millionenhöhe verfügen - wir haben das vor zwei Wochen in einem Nachrichtenmagazin gelesen -, dann zeigt das eigentlich, wohin wir in unserer Gesellschaft nach 13 Jahren der
Regierung Kohl gekommen sind. Es wird für mich der Anstand verletzt, wenn nicht darauf hingewiesen wird, daß es bei ständig stagnierenden oder sinkenden Realeinkommen viel, viel notwendiger wäre, die Arbeitnehmer an Gewinnen und Aktienzugewinnen zu beteiligen.
Es ist ja überhaupt merkwürdig, daß Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, von Ihrer Seite kommen. Sie könnten ja den Zuschauerinnen und Zuschauern einmal darstellen, wie Sie persönlich, Herr Bundeskanzler, von den geplanten Regelungen bei der Lohnfortzahlung, dem Kindergeld und von der Kürzung sozialer Leistungen, wie der Sozialhilfe, der Arbeitslosenhilfe, des Arbeitslosengeldes und was da alles in der Mache ist, betroffen sind.
Dadurch könnte deutlich gemacht werden, wie es eigentlich in unserem Lande aussieht.
Aber es ist einfach nicht mehr hinnehmbar, daß diejenigen, die nun wirklich ein enormes Einkommen und Vermögen haben, immer wieder neue Sparappelle an Sozialhilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe richten. Das ist das Ergebnis einer totalen Fehlentwicklung in unserer Gesellschaft, die Sie zu verantworten haben.
Wir brauchen fünftens selbstverständlich eine Reform der Regelungen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist unstreitig. Streitig zwischen uns ist, wie Regelungen auf dem Arbeitsmarkt aussehen.
Sie haben hier noch einmal voller Stolz, Herr Bundeskanzler - ich habe versucht, es schon zwei-, dreimal zu erklären -, den Zuwachs der Beschäftigungsverhältnisse Ende der 80er Jahre vorgetragen.
Nur, meine Damen und Herren, wenn man die Beschäftigungsverhältnisse betrachtet, dann muß man in der heutigen Lage unserer Gesellschaft angeben, um welche Art von Beschäftigungsverhältnissen es sich handelt. Wenn man sich dann nach jahrelangem Votum für Verlängerung von Arbeitszeiten endlich zu der Einsicht durchgerungen hat - das begrüßen wir ja -, daß man Überstunden abbauen und Teilzeitarbeitsplätze einrichten muß, darf es aber nicht so sein, daß Millionen von Arbeitsplätzen zuwachsen, diese aber nicht sozialversicherungspflichtig abgesichert sind und zu Lasten der Frauen in unserer Gesellschaft gehen.
So haben wir uns die Neuordnung des Arbeitsmarktes nicht vorgestellt.
Daher ist es nicht akzeptabel, daß Sie beispielsweise das Angebot der Gewerkschaften, auch hier mit den Regierenden zu einer Zusammenarbeit zu
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
kommen, auf diese Art und Weise beantwortet haben. Es war ein Angebot der Gewerkschaften, zu einem „Bündnis für Arbeit" zu kommen. Das, was die Gewerkschaften dort eingebracht haben, waren moderate Lohnabschlüsse. Das ist natürlich in der jetzigen konjunkturellen Situation die adäquate Antwort. Aber die Gewerkschaften wollen sich dadurch eine Zusage einhandeln, daß es zu weniger Kündigungen und zu weniger Beschäftigungsabbau kommt. Das ist doch ein vertretbares und von allen zu unterstützendes Anliegen unserer Gewerkschaften. Wenn Sie darauf mit Abbau des Kündigungsschutzes antworten, dann haben Sie in die Hand gespuckt, die man Ihnen gestreckt hat, meine Damen und Herren!
Im übrigen ist der Abbau des Kündigungsschutzes, wenn man ihn vor dem Hintergrund der realen Situation auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, eine Maßnahme, die im Grunde genommen nur Symbolcharakter hat. Wenn Sie sich die Einlassungen über die Kombination von Kündigungsschutzvorschriften und der Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge einzugehen ansehen, die gestern im „Handelsblatt" vorgebracht worden sind, dann werden Sie erkennen, daß dies eine völlig unnötige und überflüssige Provokation der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist. Ich appelliere noch einmal an Sie, diese unkluge und von der Sache noch nicht einmal gerechtfertigte Entscheidung zurückzunehmen.
