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ID1310200600

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 13/102 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 102. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. April 1996 Inhalt: Zusatztagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . . 8975 B Oskar Lafontaine, Ministerpräsident (Saar- land) 8983 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 8991 A Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8999 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P 9003 A Dr. Gregor Gysi PDS 9005 D Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 9009 A Rudolf Scharping SPD 9012 D Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 9016 D Nächste Sitzung 9019 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 9021* A Anlage 2 Zeitige Vorlage wichtiger EU-Dokumente in deutscher Sprache; Lösung der Eigentumsfragen zwischen Deutschland und Polen MdlAnfr 19, 20 - Drs 13/4403 - Dr. Egon Jüttner CDU/CSU SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 9021* D Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 9022* C 102. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. April 1996 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 26. 4. 96 Antretter, Robert SPD 26. 4. 96 * Barnett, Doris SPD 26. 4. 96 Beck (Köln), Volker Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Beer, Angelika Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Behrendt, Wolfgang SPD 26. 4. 96 * Belle, Meinrad CDU/CSU 26. 4. 96 Bindig, Rudolf SPD 26. 4. 96 * Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 26. 4. 96 * Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 26. 4. 96 Gleicke, Iris SPD 26. 4. 96 Dr. Glotz, Peter SPD 26. 4. 96 Haack (Extertal), SPD 26. 4. 96 * Karl Hermann Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 26. 4. 96 Dr. Höll, Barbara PDS 26.4. 96 Horn, Erwin SPD 26. 4. 96 * Hornung, Siegfried CDU/CSU 26. 4. 96 * Jelpke, Ulla PDS 26. 4. 96 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 26. 4. 96 * Kauder, Volker CDU/CSU 26. 4. 96 Krause (Dessau), CDU/CSU 26. 4. 96 Wolfgang Kuhlwein, Eckart SPD 26. 4. 96 Labsch, Werner SPD 26. 4. 96 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 26. 4. 96 Lederer, Andrea PDS 26. 4. 96 Lemke, Steffi Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Lummer, Heinrich CDU/CSU 26. 4. 96 * Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 26. 4. 96 Erich Marten, Günter CDU/CSU 26.4. 96 Mehl, Ulrike SPD 26. 4. 96 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 26. 4. 96 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 26.4. 96 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Nelle, Engelbert CDU/CSU 26. 4. 96 Özdemir, Cern Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Dr. Probst, Albert CDU/CSU 26. 4. 96 * Reschke, Otto SPD 26. 4. 96 Dr. Rieder, Norbert CDU/CSU 26. 4. 96 Rixe, Günter SPD 26. 4. 96 Dr. Rochlitz, Jürgen Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Dr. Scheer, Hermann SPD 26. 4. 96 * Schlauch, Rezzo Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen von Schmude, Michael CDU/CSU 26. 4. 96 * Schumann, Ilse SPD 26. 4. 96 Schwanitz, Rolf SPD 26. 4. 96 Steenblock, Rainder Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Steindor, Marina Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Such, Manfred Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen Terborg, Margitta SPD 26. 4. 96 * Tröger, Gottfried CDU/CSU 26. 4. 96 Vosen, Josef SPD 26. 4. 96 Wallow, Hans SPD 26. 4. 96 Weis (Stendal), Reinhard SPD 26. 4. 96 Wiefelspütz, Dieter SPD 26. 4. 96 Wonneberger, Michael CDU/CSU 26. 4. 96 * * Zierer, Benno CDU/CSU 26. 4. 96 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Antwort des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) (Drucksache 13/4403 Fragen 19 und 20): Was unternimmt die Bundesregierung, damit wichtige EU-Dokumente zeitgleich nicht nur in englischer und französischer, sondern auch in deutscher Sprache vorgelegt werden? 9022* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 Was unternimmt die Bundesregierung, damit die kürzlich vom polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau" als „großes Problem" angesprochene Eigentumsfrage einvernehmlich zwischen Deutschland und Polen gelöst wird? Zu Frage 19: Nach der Verordnung Nr. 1 von 1958 sind alle Sprachen der Mitgliedstaaten gleichberechtigte Amts- und Arbeitssprachen der EU. Das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft wird in allen Sprachen gleichzeitig ausgeliefert und liegt damit in deutscher Sprache zum gleichen Zeitpunkt wie z. B. auch in Englisch und Französisch oder den anderen Sprachen der Gemeinschaft vor. Ebenso liegen die Dokumente, über die Rat und Kommission verhandeln, stets in deutscher Sprache vor. Abweichungen von dieser Regel werden in jedem Einzelfall von der Bundesregierung aufgenommen und umgehend behoben. Die Organe der Europäischen Union erkennen den Bedarf für Deutsch an; die deutschen Übersetzer stellen im Übersetzungsdienst der Kommission die größte Gruppe. Die Bundesregierung erhält allerdings auch häufig Entwürfe, die in englischer oder französischer Sprache abgefaßt sind. Das hängt damit zusammen, daß die Bediensteten von Kommission und Rat in der täglichen Praxis ohne Dolmetschung arbeiten müssen und Deutsch als Fremdsprache sehr viel weniger gesprochen und verstanden wird als Englisch und Französisch. Deshalb bemüht sich die Bundesregierung mit aktiver Unterstützung der Kommission und der Länder, durch Sprachkurse für höhere Bedienstete der europäischen Institutionen in Deutschland die Deutschkenntnisse bei den EU-Bediensteten zu fördern. Gemeinsam mit Frankreich setzt sich die Bundesregierung für eine Änderung der Einstellungsvoraussetzungen im Statut der Europäischen Beamten ein: Bewerber sollen danach über vertiefte Kenntnisse einer Gemeinschaftssprache und zufriedenstellende Kenntnisse in zwei weiteren Gemeinschaftssprachen - nicht wie bisher nur: in einer - verfügen. Wir erhoffen uns hiervon, daß Bewerber als dritte Sprache häufig auch Deutsch wählen werden. Zu Frage 20: Die Bundesregierung begrüßt, daß der Präsident Polens das Thema der entschädigungslosen Enteignung der Vertriebenen offen ansprach. Er hat allerdings in dem von Ihnen zitierten Interview gleichzeitig gesagt: „... ich befürchte, daß diesbezügliche Entscheidungen Spannungen hervorrufen würden, derer wir nicht Herr werden können. " Die Haltung der Bundesregierung in der Vermögensfrage, die auch die Bereitschaft einschließt, dieses Thema zum geeigneten Zeitpunkt in geeigneter Weise zur Sprache zu bringen, ist Ihnen bekannt. Anlage 3 Amtliche Mitteilung Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuß Drucksachen 13/2995, 13/3528 Nr. 1.1 Drucksachen 13/3124, 13/3528 Nr. 1.4 Drucksachen 13/3275, 13/3528 Nr. 1.7 Drucksachen 13/3096, 13/3664 Nr. 1.1 Rechtsausschuß Drucksachen 12/8336, 13/725 Nr. 42 Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksachen 12/4733, 13/725 Nr. 29 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat: Auswärtiger Ausschuß Drucksache 13/3668 Nr. 1.4 Drucksache 13/3668 Nr. 1.5 Drucksache 13/3668 Nr. 1.6 Drucksache 13/3668 Nr. 1.7 Drucksache 13/3668 Nr. 1.8 Innenausschuß Drucksache 13/3117 Nr. 1.1 Drucksache 13/3790 Nr. 2.4 Drucksache 13/3790 Nr. 2.5 Drucksache 13/3790 Nr. 2.6 Drucksache 13/3938 Nr. 2.18 Drucksache 13/4137 Nr. 2.17 Drucksache 13/4137 Nr. 2.24 Drucksache 13/4137 Nr. 2.25 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 13/3668 Nr. 2.16 Drucksache 13/3668 Nr. 2.25 Drucksache 13/3668 Nr. 2.49 Drucksache 13/3790 Nr. 2.13 Drucksache 13/3938 Nr. 2.7 Drucksache 13/3938 Nr. 2.23 Drucksache 13/3938 Nr. 2.26 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 13/3529 Nr. 1.7 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 13/2306 Nr. 2.29 Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 13/3529 Nr. 1.3 Drucksache 13/3668 Nr. 2.59 Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 13/2988 Nr. 1.6
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Vielen Dank.
    Meine Damen und Herren, das Konjunkturtempo hat sich in Deutschland spürbar verlangsamt. Das von vielen nationalen und internationalen Experten ursprünglich erwartete reale Wachstum von eineinhalb Prozent für dieses Jahr werden wir nicht erreichen. Dies werden die Wirtschaftsforschungsinstitute in den nächsten Tagen in ihrem Frühjahrsgutachten sicherlich so bestätigen.
    Nach dem Stand unserer Diskussion erwarten wir in der Bundesregierung jetzt für 1966 ein reales Wachstum in der Gegend von dreiviertel Prozent - -

    (Lachen und Beifall bei der SPD und der PDS Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1996, Herr Bundeskanzler! Unruhe)

    - Entschuldigung, 1996. Ich bin aber gerne bereit, weil mir die Sache wirklich wichtig ist, zu warten, bis eine gewisse Möglichkeit der Verständigung hier eintritt.

    (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wir rechnen in der Bundesregierung nicht mit einer Rezession in Deutschland. Die allermeisten nationalen und internationalen Experten erwarten ein Wiederanziehen der Konjunktur in der zweiten Jahreshälfte. Wir sind ganz sicher, daß sich dies auch in den Zahlen für 1997 positiv niederschlagen wird.
    Meine Damen und Herren, für mich ist auch klar, daß trotz aller Schwierigkeiten die Voraussetzungen für eine Verbesserung der Konjunktur günstig sind:

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    In Deutschland herrscht bei einer Inflationsrate von eineinhalb Prozent faktisch Preisstabilität. Die Bundesbank hat die Leitzinsen auf das niedrigste Niveau seit Kriegsende gesenkt. Die für die Investitionen entscheidenden langfristigen Zinsen haben auch im internationalen Vergleich ein sehr niedriges Niveau erreicht. Bei einem Vergleich der Wirtschaftsgipfelländer hat Deutschland heute die niedrigsten Zinsen nach Japan. Sie liegen spürbar unter den amerikanischen Zinsen. In der Tarifrunde 1996 zeichnen sich beschäftigungsfreundlichere Vereinbarungen ab, und der Welthandel zeigt einen soliden Aufwärtstrend.
    Meine Damen und Herren, unabhängig vom kurzfristigen Auf und Ab der Konjunktur stehen Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik vor der Aufgabe, sich auf die dramatischen Veränderungen im internationalen Wettbewerb einzustellen und - das ist die eigentliche Aufgabe - den Standort Deutschland für das 21. Jahrhundert vorzubereiten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die jetzt zu beobachtende Konjunkturschwäche und der rasante Strukturwandel haben tiefe Spuren in unserer Gesellschaft und vor allem auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen.

    (Zuruf von der SPD: Ihre Politik war das!)

