Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 5 Millionen Arbeitsplätze fehlen in Deutschland nach dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung. Diese Zahl von 5 Millionen Arbeitsplätzen kann man durchaus hinterfragen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten halten fest an dem Ziel der gleichberechtigten Teilnahme der Frauen in Beruf und Gesellschaft.
Wenn man an diesem Ziel festhält, meine Damen und Herren, und wenn man die Entwicklung der Frauenerwerbsquote in der letzten Zeit berücksichtigt, dann ist die Zahl 5 Millionen noch zu gering angesetzt. Daher weise ich darauf hin, daß wir auf der einen Seite nicht immer wieder die Teilhabe der Frauen an Beruf und Gesellschaft fordern können, auf der anderen Seite bei den Zahlen, die wir veröffentlichen, diesem Ziel nicht Rechnung tragen.
Für uns, meine Damen und Herren, ist diese Feststellung eine große Herausforderung an Politik und Gesellschaft. Denn es wirft die Frage auf, wie wir eigentlich zusammenleben wollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können uns mit einer solchen Entwicklung unserer Gesellschaft nicht abfinden.
Für uns bedeutet eine soziale Demokratie, die wir anstreben, Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben und daher auch Teilhabe aller Menschen an der Erwerbsarbeit, soweit sie dies wünschen. Dies ist und bleibt Ziel unserer Politik.
Nun könnte der eine oder andere in der Debatte versucht sein, darauf hinzuweisen, daß wir auch in anderen Staaten Probleme des Arbeitsmarktes haben. Aber, meine Damen und Herren, ich verweise auf die Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Bis in die Jahre 1982 und 1983 - man beachte das Datum - waren die Arbeitslosenquoten in den Vereinigten Staaten in der Regel deutlich höher als in Deutschland.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Erst ab den Jahren 1982/83 begann sich diese Entwicklung entscheidend zu verändern. Seit dieser Zeit ist die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten niedriger geworden; sie ist jetzt teilweise deutlich niedriger als in der Bundesrepublik.
Deshalb sagen wir: 5 Millionen Arbeitsplätze, die fehlen, sind der Offenbarungseid einer Regierung, die 13 Jahre lang vergeblich versucht hat, die Arbeitslosigkeit in diesem Land zu bekämpfen.
5 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind der Beweis, daß Ihre Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik in den letzen Jahren gescheitert ist.
In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht stellen Sie fest: Die drückende Steuer- und Abgabenlast, die hohe Staatsquote und vielfältige bürokratische Hemmnisse engen den Spielraum für private Leistungen und Investitionen ein. Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben ja recht! Aber wer hat denn in diesen 13 Jahren regiert? Wer trägt denn die Verantwortung für diese Entwicklung?
Viele Mitbürger sorgen sich in diesem Augenblick um ihre Arbeitsplätze, sorgen sich um den Frieden, und sie bangen um ihre Zukunft. Ihre Sorgen sind auch meine Sorgen. Wir sollen und können diese Probleme meistern. Ich wiederhole: Wir sollen und können diese Probleme meistern!
Meine größte Sorge sind die jugendlichen Arbeitslosen ... Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland darf es nicht zulassen, so viele junge Menschen nach der Schule auf die Straße zu entlassen.
So Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner ersten Neujahrsansprache am 31. Dezember 1982.
In der letzten Neujahrsansprache hieß es wiederum:
Unsere Hauptsorge gilt daher dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Wir müssen uns anstrengen, um bestehende Arbeitsplätze zu erhalten. Und wir müssen uns anstrengen, um neue, zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen.
So Ihre Worte am 31. Dezember 1995. Ist es bei dieser Entwicklung, Herr Bundeskanzler, so überraschend, daß Ihre Neujahrsansprachen schon einmal verwechselt wurden und falsche Kassetten eingelegt worden sind?