Wenn Sie in Ihrem Programm vorsehen, befristete Arbeitsverträge mehrfach zu verlängern, dann frage ich mich, was eigentlich noch der Sinn dieser Provokation ist. Und dann sagen Sie, ein Handwerker, der nur fünf Beschäftigte hat, habe wegen des hohen Kündigungsschutzes Sorge, noch einen einzustellen. Wenn Sie in diesem Ausmaß die befristeten Arbeitsverhältnisse und Kettenverträge zulassen, dann ist das keinem mehr beizubringen. Es wäre an der Zeit, daß Sie nicht immer nur Flickschusterei betreiben. Sie geraten zeitlich in die Enge, weil Sie vor Wahlen nicht diskutieren wollen, und nach den Wahlen geht es hopplahopp. Dann haben wir nichtüberlegte, unausgewogene Entscheidungen.
Ich bin sicher, wenn ich die Gesichter in Ihrer Fraktion sehe, verehrter Herr Bundeskanzler, es würden ganz prominente Mitglieder Ihrer Fraktion diese Feststellung unterschreiben.
Ich will aber jetzt die Namen nicht nennen.
Der sechste Punkt, den wir vorschlagen, ist eine Stärkung von Forschung und Innovation in unserer Gesellschaft. Es ist richtig in Ihrem Programm, daß Sie Existenzgründungen erleichtern wollen. Es ist richtig und unterstützenswert in Ihrem Programm, daß Sie den Zugang zu Wagniskapital verbessern wollen. Aber, meine Damen und Herren, bei den Forschungsausgaben darf man nicht kürzen. Wenn man alle Ressorts auffordert zu kürzen, dann müssen wir noch einmal daran erinnern, daß die Forschungsausgaben in den letzten Jahren im Haushalt insgesamt stark zurückgegangen sind.
Deshalb ist der Einwand der ostdeutschen Abgeordneten Ihrer Partei, verehrter Herr Bundeskanzler, gerechtfertigt, wenn sie auf die Notwendigkeit der Verstärkung von Forschungsausgaben gerade in den neuen Bundesländern hinweisen. Überprüfen Sie noch einmal diese Entscheidung! Es ist Sparen angesagt, das will niemand bestreiten, aber nicht bei den Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft.
Das gilt genauso für das Hin- und Hergezerre in der Koalition um die BAföG-Regelung. Gut ausgebildete Studentinnen und Studenten sind auch eine Investition in die Zukunft. Wir werden es nicht zulassen, daß die Frage, ob jemand eine gute Ausbildung erhält oder nicht, durch falsche Regelungen wieder allein vom Einkommen seiner Eltern abhängig wird. Wir werden das nicht zulassen.
Natürlich können wir auch nicht mit dem Rasenmäher Investitionsausgaben kürzen. Es wäre wünschenswert, daß die investiven Ausgaben hin zu erneuerbaren Energien umgepolt werden. Deswegen halten wir an unserem Vorschlag fest, an dieser Stelle die Anstrengungen des Staates zu verstärken und die vorhandenen Ausgaben stärker auf erneuerbare Energien auszurichten, damit wir die Märkte der Zukunft gewinnen und damit die Photovoltaik und die Sonnentechnik nicht nach Japan oder in die Vereinigten Staaten abwandern.
Natürlich sind wir in der jetzigen Phase auch aufgefordert, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
- Verehrte Damen und Herren, ich bin für diesen Zwischenruf dankbar. Ich möchte Sie jetzt noch einmal mit dem Grund vertraut machen, warum wir als Oppositionspartei - das war ein einmaliger Vorgang - an der Saar 1985 aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit erreicht haben. Das gibt es nicht oft. Davon können Sie nur träumen.