    - Ich weiß nicht, Sie können das als Inszenierung sehen, wenn Sie glauben, auf diese Art zu stören. Ich habe nichts dagegen, daß ein Millionenpublikum im deutschen Fernsehen Ihre Reaktion jetzt in sich aufnimmt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die vorübergehende Konjunkturschwäche und der rasante Strukturwandel - ich sage das noch einmal - haben tiefe Spuren auf unserem Arbeitsmarkt hinterlassen. Die Arbeitslosigkeit hat mit über 4 Millionen ein Ausmaß erreicht, das wir auf gar keinen Fall akzeptieren werden. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Aufgabe der deutschen Innenpolitik.
    Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß ein konjunktureller Aufschwung keineswegs automatisch auch zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führt; das ist eine Erfahrung der letzten Jahre. Wir alle wissen ebenso, daß nach jeder Konjunkturschwäche ein höherer Sockel - das ist das eigentlich Besorgniserregende - an Arbeitslosigkeit zurückgeblieben ist.
    Die Menschen in Deutschland haben längst begriffen, daß wir echte, durchgreifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen und Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen. Die Bürger wissen auch, daß dies nicht ohne nachhaltige Sparmaßnahmen geht. Durch bloßes Festhalten an Besitzständen werden wir keine grundlegende Wende am Arbeitsmarkt schaffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dabei ist Sparen natürlich kein Selbstzweck; wir müssen sparen, um die Zukunft zu sichern.
    Wir haben uns im „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" das Ziel gesetzt, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist ein erreichbares Ziel,

    (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Luftblasen!) wie wir in der Vergangenheit bewiesen haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Lachen bei der SPD und der PDS)

    Erreichbar ist dieses Ziel, wenn alle Verantwortlichen auf den verschiedensten Ebenen - ob das Politik, Unternehmen oder Tarifparteien sind - dabei ihre Aufgaben wahrnehmen. Die Menschen im Land erwarten zu Recht, daß alle Verantwortlichen in der Gesellschaft die Herausforderungen annehmen und bereit sind, die notwendigen Anpassungen auf den Weg zu bringen.
    Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft betreffen alle Länder. Wer die Diskussionen in den USA, in Japan oder bei unseren europäischen Nachbarn verfolgt, weiß, daß in allen Industrieländern in ähnliche Richtungen gedacht und gehandelt wird. Auch in all diesen Ländern stellen sich die Fragen, welche Auswirkungen die Globalisierung der Märkte auf Wachstum und Beschäftigung im jeweiligen Land hat, wie die Zukunft unter den veränderten Wettbewerbsbedingungen gesichert werden kann, wie die sozialen Sicherungssysteme vor dem Hintergrund starker Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung und ohne Überforderung der wirtschaftlichen Leistungskraft weiterentwickelt werden können, welche Veränderungen in Organisation und Arbeitsabläufen durch die neuen Technologien, etwa im Telekommunikationsbereich, notwendig sind und wie Bildung und Ausbildung verbessert werden müssen, um für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet zu sein.
    Viele Länder, man kann sagen, alle Länder in unserer Nachbarschaft stehen vor diesen Notwendigkeiten genauso wie wir in Deutschland. Manche von ihnen haben bereits strukturelle Veränderungen vorgenommen, die sie selbst bis vor kurzem für nicht durchsetzbar gehalten haben.
    Ich will auf das Beispiel Schweden verweisen. Dort wurden die Volksrenten gekürzt, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wurde für die ersten Tage drastisch gesenkt, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wurden zurückgeführt.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber die Vermögensteuer wurde nicht abgeschafft, sondern erhöht!)

    - Herr Abgeordneter, Ihr Beitrag ist immer der gleiche: laut und wenig bedeutungsvoll.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    In unserem Nachbarland, in den Niederlanden, wurden enorme Veränderungen der Strukturen vorgenommen. In Frankreich ist eine ähnliche Diskussion im Gange. Ich könnte die Liste noch weiter fortsetzen.

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    In einer Weltwirtschaft, in der nationale Grenzen ökonomisch immer weniger eine Rolle spielen, gelten eben andere Regeln, als wir dies durch eine lange Zeit auch bei uns in Deutschland gewöhnt waren. Heute müssen wir uns mehr denn je - vor allem als eine der großen Exportnationen der Erde - auf den internationalen Wettbewerb einstellen. Das muß Konsequenzen haben für die Steuern, für die Abgaben, für Lohn- und Lohnzusatzkosten sowie auch für viele Regulierungen.
    Ich halte diese notwendigen Korrekturen für zwingend, um Zukunft zu sichern. Dies erfordert, daß wir uns umstellen, daß wir auch in diesem oder jenem Fall Ansprüche zurückstellen. Ich weiß sehr wohl, daß das mit Härten verbunden ist. Aber die unabweisbaren Korrekturen, meine Damen und Herren, sind der einzige Weg, unsere Wirtschaft zu stärken, mehr Arbeitsplätze zu ermöglichen und eine sichere Zukunftsgrundlage für unsere sozialen Sicherungssysteme zu schaffen.
    Zu diesem Bild gehört auch, daß wir in einem Land leben, das ein Drittel seines Sozialprodukts für soziale Leistungen ausgibt, in dem die Arbeitnehmer kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub haben als in fast allen Ländern, in dem die Renten so hoch sind wie in kaum einem anderen Land, in dem die Höhe der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe in den allermeisten Fällen Not verhindert.
    Wir müssen das Verhältnis sozialer Leistungen zur wirtschaftlichen Leistungskraft unter veränderten weltwirtschaftlichen und demographischen Bedingungen neu ausbalancieren und dauerhaft sichern. Dies erfordert, die sozialen Leistungen an die wirtschaftliche Leistungskraft anzupassen und die Hilfen - das ist besonders wichtig - auf die wirklich Bedürftigen zu konzentrieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt nicht handeln, drohen weitere Arbeitsplatzverluste, und der beschäftigungsfeindliche Weg zu immer höheren Steuern und Abgaben würde sich fortsetzen. Dies ist für die Koalition auf gar keinen Fall der Weg der Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es kann nicht unsere Politik sein, die Tarifparteien zur Lohnzurückhaltung aufzufordern und dann die möglichen positiven Arbeitsplatzeffekte mit steigenden Abgaben wieder zunichte zu machen. Mehr staatliche Schulden oder höhere Steuern würden im übrigen - das ist eine Erfahrung, die jeder kennt - gerade auch jene belasten, auf deren Leistungsbereitschaft unser Land besonders angewiesen ist: die Facharbeiter, den selbständigen Mittelstand, all jene Bereiche, die in ihrer Kreativität und mit ihrer täglichen Arbeit die sozialen Leistungen überhaupt erst ermöglichen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Um mehr Arbeitsplätze aufzubauen, müssen wir den Standort attraktiv machen, die Belastungen der Wirtschaft abbauen, Steuern, Abgaben und Lohnkosten senken, überflüssige Regulierungen beseitigen, rascher die notwendigen Innovationen auf den Weg bringen und vor allem die Arbeitswelt flexibler machen.
    Die Bundesregierung hat mit dem 50-PunkteAktionsprogramm Ende Januar gehandelt.

    (Lachen bei Abgeordneten der SPD)

    Dieses Programm ist ein Gesamtkonzept, das auf strukturelle Veränderungen zielt und jetzt Punkt für Punkt umgesetzt wird. Einige der wichtigen Maßnahmen, zum Beispiel zusätzliche Liquiditätshilfen für junge Unternehmen in der Wachstumsphase, sind bereits in Kraft getreten.
    Vor allem, meine Damen und Herren - es ist wichtig, das zugrunde zu legen -, zeichnet sich für alle öffentlichen Haushalte im Jahre 1997 ein zusätzlicher Konsolidierungsbedarf in der Größenordnung von rund 50 Milliarden DM ab. Auf den Bundeshaushalt 1997 entfallen davon voraussichtlich rund 25 Milliarden DM. Wie wir wissen, sind die Länder und die Gemeinden in gleicher Weise von konjunkturbedingten Mehrausgaben und Mindereinnahmen betroffen. Deswegen ist es bei allen Gegensätzen im politischen Raum absolut notwendig, daß wir versuchen, eine gemeinsame Konsolidierungsstrategie für Bund, Länder, Gemeinden sowie für die Sozialversicherungssysteme zu gewinnen.
    Deshalb haben die Koalitionsfraktionen gestern das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist ein Gesamtkonzept, das Investitionen erleichtern, Wachstum stärken und die Beschäftigung erhöhen soll. Nur durch Haushaltskonsolidierung, das heißt eine sparsame Haushaltspolitik und Einsparungen auch bei den Sozialversicherungen, schaffen wir die Voraussetzungen, um zu hohe Steuern und Abgaben in Deutschland zu senken und Arbeitsplätze in Deutschland wieder attraktiver zu machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Nur wenn wir diesen Weg entschlossen gehen, stärken wir auch die wirtschaftliche Basis für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Es führt doch kein Weg an der einfachen Erkenntnis vorbei, daß nur verteilt werden kann, was zuvor erarbeitet wurde.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das erarbeiten die Arbeitnehmer!)

    Ich bin ganz sicher, daß wir mit diesen Anstrengungen auch das Ziel erreichen, die Staatsquote bis zum Ende dieses Jahrzehnts, also in vier Jahren, wieder auf 46 Prozent zu senken. Dies erfordert eine strikte Ausgabendisziplin bei Bund, Ländern und Gemeinden und auch im Bereich der Sozialversicherung.
    Ich weiß, daß solche Ziele wie immer sofort angezweifelt werden. Es wird dann gesagt, dies sei nie zu erreichen. Ein einfacher Rückblick auf die letzten Jahrzehnte zeigt, daß diese Skepsis nicht angebracht ist. Wir haben zwischen Ende 1982 und 1989 den Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt, die

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Staatsquote, schon einmal von über 50 Prozent auf 46 Prozent gesenkt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir haben - dies will ich besonders in diesen Tagen in Erinnerung rufen, wo aus naheliegenden Gründen von bestimmten Kreisen historische Erfahrungen der jüngsten Zeit gerne vergessen oder vernebelt werden - gleichzeitig in mehreren Schritten in diesen Jahren eine Steuerreform vorgenommen und die Steuerzahler um rund 60 Milliarden DM entlastet.

    (Lachen und Zurufe von der SPD: Aber welche denn?)

    - Sie waren ja zum Teil dabei. Wenn Sie dabei waren, wissen Sie: Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Lachen bei der SPD)

    - Meine Damen und Herren, ich habe nicht den Ehrgeiz, daß Sie dem Satz „Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik" zustimmen, aber die Wähler haben ihm zugestimmt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Und so stehe ich immer noch vor Ihnen, und Sie müssen mich immer noch ertragen. Ihre lauten Zwischenrufe haben Ihnen in diesen Jahren nichts genutzt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    In diesem Zeitraum - man kann es nicht deutlich genug sagen - sind mit dieser Politik damals in der alten Bundesrepublik über 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Ich habe gar keinen Zweifel, daß wir das gleiche auch jetzt erreichen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir hatten 1990 das Glück der deutschen Einheit. Der wirtschaftliche Umbau und die soziale Flankierung des dramatischen Strukturwandels in den neuen Ländern wurden mit hohen Transferzahlungen von West nach Ost unterstützt.