Millionenfache Arbeitslosigkeit, die höchste Steuer- und Abgabenquote, die es jemals in dieser Republik gab, eine Finanzkrise der sozialen Sicherungssysteme und die Verantwortung für ein strukturelles Staatsdefizit: Das ist die Bilanz nach 13 Jahren Regierung Kohl. Meine Damen und Herren, da gibt es nichts zu lachen. Bei einer solchen Arbeitslosigkeit denken Sie bitte an die Menschen, die uns draußen zuhören.
Denken Sie bitte an die jungen Menschen, die den Zugang zum Erwerbsleben suchen und die auf Antworten warten. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung. Gehen Sie nicht so läppisch an diese Fragen heran. Arbeitslosigkeit ist nach unserem Verständnis ein Anschlag auf die Menschenwürde, und Sie sollten das genauso begreifen.
Als Sie vor 13 Jahren, Herr Bundeskanzler Kohl, Bundeskanzler Helmut Schmidt ablösten, sagten Sie: „Ihre Regierungszeit ist die Regierungszeit der Schulden und der Arbeitslosen. "
Ich wiederhole: Sie sagten vor 13 Jahren: „Ihre Regierungszeit ist die Regierungszeit der Schulden und der Arbeitslosen. "
Bei 4 Millionen Arbeitslosen und bei Staatsschulden von 2 Billionen DM - Entwicklungen, die damals niemand für möglich gehalten hätte -: Kommen Sie sich angesichts Ihres damaligen Urteils heute nicht merkwürdig vor, Herr Bundeskanzler? Wäre es nicht an der Zeit, sich einmal bei Helmut Schmidt zu entschuldigen?
Denn, Herr Bundeskanzler, Sie können doch von seinen Arbeitslosenzahlen und von seiner Staatsverschuldung nur träumen.
Sie haben sich maßlos überhoben. Wenn Sie Ihre eigenen Maßstäbe für sich selbst gelten lassen würden: Wo wären Sie dann eigentlich heute, Herr Bundeskanzler?
Meine Damen und Herren, in dieser schwierigen Situation, die unsere gesamte Gesellschaft herausfordert, haben die Gewerkschaften ein „Bündnis für Arbeit" angeboten. Besonders dem IG Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel ist unsere gesamte Gesell-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
schaft zum Dank verpflichtet, daß er von seiten einer großen Industriegewerkschaft diesen Schritt unternommen hat und angeboten hat, von seiten dieser Gewerkschaft die Arbeitslosigkeit in diesem Lande zu bekämpfen.
Sie sind scheinbar auf dieses Angebot eingegangen. Sie haben eine ganze Reihe von Gesprächen geführt, und dann kamen Sie zu dem Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze im Jahre 1996, das jetzt schon auf entsprechende Reaktionen in der Öffentlichkeit stößt und das jetzt schon von seiten der Gewerkschaften als Rückfall in alte ideologische Vorstellungen qualifiziert wird.
Meine Damen und Herren, ich erinnere daran: Vor zwei Jahren hatten Sie schon einmal dasselbe Aktionsprogramm vorgetragen. Es hieß: Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung im Jahre 1994. Es war praktisch dasselbe Programm, und es hat zu nichts geführt. Es konnte nicht verhindern, daß die Arbeitslosigkeit weiter angestiegen ist. Sie glauben ja selbst nicht mehr an Ihre Programme, weil Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht feststellen: Die Arbeitslosigkeit wird in diesem Jahre um 250 000 bis 300 0000 weiterhin ansteigen. Sie glauben selbst nicht mehr an die Wirksamkeit Ihrer Programme.
Die Rezepte, die Sie vorstellen, sind immer wieder dieselben - seit Jahren sind sie dieselben -: Unternehmensteuersenkung, Lohnzurückhaltung, Sozialabbau und, was fatal ist: Der Umweltschutz wird immer noch als ein Politikbereich begriffen, der im Grunde genommen der wirtschaftlichen Entwicklung schadet und Arbeitsplätze kostet. Da ist es auch verständlich, daß in Ihrem Programm vom Umweltschutz überhaupt nicht die Rede ist, so, als hätten wir die Debatte der letzten zwei Jahrzehnte umsonst geführt; ein merkwürdiger Vorgang, meine Damen und Herren.