Wir haben die absolute Mehrheit erreicht, weil die ökonomische und insbesondere die finanzpolitische Lage an der Saar völlig aussichtslos war und der Haushalt total überschuldet war, und zwar durch die Politik von CDU und F.D.P. Natürlich können die Länder nicht die Steuern und Abgaben so erhöhen, wie Sie es hier tun.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
An der Saar galt nun wirklich, meine feinen Herren von den Liberalen: Steuerland war längst abgebrannt. Wir konnten auf die Erhöhungsorgien, die Sie durchgeführt haben, nicht zurückgreifen. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, sachgemäße Vorschläge zu machen, dann bleiben Sie zumindest bei der Wahrheit; denn die Grundlage unserer heutigen Debatte muß eine faire und sachgerechte Diskussion sein.
Weiterhin sage ich, daß Ihre ständige Polemik gegen die Koalition Röder/Klumpp gerichtet ist. Sowohl der ehemalige saarländische Ministerpräsident Röder als auch der ehemalige F.D.P.-Vorsitzende Klumpp haben in diesem Umfang Ihre ständigen abqualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Saarpolitik und ihrer Bevölkerung nicht verdient. Auch wenn Sie Großmäuler dagewesen wären, hätten wir die Montankrise und die Bergbaukrise gehabt. Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren!
Wenn wir die öffentlichen Haushalte konsolidieren wollen, dann sind wir gut beraten, die Vorschläge des Sachverständigenrates zu akzeptieren.
- Ich danke Ihnen, Herr Dr. Schäuble, daß Sie für etwas Ruhe in Ihrer Fraktion sorgen. Vielen Dank für diese Fairneß.
Der Sachverständigenrat rät dazu, bei der Haushaltskonsolidierung zwischen kurzfristigen und längerfristigen Konsolidierungsmaßnahmen zu unterscheiden. Er rät weiter dazu, in der Phase der stagnierenden Konjunktur, der erlahmenden Wirtschaft, der Rezession - wie immer Sie das nennen wollen - nicht über Gebühr mit Kürzungen und natürlich auch nicht mit Steuererhöhungen gegenzusteuern.
Diese Politik ist allerdings nur zu rechtfertigen, wenn tatkräftig längerfristige Strukturreformen eingeleitet werden, um die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
- Ja, das mögen Sie vielleicht beabsichtigen, aber wenn man den Schuldenstand sieht, waren Sie nicht erfolgreich in Ihrer Absicht. Das darf zumindestens festgestellt werden.
Die Vorschläge, die Sie dazu vorlegen, sind
teilweise geeignet, teilweise sind sie ungeeignet. Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den hehren Grundsatz verkündet, wir sollten nicht zulassen, daß jemand, der arbeitet, weniger hat als jemand, der nicht arbeitet, wer wollte ihm da widersprechen?
Wenn er zum Beispiel darauf hinweist, daß wir bei den Sätzen der Sozialhilfe darauf achten müssen, daß dieser Grundsatz eingehalten wird, wer wollte ihm da widersprechen? Wir haben beim Solidarpakt entsprechende Vereinbarungen zur Begrenzung der Sozialhilfesätze getroffen, und wir sind auch in Zukunft bereit, entsprechende Vereinbarungen zu treffen, um dieses Gebot, das unstreitig ist, zu unterstützen.
Aber ich möchte an dieser Stelle auch darum bitten, daß die Sozialhilfeempfänger nicht mit unsachgemäßen, polemischen Bemerkungen ständig herabgesetzt werden.
Denn wir erleben schon jahrelang eine Debatte, die Sie jetzt wiederholt haben und die heißt: Wer zumutbare Arbeit ablehnt, dem muß die Sozialhilfe gekürzt oder ganz gestrichen werden. Was soll eigentlich das ständige Herumreiten auf dieser Forderung? Sie als deutscher Bundeskanzler müßten doch wissen, daß das längst im Gesetz steht.
Ich lese Ihnen § 25 vor. Es könnte ja sein, daß das zu einer Information führt:
Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder eine zumutbare Arbeitsgelegenheit anzunehmen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.
Was soll also das ständige Wiederholen einer Forderung, die längst in einem deutschen Gesetzbuch steht, und welche Absichten verbinden sich eigentlich damit?