    (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Von Ost nach West! - Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    - Ich habe ja nichts dagegen, daß Sie immer noch im alten Glauben verharren, aber das Ganze wird deswegen nicht überzeugender. Die Geschichte hat über das, was Sie hier vertreten, längst ihr Urteil gesprochen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir, und zwar die Bürger und die Steuerzahler der alten Bundesrepublik - das will ich dankbar erwähnen -, haben diese hohen Transferzahlungen unterstützt. Die gesamten öffentlichen Leistungen für die neuen Länder betrugen im Zeitraum von 1991 bis 1995 netto 615 Milliarden DM. Ohne - das ist wichtig festzustellen; ich tue dies mit Stolz - die vorausgegangenen Konsolidierungsarbeiten der 80er Jahre dieser Koalition wären diese Transfers überhaupt nicht möglich gewesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Auch das sage ich hier gerne noch einmal klar und deutlich, weil es angesichts so mancherlei Verhetzungspotentiale wichtig ist, diese Erinnerung nicht untergehen zu lassen.

    (Oh-Rufe bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    - Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie, wenn ich ganz allgemein von Verhetzungspotentialen spreche, sofort aufschreien.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Offensichtlich fühlen Sie sich angesprochen.

    (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Vor den Landtagswahlen hieß das alles anders!)

    Die Wahrheit ist doch: Ohne die notwendigen und von uns voll getragenen Entscheidungen, auch Opfer, für die deutsche Einheit würde die Staatsquote heute bei 45 Prozent liegen, und die Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben betrüge nicht 43 Prozent, sondern 41 Prozent. Das heißt, sie wäre deutlich niedriger. Wir beklagen dies nicht; denn wir sind glücklich, daß die deutsche Einheit möglich war.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es ist wichtig, daß wir alle in Deutschland erkennen, daß jede Mark, in den neuen Ländern vernünftig investiert, eine Abschlagszahlung auf eine gemeinsame glückliche Zukunft der Deutschen ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, unsere Arbeitsplätze stehen im internationalen Standortwettbewerb. Wenn Produktion in Deutschland zu teuer wird, wandert sie zu Lasten der Arbeitsplätze ins Ausland ab oder - auch das erleben wir - Produktionen unterbleiben ganz. Die Bedeutung von grenzüberschreitenden Direktinvestitionen wächst in einem ungewöhnlichen Tempo. Wir wissen auch - es hat keinen Sinn, darüber zu klagen; das ist eine Realität -: Für die international operierenden Unternehmen ist die Präsenz auf den Wachstumsmärkten wichtig. Nur wer in den großen Handelszusammenschlüssen wie Europäische Union, NAFTA, Mercosur und im asiatischen Raum präsent ist, nimmt an der Wachstumsdynamik dieser Regionen teil. Das ist auch ein Beitrag zur Arbeitsplatzsicherung in Deutschland. In diesem Sinne - nur in diesem Sinne - sind die wachsenden Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen zu begrüßen. Aber wir müssen uns über das vergleichsweise geringe Engagement ausländischer Unternehmen in Deutschland Sorgen machen. Hier besteht Handlungsbedarf. Das Investieren und Schaffen von Arbeitsplätzen in Deutschland muß deshalb attraktiver gemacht werden.

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Es wird in Deutschland sehr viel mehr Arbeitsplätze geben, wenn die Arbeitskosten niedriger sind. Es ist kein Zufall, daß im Dienstleistungsbereich hierzulande viel weniger Arbeitsplätze angeboten werden als in anderen Ländern. Wir alle - das gilt für die politisch Verantwortlichen, für die Tarifparteien und Unternehmen - haben - das sollte man offen zugeben - in der Vergangenheit zu einem starken Anstieg der Arbeitskosten beigetragen. Dies gilt für die Tariflöhne, aber das gilt noch mehr für die stark angestiegenen Lohnzusatzkosten. Die Bundesregierung ist sich deshalb mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften einig, daß der Anstieg der Lohnzusatzkosten gebremst werden muß. Dabei sind Tarifparteien und Betriebspartner ebenso in der Verantwortung wie die Politik.
    Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Beiträge zur Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir unsere sozialen Sicherungssysteme auf die Herausforderungen der Zukunft einrichten. Es geht dabei überhaupt nicht um den Abbau des Sozialstaats, sondern es ist die Pflicht verantwortungsvoller Politik, immer wieder kritisch zu fragen: Gibt es Regelungen, die zum Mißbrauch einladen und deshalb geändert und abgeschafft werden müssen? Wenn ich, um das klarzustellen, von Mißbrauch rede, meine ich nicht nur Mißbrauch im Bereich der Sozialsysteme, sondern in gleicher Weise das Erschleichen von Subventionen und Steuerbetrug.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir müssen uns weiter kritisch fragen: Wie können wir soziale Leistungen so gestalten, daß sie zur Arbeit ermutigen und nicht den Willen, zu arbeiten und sich zu engagieren, aushöhlen?
    Ich halte es jedenfalls für richtig und auch für unsere Gesellschaft unverzichtbar, daß der Satz gelten muß: Wer arbeitet, muß mehr bekommen als jemand, der nicht arbeitet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn dieser Grundsatz gilt, dann muß er Konsequenzen haben. Dann können wir es beispielsweise - da sollten wir uns doch eigentlich einig sein - nicht länger hinnehmen, daß ein Sozialhilfebezieher zumutbare Arbeit - zumutbare! - ablehnt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kann er doch nicht! Steht doch jetzt schon im Gesetz!)

    Dann müssen wir Anreize schaffen, damit sich Arbeit auch dann für den einzelnen lohnt, wenn dessen Erwerbseinkommen sein Sozialeinkommen nicht wesentlich übersteigt. Hier haben wir wichtige und, wie ich denke, richtige Reformen auf den Weg gebracht. Sie stehen jetzt im Vermittlungsausschuß zur Diskussion; ich hoffe, daß wir dort zu vernünftigen Einigungen kommen.
    Meine Damen und Herren, notwendige Fragen stellen sich auch für den Bereich des Arbeitsrechts. Es ist unbestreitbar, daß wir trotz erkennbarer Fortschritte mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Mehr Flexibilität ist eine Grundvoraussetzung, um mehr Beschäftigung zu schaffen und die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Dabei ist eine entscheidende Voraussetzung, daß wir alles unternehmen, um den Mittelstand zu stärken;

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Land. Zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in diesem Bereich. Auch das ist, wie ich denke, eine positive Erfahrung dieser Jahre: Zwischen 1990 und 1995 sind im Mittelstand knapp eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen worden. Wahr ist auch, daß gleichzeitig die Großunternehmen in unserem Lande unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs die Zahl ihrer Beschäftigten verringert haben.
    Wenn wir also mehr Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir die Startchancen für Existenzgründer und junge Unternehmen in Deutschland verbessern und die bestehenden Betriebe von Kosten und Regulierungen entlasten. Gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen gilt es, Arbeits- und Einstellungshemmnisse abzubauen. Wer häufig mit Handwerkern und mittelständischen Unternehmern spricht, weiß, daß. viele von ihnen in der Einstellung neuer Arbeitnehmer ein Risiko sehen. Sie fürchten das Risiko langwieriger Arbeitsgerichtsprozesse und unkalkulierbarer Kosten, die ihnen entstehen können. Deshalb - und das ist der falsche Weg - setzen sie lieber auf Überstunden.
    Die Bundesregierung und die Koalition sind nach eingehenden Beratungen zu dem Ergebnis gekommen, den Schwellenwert des Kündigungsschutzgesetzes, der gegenwärtig für Betriebe mit mehr als fünf Arbeitnehmern gilt, auf zehn Beschäftigte anzuheben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zurufe von der SPD)

    Wir sind sicher, dies liegt im Interesse der Arbeitsplatzsuchenden, und wir sind sicher, wir werden sehr rasch erleben, daß aus dieser Entscheidung heraus die Zahl der Arbeitnehmer in kleinen Betrieben zunehmen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wer Arbeitsplätze von Kosten entlasten und neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen will, kommt, ob er es will oder nicht, auch am Thema der Lohnfortzahlung nicht vorbei. Denn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein wesentlicher Bestandteil der stark gestiegenen Lohnzusatzkosten. Wie Betriebspraktiker und Arbeitnehmer sowie Betriebsräte selbst wissen, ist sie zudem anfällig für eine mißbräuchliche Inanspruchnahme.

    (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ist doch nicht wahr!)

    Unbestritten ist, daß die Verringerung betrieblicher Fehlzeiten - das gehört ebenfalls in diese Betrachtung - auch und nicht zuletzt eine Frage von Personal- und Betriebsführung sowie Betriebsklima ist. In vielen Betrieben in unserem Land gibt es sehr

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    praktische Lösungen, die zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Krankmeldungen geführt haben.
    Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, kann aber niemand übersehen, daß die Entgeltfortzahlung jährlich Kosten in Höhe von 60 Milliarden DM für unsere Wirtschaft verursacht. Dies erhöht die Lohnkosten und belastet Arbeitsplätze.
    Deshalb kann die Politik im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und der Schaffung neuer Arbeitsplätze diese Frage nicht einfach ignorieren, nachdem - ich füge dies ausdrücklich hier hinzu - die Tarifparteien leider bisher keine Lösung gefunden haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Woran liegt das denn?)

    Ich bedauere dies, und ich wünsche mir, daß die Tarifparteien, die ja hier auch in Zukunft eine entscheidende Verantwortung haben, die notwendigen Signale setzen. Ich weiß um den Widerstand, vor allem auch der Gewerkschaften, in dieser Frage, und ich kenne auch die Entstehungsgeschichte der Lohnfortzahlung. Ich weiß, was diese Entscheidung bedeutet.
    Ich will deshalb auf zwei Gesichtspunkte besonders hinweisen:
    Erstens wird nicht in bestehende Tarifverträge eingegriffen. Für über 80 Prozent der Arbeitnehmer ist die Lohnfortzahlung tarifvertraglich geregelt, und wir achten und respektieren die Tarifautonomie. Ich sage noch einmal: Wir setzen allerdings darauf, daß die Tarifparteien in eigener Verantwortung tragfähige Lösungen finden und umsetzen.
    Zweitens. Es ist das Recht und, wenn es notwendig ist, auch die Pflicht der Politik, auch gegen Widerstände die Interessen Arbeitssuchender durchzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Für mich sind und bleiben Tarifautonomie und starke Tarifpartner zentrale Pfeiler einer zukünftig positiven Entwicklung. Sie sind ein ganz entscheidender Anker für die Stabilität unseres Landes. Dies haben ja auch Wirtschaft, Gewerkschaften und die Bundesregierung im „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" am 23. Januar noch einmal gemeinsam bekräftigt. Wir haben in neun Gesprächen mit den Spitzenrepräsentanten von Wirtschaft und Gewerkschaften bereits viel auf den Weg gebracht, wie ich dankbar vermerken will, zum Beispiel das Programm für Langzeitarbeitslose, die Lehrstellenzusage der Wirtschaft, die Offensive für mehr Selbständigkeit und die Lösung der sehr schwierigen Frage der Frühverrentung. Natürlich - das war doch gar nicht anders zu erwarten - gab es und gibt es Felder, auf denen wir nicht einig sein können, wie etwa in der Frage der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wo wir unterschiedlicher Meinung waren und sind.
    Es ist notwendig, daß wir versuchen, einen Konsens zu erreichen; aber dieses Streben nach Konsens kann die politisch Verantwortlichen - das gilt vor allem auch für die Bundesregierung und für mich selbst - nicht davon entbinden, die notwendigen Entscheidungen, wenn ein Konsens nicht möglich ist, herbeizuführen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die Bundesregierung und vor allem ich selbst werden alles tun, um bei künftigen Gesprächen im Rahmen dieser Runde zu weiteren positiven Ergebnissen zu kommen.
    Ich will in diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung zu einem Thema machen, das jetzt ebenfalls diskutiert wird, nämlich zur Frage der Gestaltung der Arbeitswelt und der Arbeitsbedingungen und inwieweit das Instrument des Flächentarifvertrages hierfür ein geeignetes Instrument ist. Ich sage klar: Ich setze darauf, daß der Flächentarifvertrag weiterentwickelt werden kann

    (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Richtig!)