Aber ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie von Neujahrsansprache zu Neujahrsansprache sagen, Sie wollen gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen, und das schon 13 Jahre lang, wenn Sie im Jahr 1994 praktisch ein Programm vorgelegt haben, das zu nichts geführt hat und das Sie jetzt im Jahr 1996 mit etwas anderem Firnis wieder neu auflegen,
dann müssen Sie doch irgendwann einmal zu dem Ergebnis kommen, daß Ihre Politik gescheitert ist und daß Sie sie ändern müssen. Meine Damen und Herren, Sie müssen sie ändern!
13 Jahre lang setzten Sie immer auf dasselbe Rezept: Unternehmensteuersenkung, Lohnzurückhaltung, Sozialabbau, und Umweltschutz schaden der Wirtschaft. 13 Jahre sind Sie mit dieser Politik gescheitert. Sind Sie denn lernunfähig geworden?
Es wäre an der Zeit, daß Sie Ihre Politik ändern; sonst werden Sie immer dieselben Ansprachen halten und immer dieselben Ergebnisse vorweisen.
Im übrigen hat Ihnen gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung " James Tobin noch einmal vorgehalten, daß man auch die makroökonomischen Bedingungen justieren muß, daß man stets auf Wechselkurse und auf Zinsen achten muß. Aber was stört schon das Urteil eines Nobelpreisträgers der Ökonomie!
Meine Damen und Herren, ich wiederhole hier, was Ihnen Rudolf Scharping schon zu Beginn dieses Jahres gesagt hat:
Sie können noch soviel Lohnzurückhaltung predigen: Wenn Sie auf Grund Ihrer Verantwortung in Europa nicht in der Lage waren, das Chaos der Wechselkurse zu verhindern, dann haben Sie Mitverantwortung dafür, daß Hunderttausende von Arbeitsplätzen verlorengegangen sind.
Meine Damen und Herren, eine Zinspolitik, die zu langsam und zu spät reagiert - ich zitiere hier den amerikanischen Nobelpreisträger -, verursacht natürlich ebenfalls Arbeitsplatzverluste, weil sie Investitionen nicht fördert, und alle Analysen zeigen, daß es an der Investitionsdynamik fehlt.
Bei den Rezepten, die Sie anbieten, gehen Sie ungleichgewichtig vor, und deshalb sind sie zum Scheitern verurteilt. Wir sagen, es war falsch, in den vergangenen Jahren immer wieder Unternehmensteuersenkungen in einer Art und Weise, wie Sie das jetzt auch wiederum vorhaben, durchzuführen, durch die kapitalstarke Großbetriebe entlastet worden sind, während viel zuwenig für Handwerk und Mittelstand getan worden ist.
Die finanziellen Spielräume, die wir hatten, wären doch viel, viel besser dafür einzusetzen gewesen, um die gesetzlichen Lohnnebenkosten zu senken.
Wir wollen das in diesem Jahre tun, und wir bieten Ihnen an, zügig die Entscheidungen dafür zu treffen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Es hat doch keinen Sinn, daß Sie in Sonntagsreden immer wieder von der Notwendigkeit des Absenkens der gesetzlichen Lohnnebenkosten reden, und in Wirklichkeit steigen permanent die Beitragssätze. Gerade auch bei den Rentenbeiträgen ist es doch geradezu ein Jammerspiel, daß Sie praktisch von Monat zu Monat Ihre Prognosen korrigieren müssen und auch das Vertrauen bei der älteren Generation verspielen.
Wenn man die Lohnnebenkosten senken will, muß man drei Ansätze verfolgen.
Erstens. Es muß endlich aufhören, daß die Sozialkassen geplündert und mit fremden Leistungen befrachtet werden, die da nicht hingehören.
Das ist Betrug an den Beitragszahlern in die sozialen Versicherungskassen. Sie dürfen nicht ständig mit sachfremden Leistungen belastet werden.