Ich sage Ihnen noch einmal: Ich weiß ganz genau, daß es populär ist, den Eindruck zu erwecken, es gäbe da Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen und gleichwohl Sozialhilfe beziehen. Seien Sie vorsichtig mit solchen Behauptungen! Seien Sie fair und zitieren Sie das deutsche Gesetzbuch! Polemisieren Sie nicht gegen die, von denen viele sich nicht helfen können, die in einer schwierigen Situation ihres Lebens sind!
Viel sinnvoller wäre es in dieser Frage, den viel zu hohen Eingangssteuersatz von fast 26 Prozent zu senken.
Dieser Eingangssteuersatz ist einfach eine Aufforderung zur Schwarzarbeit und war eine der Fehlentscheidungen Ihrer Regierung in den letzten Jahren.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Es wäre genauso zu erwägen, ob die bisherige Vorschrift, daß das, was sich ein Sozialhilfeempfänger dazuverdient, ganz auf die Sozialhilfe angerechnet wird, eigentlich wirklich sachgemäß ist oder ob sie nicht vielmehr auch ein Anreiz dazu ist, solche Tätigkeiten überhaupt nicht anzumelden und eben schwarz zu arbeiten. Wäre es nicht ein Reformvorschlag, über den man diskutieren könnte, daß solcher Zusatzverdienst nur teilweise angerechnet wird, um den Sozialhilfeempfängern den Übergang ins Arbeitsleben an dieser Stelle zu ermöglichen und zu erleichtern?
- Ja, wenn Sie „bravo!" rufen, dann machen wir es doch! Bringen Sie den Gesetzentwurf ein, und wir ziehen es durch!
- Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, daß Sie das jetzt wieder als Absicht bekundet haben.
Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Ein solches Gesetz gibt es nicht. Es wäre an der Zeit, dieses Gesetz zu realisieren.
Der zweite Punkt, den wir ansprechen müssen, ist natürlich die Notwendigkeit, die Kosten im Gesundheitswesen einzudämmen. Aber, meine Damen und Herren, wenn wir die Kosten im Gesundheitswesen eindämmen wollen, bedürfen wir, auch was die Länder- und die Gemeindeseite angeht, einer Gesamtvereinbarung.
Nachdem jetzt die Wahlen vorüber sind, wäre es an der Zeit, daß es zu einer abgestimmten Gesamtvereinbarung kommt; denn es ist nun einmal so: Man kann diese Kostendämpfung nicht nur im Hinblick auf die Krankenhäuser unter Ausklammerung der ambulanten Versorgung und anderer Teilbereiche regeln. Man muß ein Gesamtpaket vorlegen. Wir sind nach wie vor zur Verabschiedung eines sozial ausgewogenen Gesamtpakets bereit.
Dritter Punkt: Rentenreform. Wir haben bei der Umstellung der Rentenformel von brutto auf netto mitgewirkt, und wir stehen zu dieser Vereinbarung. Wir haben Ihnen ebenfalls gesagt, daß wir bereit sind, beim Vorruhestand eine sachgemäße Lösung zu finden, weil die bisherige Lösung nicht akzeptabel war. Wenn aber jetzt von Ihnen gesagt wird, das, was wir bereits beschlossen haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig, dann müssen Sie verstehen, daß dies keine Grundlage einer sachgemäßen Zusammenarbeit sein kann. Wer den Kompromiß sucht, darf nicht sagen, das, was wir bereits entschieden haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig.
Ich möchte Ihnen etwas dazu sagen, daß Sie das Renteneintrittsalter anheben wollen. Im Gespräch mit einem Industrieverband wurde das Anheben des Rentenalters für Frauen noch mit der Bemerkung begründet, das sei Gleichberechtigung. Was dieser Industrieverband wie viele in unserer Gesellschaft übersehen hat, ist, daß das reale Renteneintrittsalter der Frauen höher liegt als das der Männer. Von daher ist aus fiskalischen Erwägungen dieser Vorschlag, der wohl im Hause Blüm entwickelt worden ist, durchaus verständlich. Ob das insgesamt der richtige Ansatz ist, ist zumindest im Hinblick auf die Beschäftigungsart und die Entlohnungsart, die gerade bei den Frauen immer noch eine völlige Schieflage hat, zu hinterfragen.