    - dies ist auch die Meinung führender Gewerkschaftler und auch führender Unternehmer in der Bundesrepublik - und daß aus dieser Weiterentwicklung gute Beiträge zur Beschäftigungssicherung, zum Beschäftigungsaufbau und damit zum sozialen Frieden geleistet werden können.
    Meine Damen und Herren, wenn im Eifer des Gefechts der eine oder andere jetzt sagt, dies sei alles hinfällig, dann leugnet er die wichtige Erfahrung aus der Geschichte der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren. Zu den Vorteilen des Standorts Deutschland gehörte bei allen streitigen Auseinandersetzungen, daß es zu allen Zeiten - manchmal kurzzeitig unterbrochen - eine Gesprächsmöglichkeit zwischen Gewerkschaften und Unternehmern gab. Ich kann nur davor warnen, diese Erfahrung in den Wind zu schlagen. Das ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Frage.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, wenn es um die Zukunft geht, zeigt es sich in einer besonders eindeutigen Weise, inwieweit wir fähig sind, Zukunftssicherung im Bereich der langfristigen Sicherung des Generationenvertrages zu ermöglichen. Das von Koalition und Bundesregierung gestern vorgestellte Programm enthält auch Maßnahmen zur Stabilisierung des Beitragssatzes und zu strukturellen Reformen. Dabei möchte ich an erster Stelle hervorheben, daß unsere Rentenpolitik verläßlich bleibt. Die Renten werden zum 1. Juli 1996 erhöht, und sie werden auch im kommenden Jahr - entgegen anderslautenden Behauptungen - der Nettolohnentwicklung folgen. Kein Rentner muß um seine Rente fürchten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zurufe von der SPD)

    - Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Dies ist doch ein Punkt, bei dem Sie einmal klatschen könnten. Sie haben doch angeblich das Interesse der Rentner im Auge.
    Aber, meine Damen und Herren, wir müssen offen darüber sprechen, daß wir der jetzigen jüngeren Generation eine verläßliche Perspektive für ihre Alterssicherung geben müssen. Wir stehen doch - und je-

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    der spürt dies - unbestreitbar vor einer dramatischen Veränderung unserer Gesellschaft, nicht zuletzt im Altersaufbau.
    Als die Rentenversicherung vor über 100 Jahren eingeführt wurde, wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre festgelegt. Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 45 Jahre. Bis heute ist die durchschnittliche Lebenserwartung auf über 75 Jahre angestiegen. Deshalb ist es richtig, das Renteneintrittsalter, wie im Reformpaket zur Stabilisierung der Rentenversicherung vorgeschlagen, schrittweise zu erhöhen. Das ist angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung zur Sicherung der Renten auch zumutbar,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    zumal wir wissen, daß Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate gehört.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ach ja, deshalb die Verschiebung der Kindergelderhöhung!)

    - Ich muß Ihnen, gnädige Frau, sagen, diese Zusammenfassung der Problematik ist sehr eigenartig. Daß Sie das als Dame tun, erstaunt mich ganz besonders.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso? Verstehe ich nicht!)

    Gleichzeitig erhöht sich erfreulicherweise die Lebenserwartung. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt. Wer heute 30 Jahre alt ist wird nach menschlichem Ermessen das Jahr 2030 erleben und dann zu den über 65jährigen gehören. Der Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung wird zu diesem Zeitpunkt auf über 27 Prozent anwachsen und sich damit fast verdoppeln. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern wird sich also drastisch verändern. Das ist überhaupt nicht zu leugnen; das ist die Realität.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, schon heute über notwendige Konsequenzen dieser Entwicklung zu diskutieren und zu handeln.
    Mit dem 1989 verabschiedeten Rentenreformgesetz haben wir bereits wichtige Anpassungen vorgenommen. Jetzt müssen wir die Rentenversicherung mit weitreichender Zukunftsperspektive fortentwikkeln.

    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Arbeitsplätze schaffen!)

    Die Bundesregierung wird hierzu eine Kommission unter Vorsitz des Bundesarbeitsministers einsetzen. Wir erwarten, daß diese Kommission ihre Arbeit auf eine breite Grundlage stellt und sich den Sachverstand aller Seiten unserer Gesellschaft sichert. Sie sind besonders herzlich eingeladen,

    (Lachen bei der SPD)

    und ich denke, wir werden dabei hören, welche Vorschläge Sie vorbringen. Ich wünsche mir jedenfalls,
    daß diese notwendigen Reformen in einem parteiübergreifenden Kompromiß gelingen, so wie dies auch in der Vergangenheit möglich war.
    Die Zeit drängt, und deswegen haben wir beschlossen, daß diese Kommission ihre Ergebnisse bis zum Ende dieses Jahres, 1996, vorlegt. Wir können das dann gemeinsam gestalten, indem wir diese Themen mit allen Interessierten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausführlich diskutieren. Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, mit Beginn des kommenden Jahres, 1997, die sich hieraus ergebenden Gesetzgebungsverfahren einzuleiten und sie bis Ende 1997 abzuschließen.
    Meine Damen und Herren, das ist ein ehrgeiziger Zeitplan. Aber ich halte ihn für zwingend, weil es wünschenswert ist, die Fragen der Alterssicherung und der Renten wie in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Wahlkampfgeschehen eines kommenden Bundestagswahlkampfs möglichst herauszuhalten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Lachen bei der SPD)

    - Auch hier verstehe ich Ihre Unruhe nicht. Ich habe nie Angst vor Wahlkämpfen gehabt. Sie sollten sich daran erinnern, mit welchen Gesichtern Sie gerade vor vier Wochen herumgelaufen sind.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Verschiebung der Kindergelderhöhung hätten Sie mal vor der Wahl machen sollen! Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So gut war die CDU auch nicht!)

    Es hat doch keinen Sinn, sich hier selbst Mut zuzusprechen.
    Meine Damen und Herren, die notwendigen Korrekturen zur Zukunftsicherung müssen auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen werden. Dabei gilt für mich der Grundsatz: Wer krank oder pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf eine hochwertige medizinische Versorgung und selbstverständlich auf eine menschenwürdige Pflege. Daher kommt die zweite Stufe der Pflegeversicherung, mit der die stationäre Pflege eingeführt wird, wie geplant am 1. Juli 1996.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Mit dieser Entscheidung entlasten wir zugleich die kommunale Seite um rund 9,5 Milliarden DM. Ich erwarte jedoch auch - das möchte ich hier gerne sagen -, daß die Länder und die Kommunen ihre Zusage einhalten, einen Teil ihrer Einsparungen für die notwendigen Investitionen für Pflegeheime einzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es ist völlig unbestreitbar, daß wir den Kostenanstieg in der Krankenversicherung stoppen müssen. Je mehr es uns gelingt, Wettbewerb und Eigenverantwortung durchzusetzen, desto weniger muß es zu Leistungseinschränkungen kommen.
    Meine Damen und Herren, unser Steuersystem muß wachstums- und beschäftigungsfreundlicher werden. Wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig. Deshalb streben wir bald eine umfassende Re-

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    form des Steuertarifs an. Die Steuersätze sollen deutlich gesenkt und das Steuerrecht vereinfacht werden. Um dies zu erreichen, muß es weniger Ausnahmen und Begünstigungen geben.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir müssen erreichen, daß es zu einer echten und spürbaren Entlastung für die Mehrzahl der Bürger kommt. Auch für diesen Arbeitsbereich wird die Bundesregierung in diesen Tagen die Einsetzung einer Kommission unter dem Vorsitz des Bundesfinanzministers beschließen. Diese Kommission soll ebenfalls bis zum Ende dieses Jahres, 1996, ihre Vorschläge erarbeiten. Auch hier ist es unser Wunsch, daß es eine möglichst breite Beteiligung an der Diskussion gibt.
    Wir wollen die Gesetzgebung in diesem Bereich ebenfalls bis Ende 1997 abschließen. Es ist sehr wichtig, daß die Bürger und vor allem auch die Unternehmen selbst frühzeitig Gewißheit über die künftigen Steuertarife haben und für ihre mittel- und langfristigen Dispositionen eine verläßliche Grundlage bekommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wir wollen, daß der neue Tarif zum 1. Januar 1999 in Kraft treten kann. Ich will noch einmal nur erwähnen - dann brauchen wir die Debatte darüber hier nicht erneut zu führen -, daß für uns in der Koalition eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in dieser Legislaturperiode nicht in Frage kommt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Unabhängig von dem eben Gesagten werden wir die im Aktionsprogramm angekündigten steuerpolitischen Verbesserungen fortsetzen. Das Programm zielt darauf, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern. Dazu gehören die aufkommensneutrale Reform der Unternehmensteuern mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der mittelstandsfreundlichen Absenkung der Gewerbeertragsteuer, die Reform der Erbschaftsteuer, der Wegfall der Vermögensteuer, wobei die private Vermögensteuer mit der Erbschaftsteuer zusammengefaßt wird, und die bessere steuerliche Behandlung von Beschäftigungsverhältnissen in privaten Haushalten.
    Einen wirksamen Beitrag erwarte ich auch in diesem Zusammenhang von den Tarifparteien. Im Rahmen der Tarifautonomie - das ist gut so und soll nicht geändert werden - bestimmen Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam über die Lohnhöhe und über wesentliche Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel über die Arbeitszeit. Die bisher getroffenen Tarifvereinbarungen in der Lohnrunde 1996 zeigen, daß die Tarifparteien gewillt sind, dem Beschäftigungsziel einen höheren Stellenwert als Einkommenssteigerungen zu geben. Ich begrüße dies ausdrücklich. In den verschiedenen Lagern der Tarifpartner sollten meines Erachtens auch diese Erfolge einzelner Gewerkschaften noch sehr viel positiver gewürdigt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Soweit der Bund als Tarifpartei im öffentlichen Dienst mit in der Verantwortung steht, werden wir ein deutliches Zeichen setzen müssen. Gerade in einer Zeit, in der viele Unternehmen ihr Personal verringern, ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst ein besonders wertvolles Gut. Das will ich bei dieser Gelegenheit einmal mehr unterstreichen. Wer einen sicheren Arbeitsplatz hat - so denke ich -, dem kann mehr zugemutet werden als einem, der sich andauernd Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen muß.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die Grundzüge unseres Programms vorgestellt. Es soll und wird dazu beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen und die Zukunft zu gewinnen. Es ist ein Programm für mehr Investitionen und Beschäftigung. Es ist natürlich auch ein Programm zur Sicherung unseres Sozialstaats. Es schafft den Spielraum, den wir brauchen, um die sich bietenden Chancen in der veränderten Weltwirtschaft wahrnehmen zu können. Nur ein wirtschaftlich leistungsfähiges Deutschland ist in der Lage, den hier lebenden Menschen und Bürgern Arbeitsplätze und Einkommenschancen zu bieten,