Zweitens. Natürlich müssen die sozialen Leistungen insgesamt zielgenau justiert werden. Wir haben in der Vergangenheit bei der Rentenformel, beim Kostendämpfungsgesetz, bei der Begrenzung der Sozialausgaben entsprechende Vereinbarungen getroffen, und wir bieten Ihnen hier auch an, beim Vorruhestand eine Lösung zu suchen, weil es unerträglich ist, daß sich einzelne Betriebe zu Lasten der Allgemeinheit in dieser Form entlasten, wie das in den vergangenen Jahren geschehen ist. Dies ist unerträglich und nicht hinnehmbar.
Aber es ist möglich, die Entlastung der Lohnnebenkosten mit anderen steuerreformerischen Notwendigkeiten zu verbinden. Daher bedauern wir - Stichwort: Umweltschutz -, daß Sie nicht bereit waren, die Entlastung der Lohnnebenkosten mit dem ökologischen Umbau unseres Steuer- und Abgabensystems zu verbinden,
obwohl alle Wirtschaftsinstitute mehr oder weniger klar sagen: Die Entlastung der Lohnnebenkosten schafft Arbeitsplätze, und der ökologische Umbau schafft auch Arbeitsplätze. Warum greifen Sie die Vorschläge wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Institute an dieser Stelle nicht auf?
Drittens. Ihre Steuerpolitik setzt auf Umverteilung. Was ist jetzt wieder im Schwange? Sie reden davon, daß die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft werden soll. Dabei wird verschwiegen - Herr Kollege Solms, das ist wirklich nicht zum Lachen -, daß Sie gleichzeitig die Investitionsbedingungen verschlechtern wollen. Das wäre in dieser Situation doch Gift für die Konjunktur. Wenn Sie nicht auf uns hören wollen, dann hören Sie doch bitte auf die Fachkommentare der gesamten deutschen Presse: Eine Verschlechterung in den Abschreibungsbedingungen zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer wäre in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation nun wirklich die Faust aufs Auge.
Sie versäumen es endlich, den Steuertarif richtig zu justieren. Die Bareis-Kommission hat entsprechende Vorschläge gemacht, und vor einiger Zeit kursierten Berichte, daß Sie darauf eingehen würden. Ich habe in zwei Verhandlungen mit dem Bundesfinanzminister angeboten, über Steuersubventionsabbau zu reden und insbesondere die Vorschläge der Bareis-Kommission aufzugreifen. Meine Damen und Herren, Sie sind dazu schlicht und einfach nicht fähig. Wenn Sie dieses Problem jetzt auf das Jahr 2000 verschieben wollen, dann wird das nicht unsere Zustimmung finden. Steuergerechtigkeit ist jetzt notwendig, nicht im Jahre 2000!
Der Gipfel Ihrer Politik ist das, was Sie sich mit dem Solidaritätszuschlag geleistet haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist wirklich ein starkes Stück. Da wird seit langer Zeit vorgetragen, die F.D.P. wünscht, den Solidaritätszuschlag schnell abzubauen. Wer wollte das nicht? Da sagt der Finanzminister: Die Haushaltslage gibt das nicht her. Und dann kommen Sie auf eine merkwürdige Art und Weise, Steuerpolitik zu machen; aber das ist ja bezeichnend für Sie. Sie sagen: Jawohl, wir bauen ab; seht her, wie lobenswert wir uns benehmen! Voraussetzung ist, die Länder bezahlen es. Auf diese Art und Weise kann natürlich der Dümmste Steuerpolitik betreiben.
Nur nimmt Ihnen das in Deutschland niemand mehr ab. Wenn Sie irgendwo jedes Vertrauen und jeden Kredit vespielt haben, meine Damen und Herren, dann in der Steuer- und Abgabenpolitik, weil der Wahrheitsgehalt Ihrer Aussagen allenfalls einen Monat lang anhält und dann von Ihnen selbst widerlegt wird.
Ich sagte, ein schwerer Fehler Ihres „Bündnisses für Arbeit" ist, daß Sie den Umweltschutz völlig vernachlässigen. Deswegen bleiben wir Sozialdemokraten bei einer anderen Politik. Ich sagte, wir müssen die Politik ändern. Jawohl, wir haben eine Vision: Wir wollen die Energiewende schaffen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
- Wenn das Wort bei Ihnen Heiterkeit aus-
löst, ist das ein schlimmer Zustand, meine Damen und Herren.