Aber eines müßte klar sein: Wenn wir auf der einen Seite wollen, daß die Jugendlichen einen Arbeitsplatz finden und nach der Ausbildung auch den Eintritt ins Erwerbsleben finden können, dann ist eine solch rigide Vorgehensweise äußerst problematisch. Wir lösen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht, indem wir die Lebensarbeitszeit für die Älteren verlängern und die Jugendlichen draußen vor der Tür lassen.
Deswegen wäre es sinnvoller, darüber zu reden, ob man nicht gleitende Übergänge wählt, wie sie bereits beim Vorruhestand diskutiert worden sind. Ich halte solche Ansätze für sinnvoller als dieses strikte Vorgehen nach den alten Verhaltensmustern, das dann eben zu dem sicherlich auch von Ihnen nicht gewollten Ergebnis führt, daß die Jugendlichen noch größere Probleme haben werden, in Zukunft einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden.
An dieser Stelle möchte ich Sie auf die Widersprüchlichkeit Ihrer ordnungspolitischen Vorgehensweise aufmerksam machen. Obwohl Sie immer wieder die Subsidiarität hochhalten, obwohl Sie immer wieder sagen: „Was andere tun können, soll der Staat nicht tun", haben Sie jetzt bei der Lohnfortzahlung gesagt: Nachdem die Tarifvertragsparteien das nicht ordentlich hinbekommen, muß der Staat das jetzt machen. - Interessant ist, daß Sie dieselbe Logik nicht bei unserer Jugend anwenden. Da verlassen Sie sich auf freiwillige Zusagen der Wirtschaft, von denen wir wissen, daß sie nicht eingehalten werden. Wenn Sie also springen, dann springen Sie bitte ganz, sonst ist Ihre Ordnungspolitik so im Schleudern, wie das der Finanzwissenschaftler dargestellt hat, den ich zu Beginn zitiert habe. Das ist nicht logisch.
Einfache Zusagen - ich denke dabei insbesondere an die neuen Bundesländer - wie „Wir sind bereit, uns zu bemühen, mehr einzustellen" sind in der gegenwärtigen konjunkturellen Phase so unverbindlich, daß jeder weiß, daß sie genausowenig eingehalten werden wie die Kreditzusagen der privaten Banken zur Finanzierung des Aufbaus im Osten.
Deshalb wäre es sinnvoll, meine Damen und Herren, sich an dieser Stelle weitergehende Schritte zu
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
überlegen. Es ist richtig, daß wir die sozialen Versicherungssysteme sanieren müssen. Es ist aber genauso richtig, daß wir einfach in der Verantwortung stehen, das Vertrauen unserer Jugendlichen in unsere staatliche Organisation und die Gesellschaft zu erhalten. Jugendarbeitslosigkeit muß bekämpft werden, notfalls mit staatlichen Mitteln, meine Damen und Herren.
Ein vierter Konsolidierungspunkt, den wir ansprechen müssen, sind die öffentlichen Personalhaushalte. Allerdings, meine Damen und Herren: Wer pauschal Nullrunden fordert, muß zunächst einmal in den Spiegel schauen. Er muß zunächst einmal sagen, was er unter Nullrunden versteht, ob er an einen Inflationsausgleich oder einen Rückgang der Realeinkommen denkt.
Dann muß er sich die Frage nach der sozialen Ausgewogenheit stellen.
Daß wir in den öffentlichen Haushalten Konsolidierungsbedarf haben, wird von niemandem bestritten. Wenn wir im Hinblick auf die Besoldung des Bundeskanzlers, der Ministerpräsidenten und aller anderen, die als Beamte in hohen Besoldungsstufen sind, Null sagen und gleichzeitig dasselbe für diejenigen Beamten und Angestellten, die in den niedrigsten Besoldungsstufen bzw. Vergütungsgruppen sind, vorsehen, dann sind wir in unserem Volke nicht glaubwürdig. Deshalb halte ich etwas davon, in dieser Tarifrunde Sockelbeträge ins Auge zu fassen.