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sagen nichts zum Kindergeld!)

    soziale Leistungen zu finanzieren, die ein Leben ohne materielle Not ermöglichen, und teilzuhaben am Aufschwung anderer Regionen unserer Erde.
    Wir haben als Deutsche auch in dieser Situation - bei allen Schwierigkeiten - nicht den geringsten Grund, pessimistisch in die Zukunft zu sehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es gab noch nie eine Generation in der neueren Geschichte unseres Volkes, die so viele Chancen hatte, ihre Zukunft zu gestalten, und für die so viele Wege in die Welt offenstanden. Auf unsere Stärken können wir uns auch in Zukunft verlassen. Dazu zähle ich die hervorragende Berufsausbildung in Deutschland, deren Bedeutung in Zukunft noch steigen wird, die modern gestaltete Infrastruktur, das soziale Klima, die ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die in den letzten Jahrzehnten ganz wesentlich zu Innovation und Erneuerung beigetragen haben.
    Meine Damen und Herren, es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen und die Zukunft zu sichern. Auch das ist eine Erfahrung, die gilt: Wohlstand läßt sich nicht auf Pump finanzieren. Gefragt sind jetzt Mut und Weitsicht, das richtige Einstellen der Weichen für die Zukunft. Deswegen treffen wir jetzt die notwendigen Entscheidungen und setzen sie Schritt für Schritt in schnellem Tempo um, und dazu darf ich Sie alle einladen.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Oskar Lafontaine


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben soeben eine Einschätzung der ökonomischen Lage vorgenommen und haben einiges über die Lage der öffentlichen Haushalte gesagt. Dieser Einschätzung der ökonomischen Lage können wir nicht widersprechen, und die Darstellung der öffentlichen Haushalte ist nach dem, was wir heute wissen, korrekt gewesen.
    Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, eine Frage müssen wir Ihnen stellen: Hätten Sie diese Rede nicht auch schon vor einigen Wochen hier halten können?

    (Beifall bei der SPD)

    War die ökonomische Lage damals wirklich so viel anders als heute? War die Lage der öffentlichen Haushalte vor einigen Wochen so viel anders als heute?

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wie im Saarland!)

    Warum haben Sie nicht den Mut gefunden, vor einigen Wochen anzukündigen, daß Sie in die Lohnfortzahlung eingreifen wollen,

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das haben wir doch gesagt!)

    daß Sie den Kündigungsschutz einschränken wollen, daß Sie das Rentenrecht verschlechtern wollen, daß Sie die Arbeitsförderung drastisch verschlechtern wollen und daß Sie das Kindergeld nicht zeitgerecht erhöhen wollen? Warum gehen Sie immer nach derselben Methode vor, daß Sie der Bevölkerung vor den Wahlen die Unwahrheit sagen, um nach den Wahlen dann mit der ganzen Wahrheit herauszurükken?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es funktioniert!)

    Sie haben vorhin an die Adresse der SPD und der anderen Parteien im Deutschen Bundestag gesagt, Sie wünschten, daß die Debatte um die Reform des Rentensystems aus dem nächsten Wahlkampf herausbliebe. Da können wir uns ganz auf Sie verlassen, verehrter Herr Bundeskanzler. Sie haben es bisher immer geschafft, vor Wahlen Debatten zu vermeiden, die wahrheitsgemäß gewesen wären, aber dem Volk einiges abverlangt hätten.

    (Beifall bei der SPD)

    Dadurch sind Sie verantwortlich dafür, daß die Staatsverdrossenheit in unserem Volk gewachsen ist

    (Beifall bei der SPD sowie beim Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    und daß viele zu der Auffassung kommen: Vor Wahlen kann man den Politikerinnen und Politikern sowieso nicht mehr glauben. Die Erfahrung, wesentlich durch Sie selbst geprägt, gibt solchen Vorurteilen in unserer Gesellschaft leider recht. Sie sollten endlich
    von dieser fahrlässigen, unehrlichen Vorgehensweise Abstand nehmen und den Bürger dadurch zum mündigen Bürger erklären, daß Sie gerade in den Wahlauseinandersetzungen die alternativen Konzepte der politischen Parteien diskutieren lassen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wenn die Arbeitslosigkeit die höchste nach dem Kriege ist, wenn die Staatshaushalte enorme Schulden haben und wenn die Steuer- und Abgabenquote viel zu hoch ist, dann stellt sich in einer Phase der Stagnation oder Rezession die Frage, wie die Politik reagieren soll, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu induzieren.
    Es ist gut, meine Damen und Herren, daß jetzt zumindest die Überschriften geändert worden sind. Hieß es vor einiger Zeit noch: Wir müssen ein Sparpaket verabschieden, so heißt es jetzt richtigerweise quer durch die Parteien: Wir brauchen ein Programm für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung. Jeder weiß, die Sozialversicherungskassen und die Staatshaushalte können nur saniert werden, wenn es uns gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen und zu mehr Beschäftigung zu kommen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wenn man die Arbeitslosigkeit abbauen und zu mehr Beschäftigung kommen will, dann müssen die politischen Weichenstellungen richtig vorgenommen werden. Wir haben in diesem Hause oft über die Rolle der Geldpolitik diskutiert. Ich glaube, daß die Bundesbank durch die jüngsten Entscheidungen die richtigen Signale gesetzt hat. Man hat sich nicht mehr starr an der Entwicklung der Geldmenge orientiert, sondern hat in einer Phase der Stagnation oder Rezession auf Wachstum umgeschaltet. Dies ist eine richtige Entscheidung der Deutschen Bundesbank.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ebenso ist unstreitig, daß eine solche Entscheidung durch eine moderate und zurückhaltende Lohnpolitik ergänzt werden muß. Wer die Entscheidungen der letzten Wochen und Monate betrachtet, der wird nicht an dem Urteil vorbeikommen, daß die deutschen Gewerkschaften und die Tarifpartner - in erster Linie aber muß man die deutschen Gewerkschaften nennen - an dieser Stelle ihrer Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung voll entsprochen haben; denn sie haben eine moderate Lohnpolitik auf den Weg gebracht.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Eine Geldpolitik und eine Lohnpolitik, die sich nicht gegenseitig blockieren, wie Herbert Giersch in einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt hat, sind die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Sie müssen durch eine stetige, wachstumsorientierte Finanzpolitik und durch eine ausgewogene Sozialpolitik ergänzt werden. Die Fragen werden heute also sein, ob die Bundesregierung zu einer stetigen, wachstumsorientierten Finanzpolitik Vorschläge ge-

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    macht hat und ob die Sozialpolitik, die Sie jetzt begonnen haben neu auszurichten, ausgewogen zu nennen ist.

    (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!)

    Zur Finanzpolitik lese ich Ihnen ein Urteil des von Ihnen in den Sachverständigenrat berufenen Finanzexperten Rolf Peffekoven vor. Auf die Frage, warum die ökonomische Entwicklung so schlecht ist und warum wir solch große Defizite in den Staatshaushalten zu verzeichnen haben, sagte er gestern folgendes:
    Die Erklärung ist ganz einfach. Es besteht ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dauernden Ankündigungen und dauerndem Nichtpassieren. Wenn aber etwas geschieht, wird es nicht selten gleich wieder rückgängig gemacht. Der deutschen Finanzpolitik fehlt es an Glaubwürdigkeit und an Stetigkeit.
    Sie sollten sich das hinter die Ohren schreiben, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Auf die Frage: Ist die Finanzpolitik unsolide? sagt er:
    Wenn Sie auf die fehlende Stetigkeit und Glaubwürdigkeit verweisen, dann muß ich leider antworten: Ja, die Finanzpolitik ist unsolide.
    Ihre unstete Steuer- und Finanzpolitik in den letzten Jahren ist einer der Gründe dafür, daß wir mittlerweile diese hohe Arbeitslosigkeit, diese hohe Staatsverschuldung und diese hohe Steuer- und Abgabenlast zu verzeichnen haben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Daß Ihre Sozialpolitik ausgewogen sei, will doch auch von Ihnen niemand ernsthaft behaupten. Wenn man die Stellungnahmen etwa der CDA in den letzten Tagen zur Kenntnis nimmt, muß man zum Urteil kommen: Sie haben zwar gesagt, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, alle müßten jetzt den Gürtel enger schnallen. Enger schnallen müssen den Gürtel aber nur Rentner, Familien, Arbeitslose und Arbeitnehmer. Dies verdeutlicht die totale Schieflage Ihrer Sozialpolitik.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Das Entscheidende ist aber, daß Sie zu den eigentlichen Reformen, die jetzt notwendig sind, nicht die Kraft aufbringen. Auf konjunkturelle Probleme muß man mit sachgemäßen konjunkturellen Lösungen reagieren. Auf strukturelle Probleme muß man mit sachgemäßen langfristig wirkenden strukturellen Lösungen reagieren.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Siehe Saarland!)