Sie haben noch die klägliche Hoffnung, Sie könnten sich an der Macht halten. Aber das ist keine Vision. Wir wollen Visionen haben, wie wir die Arbeitslosigkeit in diesem Lande abbauen können. Die Energiewende ist eine solche. Wir halten daran fest: Wir wollen die Brücke ins Solarzeitalter bauen. Wir glauben, daß dies ein Programm für Wachstum, Beschäftigung und mehr Umweltschutz ist.
Der vierte Punkt, der ungelöst ist und den Sie nicht lösen wollen, ist die Gemeindefinanzreform. Meine Damen und Herren, was sich bei den Gemeinden abspielt, scheinen Sie überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist unerträglich, daß der Aufbau Ost auch dadurch gebremst wird, daß die Altschuldenproblematik bei den Gemeinden im Osten überhaupt nicht gelöst wird.
Sie können in den Pressemitteilungen von gestern nachlesen, daß die Investitionen in allen Gemeinden wirklich einbrechen; das ist doch ein Alarmsignal. Da wäre es doch an der Zeit, daß man sich auch die Gemeindefinanzen einmal näher ansieht. Hier haben Sie ein schweres strukturpolitisches Versäumnis begangen: Sie haben die Kosten der Arbeitslosigkeit auf die Gemeinden geschoben und sie damit investitionsunfähig gemacht.
Dies ist allerdings ein schweres strukturelles Versäumnis; denn ein wichtiger Bestandteil unserer Verfassung, die wir uns nach dem Kriege gegeben haben, waren freie Gemeinden. Freie Gemeinden brauchen Finanzautonomie. Deshalb sage ich Ihnen: Verspielen Sie nicht, was jahrzehntelang gewachsen ist. Wir brauchen freie Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland, und wir brauchen die Wiederherstellung der finanziellen Autonomie unserer Gemeinden, wie das im gesamten Deutschland gefordert wird.
Ihr größtes Versäumnis, Herr Bundeskanzler, ist die Arbeitsmarktpolitik. Jahrelang haben Sie geglaubt, Arbeitszeitverlängerungen seien ein Rezept, um die Probleme des Arbeitsmarktes zu lösen. Sie haben gar nicht erkannt, daß das Angebot, Arbeitszeit zu verkürzen, etwas mit Solidarität, mit Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft zu tun hat.
- Ja, daß Sie als christlicher Pfarrer auch noch lachen, das zeigt nun, daß Sie überhaupt nichts begriffen haben. Wir schenken Ihnen einmal eine Bibel, in der Sie nachlesen können, worum es da eigentlich geht.
Sie haben völlig verkannt, daß es hier um einen solidarischen Ansatz in unserer Gesellschaft geht, und daher ist Ihr Wort, daß Arbeitszeitverkürzung dumm, töricht und absurd sei, nach wie vor ein Beleg dafür, daß Sie jahrelang falsch gesteuert haben. Auch das Wort vom Freizeitpark Deutschland klingt allen Arbeitslosen in dieser Republik immer noch in den Ohren und war blanker Zynismus.
Sie haben jetzt die Möglichkeit, beim Entsendegesetz im Vermittlungsausschuß unseren Vorstellungen entgegenzukommen. Ich muß Ihnen hier noch einmal sagen: Es ist für Arbeitnehmer, die jahrelang gearbeitet haben, die 50 Jahre und älter sind, nicht hinzunehmen, daß ihnen mit Billiglöhnen zu 6 bis 8 DM ihre Arbeitsplätze wegkonkurriert werden. Wir sind hier in der Verantwortung; Sie haben ein jämmerliches Gesetz vorgelegt; das ist eine Schande für Deutschland und in bezug auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, ich zitiere: Eigenverantwortung, Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit
bleiben unentbehrlich für eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht; und nur so
- nur so! -
können wir auch die wirtschaftlichen Probleme ... meistern.