Im übrigen haben wir seit langem angeboten, bei den Personalkosten im öffentlichen Dienst zwei längerfristig wirkende Strukturreformen zu diskutieren. Ich habe im Bundestag schon mehrfach die Frage der nicht an der Leistung orientierten Regelbeförderung angesprochen und dazu eingeladen, bei den jetzigen Beratungen im Bundesrat darüber zu reden. Wenn wir mehr Leistung in den Verwaltungen wollen, müssen wir über dieses Strukturelement der Besoldung im öffentlichen Dienst sprechen.
Genauso ergebnislos hat das Saarland seit Jahren vorgeschlagen - ich sage das, weil so oft „Saarland" dazwischengerufen wurde -, den Tatbestand zu korrigieren, daß drastische Verkürzungen der Lebensarbeitszeit etwa bei den Beamten gleichwohl zur vollen Pension führen. Eine solche Entwicklung ist nicht akzeptabel.
Da Sie in Ihrem Programm zum Beispiel vorschlagen, Zusatzleistungen bei der Krankenhausversorgung jetzt auch bei den Beamten zurückzunehmen, will ich Sie mit etwas vertraut machen: Sowohl die Abschaffung der Ministerialzulage als auch die Abschaffung dieser Zusatzleistungen sind im Saarland schon längst beschlossen und die Abschaffung der Zusatzleistungen auch in Hamburg und in Bremen.
Es ist gut, wenn Sie dazulernen. Aber glauben Sie ja nicht, daß das, was Sie an Konsoldierungsvorschlägen hier vortragen, andernorts nicht längst in Angriff genommen oder mit größerem Erfolg schon bewältigt worden wäre.
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. In der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung kommt alles darauf an, die Zeichen auf mehr Wachstum und Beschäftigung zu stellen. Wenn man mehr Wachstum und Beschäftigung will, dann brauchen wir ein abgestimmtes Vorgehen der Geldpolitik, der Lohnpolitik und der staatlichen Finanz- und der Sozialpolitik. Nach unserer Überzeugung haben Geldpolitik und Lohnpolitik in der jetzigen Phase ihre Aufgaben erledigt. Nach unserer Überzeugung sind Ihre Vorschläge zur Finanzpolitik und zur Sozialpolitik nicht hinnehmbar. Sie verletzen das Gebot der Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Ausgewogenheit.
Zum Gebot der Stetigkeit. Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß wir vor einigen Monaten einen mühsamen Kompromiß beim Kindergeld und bei der Freistellung niedriger Einkommen von den Steuern gefunden haben, um ihn nach wenigen Monaten wieder in Frage zu stellen? Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln - so ist nun wirklich keine stetige Finanzpolitik für unseren Staat zu machen.
Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Sie monatelang die Förderung der Abschaffung der privaten Vermögensteuer vorgeschlagen haben in einer Zeit, in der Sie bei Sozialhilfeempfängern, Rentnern, Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe kürzen wollen und die Arbeitnehmer immer stärker belasten wollen? Wer solche Vorschläge monatelang vorträgt, der läßt jedes Empfinden für soziale Gerechtigkeit vermissen.
Wir werden daher die sich jetzt abzeichnende Korrektur, die Sie vorschlagen und die wir anerkennen, sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt und auf die konkreten Vorschläge hin prüfen.
Eines möchte ich zum Schluß sagen: Bitte glauben Sie uns, es geht nicht nur um die Frage der richtigen Vorschläge in der Finanzpolitik und in der Steuerpolitik und der richtigen Vorschläge, um mehr Innovationen und Wachstum in unserer Gesellschaft durchzusetzen. Es geht vielmehr um einen Kernbestand unserer Nachkriegsgesellschaft. Dieser Kernbestand waren der Sozialstaat und die soziale Gerechtigkeit. Bitte zerstören Sie nicht mutwillig diesen Konsens unserer Nachkriegsgesellschaft! Ein solches Vorgehen wird sich bitter rächen und am Ende zu mehr Ar-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
beitslosigkeit und zu höherer Staatsverschuldung führen.