    Ich komme zur Steuerpolitik. Wir halten eine Reform des Einkommensteuerrechts für dringend geboten. Wir mahnen sie seit langem an. Wir stellen fest:
    Das geltende Einkommensteuerrecht schafft Staatsverdrossenheit, weil es nicht hinnehmbar ist, daß der Verkäuferin und dem Facharbeiter direkt im Lohnbüro die Steuern abgezogen werden, während es Millionäre gibt, die völlig legal keinen Pfennig Steuern zahlen. Dies untergräbt das Vertrauen der Leistungsträger unserer Gesellschaft in den Staat.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die erste Reform, die schon lange überfällig ist, um wieder mehr Leistungswillen in der Arbeitnehmerschaft und in unserer Bevölkerung zu ermöglichen, ist die Reform des Steuertarifs, der Lohn- und Einkommensteuer. Diese Forderung ist allgemein anerkannt. Aber Sie haben keinerlei Anstalten gemacht, um dieser Forderung zu entsprechen. Wenn Sie nicht entscheidungsfähig sind, weichen Sie immer auf Kommissionen aus, verehrter Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie hatten eine Kommission von Finanzwissenschaftlern, die Bareis-Kommission, eingesetzt, die Ihnen Vorschläge gemacht hat, wie man das Einkommensteuerrecht leistungs- und sozialgerecht reformieren kann. Herr Waigel hat die Ausarbeitung dieser Kommission in den Papierkorb geworfen. Meinen Sie, es wird besser, . wenn er selbst jetzt einer neuen Kommission vorsitzt? Das ist doch eine Lachnummer.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Sie wollen die Ergebnisse dieser Kommission - da sind Sie konsequent, mein Kompliment - aus dem Wahlkampf heraus halten, denn dieses Gesetz soll erst nach der Bundestagswahl wirksam werden. Sehr verehrter Bundeskanzler, hier liegt ein klassischer Beweis dafür vor, daß der von mir zitierte Finanzwissenschaftler recht hat: Sie sind mit dieser Koalition nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, auch wenn in den Kommissionen da oder dort Richtiges erarbeitet wird. Vertagen Sie eine leistungs- und sozialgerechte Steuerreform nicht auf das Jahr 1999, sondern setzten Sie sie jetzt in Gang! Wir bieten dazu die notwendige Bereitschaft an.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Der richtige Weg bei der heutigen konjunkturellen Lage ist - da darf es überhaupt keinen Zweifel geben -, daß der Solidaritätszuschlag abgebaut wird. Wir halten den zügigen Abbau für notwendig, um die Konjuktur zu unterstützen, um nicht die Arbeitseinkommen über Gebühr zu strapazieren. Denn dies hemmt auch den Leistungswillen in unserer Bevölkerung. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise man zu einem zügigen Abbau des Solidaritätszuschlags kommen kann. Wir schlagen eine Vermögensabgabe auf hohe Vermögen vor, wie sie bereits nach der deutschen Einheit von vielen Fachleuten vorgeschlagen worden war.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    Wir fordern Sie auf, Ihren Vorschlag, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und statt dessen die Steuern für Handwerker, für Friseurmeister, Kraftfahrzeugmeister, Dachdeckermeister und viele andere zu erhöhen, zurückzuziehen. Es ist doch ein Treppenwitz der Weltgeschichte, daß Sie in dieser Phase der Konjunktur, in der die Nachfrage nach Investitionsgütern lahmt, eine Abschreibungsverschlechterung, sprich: Steuererhöhungen, für das Handwerk und den Mittelstand vorschlagen. Ziehen Sie diesen Vorschlag zurück! Er ist ökonomisch so unvernünftig, daß Sie in der Fachwelt niemanden finden, der diesen Vorschlag rechtfertigt.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Steuererhöhungen für Handwerk und Mittelstand, wie Sie sie jetzt, kaschiert als Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen, vorschlagen, sind jetzt wirklich nicht akzeptabel. Was der F.D.P.-Vorsitzende offensichtlich immer noch nicht verstanden hat: Im Saldo - lesen Sie die Gutachten der Industrieverbände nach - handelt es sich beim Gesetzentwurf zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer um eine Steuererhöhung. Nehmen Sie in der jetzigen Phase der Konjunktur von dieser Steuererhöhung endlich Abstand!

    (Beifall bei der SPD Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wissen Sie nicht mehr, was Sie im letzten Jahr gesagt haben? Zuruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])

    - Sie waren damals noch nicht im Parlament, zumindest einer von denen, die jetzt so laut dazwischengerufen haben; aber ich habe im letzten Jahr denselben Vortrag gehalten. Das Problem ist bei Ihnen nur: Man kann Ihnen noch so viele Argumente vortragen, Sie sind unbelehrbar und wollen Handwerk und Mittelstand weiterhin steuerlich höher belasten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Die zweite wichtige Reform, die jetzt anzugehen ist, ist die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Es ist einfach nicht hinnehmbar, daß die Beiträge zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversicherung immer weiter ansteigen. Der Bundeskanzler hat vorhin eine Teilschuld seiner Regierung und der Koalition bei der Entwicklung dieses die Wirtschaft schädigenden ständigen Anstiegs der Beiträge eingeräumt. Mit dieser Entwicklung sind in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze bei Handwerk und Mittelstand verlorengegangen.
    Es wäre notwendig, die sozialen Versicherungskassen von versicherungsfremden Leistungen zu befreien. Das ist völlig unstreitig. Aber in Ihrem Programm wird dieser Gedanke nicht oder nur in geringem Umfang aufgegriffen. In Wirklichkeit gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt nicht an, weil Sie nach wie vor daran festhalten wollen: Es ist bequemer, die Kosten der Einheit den sozialen Versicherungskassen aufzubürden, statt sie sauber von allen Steuerzahlern bezahlen zu lassen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Dies ist ungerecht; denn es dürfte überhaupt keine Frage sein, daß die Kosten, die aus der deutschen Einheit entstanden sind, nicht nur von den Beitragszahlern bezahlt werden können. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher wäre es notwendig, dieses Reformprojekt jetzt anzugehen. Wiederum werden Arbeitsplätze dadurch wegrationalisiert, daß ein ernsthaftes Bemühen bei der Bewältigung dieser Reform in Ihrem Vorschlag nicht zu erkennen ist.
    Das dritte Reformprojekt, an dem wir festhalten, ist der umweltgerechte Umbau unseres Steuer- und Abgabensystems. Würde man hier in diesem Bundestag abstimmen, dann würde diesem wichtigen Reformprojekt unserer Gesellschaft im Grundsatz zugestimmt. Es würde auf eine große Mehrheit quer durch die Fraktionen stoßen. Das ist jedem bekannt, der sich mit der Materie einmal beschäftigt hat.
    Es gibt eine Reihe von Voten, die deutlich machen, daß die Idee, die Arbeit in diesem Lande billiger zu machen und auf der anderen Seite den Umweltverbrauch zu verteuern, eine richtige Idee ist, weil sie einerseits zu mehr Arbeitsplätzen führt und andererseits längerfristig die Lebenschancen zukünftiger Generationen erhält. Bitte, gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt unserer Gesellschaft endlich an!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die Tatsache, daß wir auf dem weltweit wachsenden Umweltmarkt, der nach internationalen Schätzungen 1 000 Milliarden Dollar umfaßt, bei dem Export von Umwelttechnik nicht nur pro Kopf, sondern absolut Weltmeister sind, sollte uns doch Ermutigung sein, diesen Weg weiterzugehen. Ich will Ihnen eines sagen: Die Tatsache, daß wir in Deutschland bei der Umwelttechnik vorne sind, ist eher ein Ergebnis der Ökologiebewegung

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Grünen!)

    als ein Ergebnis der gezielten Politik Ihrer Regierung.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    - Natürlich, Herr Kollege Fischer, haben auch die Grünen einen Anteil an dieser Entwicklung; ich möchte das ausdrücklich von diesem Pult aus feststellen.

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Töpfer!)

    Das vierte Reformprojekt, das wir jetzt angehen müssen, ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich in größerem Umfang am Produktivvermögen und am Kapital zu beteiligen. Alle Daten, die wir heute zur Kenntnis nehmen können, sprechen

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    dafür, dieses seit Jahrzehnten diskutierte, aber immer wieder aufgeschobene Reformprojekt unserer Gesellschaft jetzt endlich in Angriff zu nehmen. Die Zeit ist überreif für dieses große Reformprojekt.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Es ist doch nicht zu bestreiten: Wir finanzieren den größten Teil der Soziallasten über die Arbeit und verteuern sie in einem Umfang, der nicht mehr am Markt durchzusetzen ist. Gleichzeitig ignorieren wir, daß der Anteil der Einkommen aus Vermögen steigen wird, während der Anteil von Arbeitseinkommen am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Es ist offensichtlich ein Fehler, gerade die Einkommen zu belasten, deren Anteil am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Also muß man die Finanzierung ändern.
    Also muß man jetzt endlich in einer Zeit, in der die Realeinkommen seit Jahren stagnieren, auch in diesem Jahr, in dem die Aktienkurse ja nun wirklich nicht sinken, sondern Rekordhöhen erreicht haben, in dem die Höhe der Gewinne nach den Stellungnahmen der Sachverständigen insgesamt keine Probleme aufwirft und sie in einzelnen Branchen geradezu wieder exorbitant hoch sind, zu einer Veränderung in unserer Gesellschaft kommen, die man in die Worte fassen kann: Sich mit stagnierenden Reallöhnen abzufinden kann keine Antwort auf diese Entwicklung sein. Vielmehr muß die Antwort lauten, endlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch am Kapitalertrag und am Produktivvermögen zu beteiligen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Eine einmalige Chance wäre es gewesen, beim Aufbau Ost mit dieser Arbeit zu beginnen.

    (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! Sehr richtig!)

    Wenn man schon das völlig fehlerhafte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" mit all den Verwerfungen, die sowohl für die Investitionen als auch für die Vermögensverteilung in den neuen Ländern damit verbunden waren, durchgesetzt hat, dann hätte man im Gegenzug damit beginnen müssen, dort die Arbeitnehmer am neu aufgebauten Produktivvermögen, zumal es mit enormen staatlichen Mitteln finanziert worden ist, zu beteiligen. Hier haben Sie die Chance nicht genutzt, einen richtigen Einstieg in dieses Reformprojekt unserer Gesellschaft zustande zu bringen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Wenn ich lese, daß man sich jetzt Gedanken darüber macht, ob nicht die Vorstandsbezüge in Deutschland in Form von Aktienoptionen an die Höhe der Vorstandsbezüge amerikanischer Manager angepaßt werden müssen, damit sie über Jahreseinkommen in zweistelliger Millionenhöhe verfügen - wir haben das vor zwei Wochen in einem Nachrichtenmagazin gelesen -, dann zeigt das eigentlich, wohin wir in unserer Gesellschaft nach 13 Jahren der
    Regierung Kohl gekommen sind. Es wird für mich der Anstand verletzt, wenn nicht darauf hingewiesen wird, daß es bei ständig stagnierenden oder sinkenden Realeinkommen viel, viel notwendiger wäre, die Arbeitnehmer an Gewinnen und Aktienzugewinnen zu beteiligen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Es ist ja überhaupt merkwürdig, daß Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, von Ihrer Seite kommen. Sie könnten ja den Zuschauerinnen und Zuschauern einmal darstellen, wie Sie persönlich, Herr Bundeskanzler, von den geplanten Regelungen bei der Lohnfortzahlung, dem Kindergeld und von der Kürzung sozialer Leistungen, wie der Sozialhilfe, der Arbeitslosenhilfe, des Arbeitslosengeldes und was da alles in der Mache ist, betroffen sind.

    (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das möchte ich auch wissen!)

    Dadurch könnte deutlich gemacht werden, wie es eigentlich in unserem Lande aussieht.
    Aber es ist einfach nicht mehr hinnehmbar, daß diejenigen, die nun wirklich ein enormes Einkommen und Vermögen haben, immer wieder neue Sparappelle an Sozialhilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe richten. Das ist das Ergebnis einer totalen Fehlentwicklung in unserer Gesellschaft, die Sie zu verantworten haben.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wir brauchen fünftens selbstverständlich eine Reform der Regelungen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist unstreitig. Streitig zwischen uns ist, wie Regelungen auf dem Arbeitsmarkt aussehen.
    Sie haben hier noch einmal voller Stolz, Herr Bundeskanzler - ich habe versucht, es schon zwei-, dreimal zu erklären -, den Zuwachs der Beschäftigungsverhältnisse Ende der 80er Jahre vorgetragen.
    Nur, meine Damen und Herren, wenn man die Beschäftigungsverhältnisse betrachtet, dann muß man in der heutigen Lage unserer Gesellschaft angeben, um welche Art von Beschäftigungsverhältnissen es sich handelt. Wenn man sich dann nach jahrelangem Votum für Verlängerung von Arbeitszeiten endlich zu der Einsicht durchgerungen hat - das begrüßen wir ja -, daß man Überstunden abbauen und Teilzeitarbeitsplätze einrichten muß, darf es aber nicht so sein, daß Millionen von Arbeitsplätzen zuwachsen, diese aber nicht sozialversicherungspflichtig abgesichert sind und zu Lasten der Frauen in unserer Gesellschaft gehen.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    So haben wir uns die Neuordnung des Arbeitsmarktes nicht vorgestellt.
    Daher ist es nicht akzeptabel, daß Sie beispielsweise das Angebot der Gewerkschaften, auch hier mit den Regierenden zu einer Zusammenarbeit zu

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    kommen, auf diese Art und Weise beantwortet haben. Es war ein Angebot der Gewerkschaften, zu einem „Bündnis für Arbeit" zu kommen. Das, was die Gewerkschaften dort eingebracht haben, waren moderate Lohnabschlüsse. Das ist natürlich in der jetzigen konjunkturellen Situation die adäquate Antwort. Aber die Gewerkschaften wollen sich dadurch eine Zusage einhandeln, daß es zu weniger Kündigungen und zu weniger Beschäftigungsabbau kommt. Das ist doch ein vertretbares und von allen zu unterstützendes Anliegen unserer Gewerkschaften. Wenn Sie darauf mit Abbau des Kündigungsschutzes antworten, dann haben Sie in die Hand gespuckt, die man Ihnen gestreckt hat, meine Damen und Herren!