Das sagte Helmut Kohl in der bereits zitierten Neujahrsansprache zu Beginn seiner Amtszeit: „Eigenverantwortung, Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit".
Auf die Eigenverantwortung, meine Damen und Herren, haben Sie in ausreichendem Maße gesetzt. Dies können wir nicht bestreiten. Aber ob Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit in Ihrer dreizehnjährigen Regierungszeit nicht zu kurz gekommen sind, diese Frage wird jetzt überall in Deutschland gestellt.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wer beispielsweise Arbeitszeitverkürzung nicht als eine Aktion von Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit begreift, der hat eben nicht erfaßt, was jetzt in dieser Gesellschaft notwendig ist.
Wer vom Freizeitpark Deutschland spricht, hat eine Sprache, die in dieser Gesellschaft nicht verstanden wird, und wer, statt Worte der Mitmenschlichkeit für die Arbeitslosen zu äußern, von einer neuen Kultur der Selbständigkeit spricht, der hat nicht begriffen, worum es in diesen Tagen in unserer Gesellschaft geht.
Anscheinend haben Sie diesen Ihren eigenen Anspruch in die Tat umzusetzen versäumt. Nach der deutschen Vereinigung haben Sie es versäumt, an Gemeinsinn, Mitmenschlichkeit und Solidarität zu appellieren. Sie haben vielmehr in völlig fahrlässiger Weise allen versprochen, es gehe ohne Gemeinsinn, es gehe ohne Mitmenschlichkeit, niemandem werde es schlechter gehen, vielen aber besser; Steuern und Abgabenerhöhungen seien sowieso nicht notwendig. Dies war Ihr historischer Fehler bei der deutschen Vereinigung, meine Damen und Herren.
Deswegen ist es auch gar kein Wunder, daß Sie bei Steuersenkungen - wer wäre nicht dafür? - mit dem Abbau des Solidaritätszuschlags beginnen. Wer Solidarität in den letzten 13 Jahren immer wieder abgebaut hat, für den ist es eigentlich nur konsequent, daß er beim Abbau des Solidaritätszuschlages beginnt.
Wie wird das eigentlich in unserer Gesellschaft aufgenommen? Ich sage Ihnen eines, meine Damen und Herren: Ihre Regierung ist strukturell unfähig, die jetzt anstehenden Probleme Deutschlands zu lösen.
Sie ist deshalb strukturell unfähig, weil sie sich zusammensetzt aus einer Regionalpartei, die im Zweifel „pro Bavaria" sagt, und aus einer F.D.P., die, nachdem sie das Vermögen im Osten kassiert hat, im Osten nicht mehr vertreten ist und jetzt glaubt, auf diese Art und Weise mit der Bevölkerung im Osten Deutschlands umspringen zu können.
Sie sind eine Regierung, die sich zusammensetzt aus
einer Regionalpartei und einer Westpartei, die nur
noch an die eigene Klientel denkt und daran, wie sie mit Versprechungen diese eigene Klientel bei der Stange halten kann. Eine solche Regierung ist unfähig, die Probleme Deutschlands zu lösen.
Seit Ludwig Erhard, so sagte Helmut Kohl am Beginn seiner Regierungszeit, wissen wir, daß in einer modernen, freien Volkswirtschaft Vertrauen in die Regierenden wichtigste Voraussetzung für eine positive Entwicklung der Wirtschaft ist. - Recht hatten Sie, meine Damen und Herren! Aber nachdem Sie nun 13 Jahre lang erzählt haben, daß die Arbeitslosigkeit sinken müsse, nachdem Sie 13 Jahre den ständigen Anstieg der Arbeitslosigkeit mitzuverantworten haben, nachdem Sie 13 Jahre zwar auf Eigenverantwortung gesetzt, aber Mitmenschlichkeit und Solidarität vergessen haben und mit dem Abbau der Solidarität beschäftigt sind, haben Sie das Vertrauen unserer Bevölkerung verspielt und sind nicht mehr in der Lage, die Probleme Deutschlands zu lösen.