    (Anhaltender Beifall bei der SPD Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)

    Im übrigen ist der Abbau des Kündigungsschutzes, wenn man ihn vor dem Hintergrund der realen Situation auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, eine Maßnahme, die im Grunde genommen nur Symbolcharakter hat. Wenn Sie sich die Einlassungen über die Kombination von Kündigungsschutzvorschriften und der Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge einzugehen ansehen, die gestern im „Handelsblatt" vorgebracht worden sind, dann werden Sie erkennen, daß dies eine völlig unnötige und überflüssige Provokation der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist. Ich appelliere noch einmal an Sie, diese unkluge und von der Sache noch nicht einmal gerechtfertigte Entscheidung zurückzunehmen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Wenn Sie in Ihrem Programm vorsehen, befristete Arbeitsverträge mehrfach zu verlängern, dann frage ich mich, was eigentlich noch der Sinn dieser Provokation ist. Und dann sagen Sie, ein Handwerker, der nur fünf Beschäftigte hat, habe wegen des hohen Kündigungsschutzes Sorge, noch einen einzustellen. Wenn Sie in diesem Ausmaß die befristeten Arbeitsverhältnisse und Kettenverträge zulassen, dann ist das keinem mehr beizubringen. Es wäre an der Zeit, daß Sie nicht immer nur Flickschusterei betreiben. Sie geraten zeitlich in die Enge, weil Sie vor Wahlen nicht diskutieren wollen, und nach den Wahlen geht es hopplahopp. Dann haben wir nichtüberlegte, unausgewogene Entscheidungen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bin sicher, wenn ich die Gesichter in Ihrer Fraktion sehe, verehrter Herr Bundeskanzler, es würden ganz prominente Mitglieder Ihrer Fraktion diese Feststellung unterschreiben.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wer denn?) Ich will aber jetzt die Namen nicht nennen.

    Der sechste Punkt, den wir vorschlagen, ist eine Stärkung von Forschung und Innovation in unserer Gesellschaft. Es ist richtig in Ihrem Programm, daß Sie Existenzgründungen erleichtern wollen. Es ist richtig und unterstützenswert in Ihrem Programm, daß Sie den Zugang zu Wagniskapital verbessern wollen. Aber, meine Damen und Herren, bei den Forschungsausgaben darf man nicht kürzen. Wenn man alle Ressorts auffordert zu kürzen, dann müssen wir noch einmal daran erinnern, daß die Forschungsausgaben in den letzten Jahren im Haushalt insgesamt stark zurückgegangen sind.
    Deshalb ist der Einwand der ostdeutschen Abgeordneten Ihrer Partei, verehrter Herr Bundeskanzler, gerechtfertigt, wenn sie auf die Notwendigkeit der Verstärkung von Forschungsausgaben gerade in den neuen Bundesländern hinweisen. Überprüfen Sie noch einmal diese Entscheidung! Es ist Sparen angesagt, das will niemand bestreiten, aber nicht bei den Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft.

    (Beifall bei der SPD)

    Das gilt genauso für das Hin- und Hergezerre in der Koalition um die BAföG-Regelung. Gut ausgebildete Studentinnen und Studenten sind auch eine Investition in die Zukunft. Wir werden es nicht zulassen, daß die Frage, ob jemand eine gute Ausbildung erhält oder nicht, durch falsche Regelungen wieder allein vom Einkommen seiner Eltern abhängig wird. Wir werden das nicht zulassen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Natürlich können wir auch nicht mit dem Rasenmäher Investitionsausgaben kürzen. Es wäre wünschenswert, daß die investiven Ausgaben hin zu erneuerbaren Energien umgepolt werden. Deswegen halten wir an unserem Vorschlag fest, an dieser Stelle die Anstrengungen des Staates zu verstärken und die vorhandenen Ausgaben stärker auf erneuerbare Energien auszurichten, damit wir die Märkte der Zukunft gewinnen und damit die Photovoltaik und die Sonnentechnik nicht nach Japan oder in die Vereinigten Staaten abwandern.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Natürlich sind wir in der jetzigen Phase auch aufgefordert, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Saarland!)

    - Verehrte Damen und Herren, ich bin für diesen Zwischenruf dankbar. Ich möchte Sie jetzt noch einmal mit dem Grund vertraut machen, warum wir als Oppositionspartei - das war ein einmaliger Vorgang - an der Saar 1985 aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit erreicht haben. Das gibt es nicht oft. Davon können Sie nur träumen.

    (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD])

    Wir haben die absolute Mehrheit erreicht, weil die ökonomische und insbesondere die finanzpolitische Lage an der Saar völlig aussichtslos war und der Haushalt total überschuldet war, und zwar durch die Politik von CDU und F.D.P. Natürlich können die Länder nicht die Steuern und Abgaben so erhöhen, wie Sie es hier tun.

    (Beifall bei der SPD)


    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    An der Saar galt nun wirklich, meine feinen Herren von den Liberalen: Steuerland war längst abgebrannt. Wir konnten auf die Erhöhungsorgien, die Sie durchgeführt haben, nicht zurückgreifen. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, sachgemäße Vorschläge zu machen, dann bleiben Sie zumindest bei der Wahrheit; denn die Grundlage unserer heutigen Debatte muß eine faire und sachgerechte Diskussion sein.

    (Beifall bei der SPD Lachen bei der CDU/ CSU und der F.D.P.)

    Weiterhin sage ich, daß Ihre ständige Polemik gegen die Koalition Röder/Klumpp gerichtet ist. Sowohl der ehemalige saarländische Ministerpräsident Röder als auch der ehemalige F.D.P.-Vorsitzende Klumpp haben in diesem Umfang Ihre ständigen abqualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Saarpolitik und ihrer Bevölkerung nicht verdient. Auch wenn Sie Großmäuler dagewesen wären, hätten wir die Montankrise und die Bergbaukrise gehabt. Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren!

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn wir die öffentlichen Haushalte konsolidieren wollen, dann sind wir gut beraten, die Vorschläge des Sachverständigenrates zu akzeptieren.

    (Unruhe)

    - Ich danke Ihnen, Herr Dr. Schäuble, daß Sie für etwas Ruhe in Ihrer Fraktion sorgen. Vielen Dank für diese Fairneß.
    Der Sachverständigenrat rät dazu, bei der Haushaltskonsolidierung zwischen kurzfristigen und längerfristigen Konsolidierungsmaßnahmen zu unterscheiden. Er rät weiter dazu, in der Phase der stagnierenden Konjunktur, der erlahmenden Wirtschaft, der Rezession - wie immer Sie das nennen wollen - nicht über Gebühr mit Kürzungen und natürlich auch nicht mit Steuererhöhungen gegenzusteuern.
    Diese Politik ist allerdings nur zu rechtfertigen, wenn tatkräftig längerfristige Strukturreformen eingeleitet werden, um die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.

    (Gert Willner [CDU/CSU]: Das machen wir!)

    - Ja, das mögen Sie vielleicht beabsichtigen, aber wenn man den Schuldenstand sieht, waren Sie nicht erfolgreich in Ihrer Absicht. Das darf zumindestens festgestellt werden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Die Vorschläge, die Sie dazu vorlegen, sind

    (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Richtig!)

    teilweise geeignet, teilweise sind sie ungeeignet. Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den hehren Grundsatz verkündet, wir sollten nicht zulassen, daß jemand, der arbeitet, weniger hat als jemand, der nicht arbeitet, wer wollte ihm da widersprechen?
    Wenn er zum Beispiel darauf hinweist, daß wir bei den Sätzen der Sozialhilfe darauf achten müssen, daß dieser Grundsatz eingehalten wird, wer wollte ihm da widersprechen? Wir haben beim Solidarpakt entsprechende Vereinbarungen zur Begrenzung der Sozialhilfesätze getroffen, und wir sind auch in Zukunft bereit, entsprechende Vereinbarungen zu treffen, um dieses Gebot, das unstreitig ist, zu unterstützen.
    Aber ich möchte an dieser Stelle auch darum bitten, daß die Sozialhilfeempfänger nicht mit unsachgemäßen, polemischen Bemerkungen ständig herabgesetzt werden.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Tut ja niemand!)

    Denn wir erleben schon jahrelang eine Debatte, die Sie jetzt wiederholt haben und die heißt: Wer zumutbare Arbeit ablehnt, dem muß die Sozialhilfe gekürzt oder ganz gestrichen werden. Was soll eigentlich das ständige Herumreiten auf dieser Forderung? Sie als deutscher Bundeskanzler müßten doch wissen, daß das längst im Gesetz steht.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich lese Ihnen § 25 vor. Es könnte ja sein, daß das zu einer Information führt:

    (Zuruf von der CDU/CSU: § 26!)

    Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder eine zumutbare Arbeitsgelegenheit anzunehmen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.
    Was soll also das ständige Wiederholen einer Forderung, die längst in einem deutschen Gesetzbuch steht, und welche Absichten verbinden sich eigentlich damit?

    (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Es geht darum, ob das eine Ermessenfrage ist oder nicht!)

    Ich sage Ihnen noch einmal: Ich weiß ganz genau, daß es populär ist, den Eindruck zu erwecken, es gäbe da Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen und gleichwohl Sozialhilfe beziehen. Seien Sie vorsichtig mit solchen Behauptungen! Seien Sie fair und zitieren Sie das deutsche Gesetzbuch! Polemisieren Sie nicht gegen die, von denen viele sich nicht helfen können, die in einer schwierigen Situation ihres Lebens sind!

    (Beifall bei der SPD)

    Viel sinnvoller wäre es in dieser Frage, den viel zu hohen Eingangssteuersatz von fast 26 Prozent zu senken.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Dieser Eingangssteuersatz ist einfach eine Aufforderung zur Schwarzarbeit und war eine der Fehlentscheidungen Ihrer Regierung in den letzten Jahren.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    Es wäre genauso zu erwägen, ob die bisherige Vorschrift, daß das, was sich ein Sozialhilfeempfänger dazuverdient, ganz auf die Sozialhilfe angerechnet wird, eigentlich wirklich sachgemäß ist oder ob sie nicht vielmehr auch ein Anreiz dazu ist, solche Tätigkeiten überhaupt nicht anzumelden und eben schwarz zu arbeiten. Wäre es nicht ein Reformvorschlag, über den man diskutieren könnte, daß solcher Zusatzverdienst nur teilweise angerechnet wird, um den Sozialhilfeempfängern den Übergang ins Arbeitsleben an dieser Stelle zu ermöglichen und zu erleichtern?

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Zurufe von der F.D.P.: Bravo! Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sie haben es gar nicht gelesen!)

    - Ja, wenn Sie „bravo!" rufen, dann machen wir es doch! Bringen Sie den Gesetzentwurf ein, und wir ziehen es durch!

    (Zurufe von der CDU/CSU: Lesen! Lesen!)

    - Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, daß Sie das jetzt wieder als Absicht bekundet haben.

    (Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Ein solches Gesetz gibt es nicht. Es wäre an der Zeit, dieses Gesetz zu realisieren.
    Der zweite Punkt, den wir ansprechen müssen, ist natürlich die Notwendigkeit, die Kosten im Gesundheitswesen einzudämmen. Aber, meine Damen und Herren, wenn wir die Kosten im Gesundheitswesen eindämmen wollen, bedürfen wir, auch was die Länder- und die Gemeindeseite angeht, einer Gesamtvereinbarung.
    Nachdem jetzt die Wahlen vorüber sind, wäre es an der Zeit, daß es zu einer abgestimmten Gesamtvereinbarung kommt; denn es ist nun einmal so: Man kann diese Kostendämpfung nicht nur im Hinblick auf die Krankenhäuser unter Ausklammerung der ambulanten Versorgung und anderer Teilbereiche regeln. Man muß ein Gesamtpaket vorlegen. Wir sind nach wie vor zur Verabschiedung eines sozial ausgewogenen Gesamtpakets bereit.

    (Beifall bei der SPD)

    Dritter Punkt: Rentenreform. Wir haben bei der Umstellung der Rentenformel von brutto auf netto mitgewirkt, und wir stehen zu dieser Vereinbarung. Wir haben Ihnen ebenfalls gesagt, daß wir bereit sind, beim Vorruhestand eine sachgemäße Lösung zu finden, weil die bisherige Lösung nicht akzeptabel war. Wenn aber jetzt von Ihnen gesagt wird, das, was wir bereits beschlossen haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig, dann müssen Sie verstehen, daß dies keine Grundlage einer sachgemäßen Zusammenarbeit sein kann. Wer den Kompromiß sucht, darf nicht sagen, das, was wir bereits entschieden haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich möchte Ihnen etwas dazu sagen, daß Sie das Renteneintrittsalter anheben wollen. Im Gespräch mit einem Industrieverband wurde das Anheben des Rentenalters für Frauen noch mit der Bemerkung begründet, das sei Gleichberechtigung. Was dieser Industrieverband wie viele in unserer Gesellschaft übersehen hat, ist, daß das reale Renteneintrittsalter der Frauen höher liegt als das der Männer. Von daher ist aus fiskalischen Erwägungen dieser Vorschlag, der wohl im Hause Blüm entwickelt worden ist, durchaus verständlich. Ob das insgesamt der richtige Ansatz ist, ist zumindest im Hinblick auf die Beschäftigungsart und die Entlohnungsart, die gerade bei den Frauen immer noch eine völlige Schieflage hat, zu hinterfragen.
    Aber eines müßte klar sein: Wenn wir auf der einen Seite wollen, daß die Jugendlichen einen Arbeitsplatz finden und nach der Ausbildung auch den Eintritt ins Erwerbsleben finden können, dann ist eine solch rigide Vorgehensweise äußerst problematisch. Wir lösen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht, indem wir die Lebensarbeitszeit für die Älteren verlängern und die Jugendlichen draußen vor der Tür lassen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Deswegen wäre es sinnvoller, darüber zu reden, ob man nicht gleitende Übergänge wählt, wie sie bereits beim Vorruhestand diskutiert worden sind. Ich halte solche Ansätze für sinnvoller als dieses strikte Vorgehen nach den alten Verhaltensmustern, das dann eben zu dem sicherlich auch von Ihnen nicht gewollten Ergebnis führt, daß die Jugendlichen noch größere Probleme haben werden, in Zukunft einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden.
    An dieser Stelle möchte ich Sie auf die Widersprüchlichkeit Ihrer ordnungspolitischen Vorgehensweise aufmerksam machen. Obwohl Sie immer wieder die Subsidiarität hochhalten, obwohl Sie immer wieder sagen: „Was andere tun können, soll der Staat nicht tun", haben Sie jetzt bei der Lohnfortzahlung gesagt: Nachdem die Tarifvertragsparteien das nicht ordentlich hinbekommen, muß der Staat das jetzt machen. - Interessant ist, daß Sie dieselbe Logik nicht bei unserer Jugend anwenden. Da verlassen Sie sich auf freiwillige Zusagen der Wirtschaft, von denen wir wissen, daß sie nicht eingehalten werden. Wenn Sie also springen, dann springen Sie bitte ganz, sonst ist Ihre Ordnungspolitik so im Schleudern, wie das der Finanzwissenschaftler dargestellt hat, den ich zu Beginn zitiert habe. Das ist nicht logisch.

    (Beifall bei der SPD)

    Einfache Zusagen - ich denke dabei insbesondere an die neuen Bundesländer - wie „Wir sind bereit, uns zu bemühen, mehr einzustellen" sind in der gegenwärtigen konjunkturellen Phase so unverbindlich, daß jeder weiß, daß sie genausowenig eingehalten werden wie die Kreditzusagen der privaten Banken zur Finanzierung des Aufbaus im Osten.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Deshalb wäre es sinnvoll, meine Damen und Herren, sich an dieser Stelle weitergehende Schritte zu

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    überlegen. Es ist richtig, daß wir die sozialen Versicherungssysteme sanieren müssen. Es ist aber genauso richtig, daß wir einfach in der Verantwortung stehen, das Vertrauen unserer Jugendlichen in unsere staatliche Organisation und die Gesellschaft zu erhalten. Jugendarbeitslosigkeit muß bekämpft werden, notfalls mit staatlichen Mitteln, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Ein vierter Konsolidierungspunkt, den wir ansprechen müssen, sind die öffentlichen Personalhaushalte. Allerdings, meine Damen und Herren: Wer pauschal Nullrunden fordert, muß zunächst einmal in den Spiegel schauen. Er muß zunächst einmal sagen, was er unter Nullrunden versteht, ob er an einen Inflationsausgleich oder einen Rückgang der Realeinkommen denkt.

    (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Null ist Null!)

    Dann muß er sich die Frage nach der sozialen Ausgewogenheit stellen.
    Daß wir in den öffentlichen Haushalten Konsolidierungsbedarf haben, wird von niemandem bestritten. Wenn wir im Hinblick auf die Besoldung des Bundeskanzlers, der Ministerpräsidenten und aller anderen, die als Beamte in hohen Besoldungsstufen sind, Null sagen und gleichzeitig dasselbe für diejenigen Beamten und Angestellten, die in den niedrigsten Besoldungsstufen bzw. Vergütungsgruppen sind, vorsehen, dann sind wir in unserem Volke nicht glaubwürdig. Deshalb halte ich etwas davon, in dieser Tarifrunde Sockelbeträge ins Auge zu fassen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Im übrigen haben wir seit langem angeboten, bei den Personalkosten im öffentlichen Dienst zwei längerfristig wirkende Strukturreformen zu diskutieren. Ich habe im Bundestag schon mehrfach die Frage der nicht an der Leistung orientierten Regelbeförderung angesprochen und dazu eingeladen, bei den jetzigen Beratungen im Bundesrat darüber zu reden. Wenn wir mehr Leistung in den Verwaltungen wollen, müssen wir über dieses Strukturelement der Besoldung im öffentlichen Dienst sprechen.
    Genauso ergebnislos hat das Saarland seit Jahren vorgeschlagen - ich sage das, weil so oft „Saarland" dazwischengerufen wurde -, den Tatbestand zu korrigieren, daß drastische Verkürzungen der Lebensarbeitszeit etwa bei den Beamten gleichwohl zur vollen Pension führen. Eine solche Entwicklung ist nicht akzeptabel.
    Da Sie in Ihrem Programm zum Beispiel vorschlagen, Zusatzleistungen bei der Krankenhausversorgung jetzt auch bei den Beamten zurückzunehmen, will ich Sie mit etwas vertraut machen: Sowohl die Abschaffung der Ministerialzulage als auch die Abschaffung dieser Zusatzleistungen sind im Saarland schon längst beschlossen und die Abschaffung der Zusatzleistungen auch in Hamburg und in Bremen.
    Es ist gut, wenn Sie dazulernen. Aber glauben Sie ja nicht, daß das, was Sie an Konsoldierungsvorschlägen hier vortragen, andernorts nicht längst in Angriff genommen oder mit größerem Erfolg schon bewältigt worden wäre.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. In der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung kommt alles darauf an, die Zeichen auf mehr Wachstum und Beschäftigung zu stellen. Wenn man mehr Wachstum und Beschäftigung will, dann brauchen wir ein abgestimmtes Vorgehen der Geldpolitik, der Lohnpolitik und der staatlichen Finanz- und der Sozialpolitik. Nach unserer Überzeugung haben Geldpolitik und Lohnpolitik in der jetzigen Phase ihre Aufgaben erledigt. Nach unserer Überzeugung sind Ihre Vorschläge zur Finanzpolitik und zur Sozialpolitik nicht hinnehmbar. Sie verletzen das Gebot der Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Ausgewogenheit.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Zum Gebot der Stetigkeit. Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß wir vor einigen Monaten einen mühsamen Kompromiß beim Kindergeld und bei der Freistellung niedriger Einkommen von den Steuern gefunden haben, um ihn nach wenigen Monaten wieder in Frage zu stellen? Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln - so ist nun wirklich keine stetige Finanzpolitik für unseren Staat zu machen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Sie monatelang die Förderung der Abschaffung der privaten Vermögensteuer vorgeschlagen haben in einer Zeit, in der Sie bei Sozialhilfeempfängern, Rentnern, Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe kürzen wollen und die Arbeitnehmer immer stärker belasten wollen? Wer solche Vorschläge monatelang vorträgt, der läßt jedes Empfinden für soziale Gerechtigkeit vermissen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wir werden daher die sich jetzt abzeichnende Korrektur, die Sie vorschlagen und die wir anerkennen, sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt und auf die konkreten Vorschläge hin prüfen.
    Eines möchte ich zum Schluß sagen: Bitte glauben Sie uns, es geht nicht nur um die Frage der richtigen Vorschläge in der Finanzpolitik und in der Steuerpolitik und der richtigen Vorschläge, um mehr Innovationen und Wachstum in unserer Gesellschaft durchzusetzen. Es geht vielmehr um einen Kernbestand unserer Nachkriegsgesellschaft. Dieser Kernbestand waren der Sozialstaat und die soziale Gerechtigkeit. Bitte zerstören Sie nicht mutwillig diesen Konsens unserer Nachkriegsgesellschaft! Ein solches Vorgehen wird sich bitter rächen und am Ende zu mehr Ar-

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    beitslosigkeit und zu höherer Staatsverschuldung führen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Heuchelei!)