Rede von
Dr.
Uwe-Jens
Heuer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung vorweg: Die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter, ist für mich ein wesentlicher Vorzug des Staates Bundesrepublik gegenüber dem Staat DDR.
Die Instrumentalisierung des Rechts und der Justiz für politische Zwecke war zweifellos der Hauptmangel der Rechtsordnung der DDR. Ich muß aber mit Sorge feststellen, daß in den fünf Jahren, die ich im Bundestag verbracht habe, zunehmend Versuche gemacht worden sind, auch hier die Justiz zu instrumentalisieren und die erreichten rechtsstaatlichen Standards auf manchen Feldern der Rechtspflege abzubauen.
Ich trete gegen die in den letzten Monaten von konservativer Seite geübte und jetzt wieder anschwellende heftige Schelte des Bundesverfassungsgerichts nicht in erster Linie deshalb ein, weil mir die gescholtenen Urteile gefallen, sondern weil ich um die Gewaltenteilung fürchte, deren Einebnung immer vorrangig der Exekutive nutzt.
Ich stimme dem, was Herr Weißgerber und vor allem Herr Beck gesagt haben, zu. Ich möchte auch Herrn Kleinert darauf hinweisen, daß allein die These, daß man lange Traditionen auf diesem Gebiet hat, jemanden nicht berechtigt, heute von diesen Traditionen abzuweichen.
Tucholskys Formulierung „Soldaten sind Mörder" war nicht grob oder rüpelhaft. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Vielmehr entstammte sie einer tiefen Besorgnis vor dem deutschen Militarismus.
Ich will die Problematik des schwierigen Wechselverhältnisses von Politik und Justiz im bürgerlichen Rechtsstaat an einem aktuellen politisch-juristischen Problem erläutern. Zu den Versuchen, die Gerichte zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren, gehört auch die politische Strafverfolgung von Ostdeutschen.
Die heutige Haushaltsdebatte findet nur wenige Tage vor dem ersten Verhandlungstag der 27. Strafkammer des Landgerichts Berlin gegen Egon Krenz und andere Mitglieder des Politbüros der SED „wegen Totschlags und anderem" statt. Diese Verhandlung wird wohl zum Höhepunkt der juristischen Abrechnung der Bundesrepublik mit der untergegangenen DDR und zugleich zum Höhepunkt bei der Verletzung zwingenden Völker- und Verfassungsrechts sowie der rückwirkenden Umdeutung, Verbiegung und Verletzung des DDR-Strafrechts führen.
Ich nutze den Anlaß der heutigen Debatte, weil über den Einzelfall dieser Hauptverhandlung hinaus diese Verfahren gegen ehemalige Hoheitsträger der DDR bedeutsam sind, weil ihre Fortführung nach meiner Ansicht die Rechtskultur in diesem Lande dauerhaft zu beschädigen droht.
Es fing alles ganz harmlos an: Der Einigungsvertrag regelte — rechtsstaatlich korrekt —, daß nur die nach dem Recht der DDR am 2. Oktober 1990 bestehenden Strafansprüche mit dem Beitritt der DDR auf die Bundesrepublik übergehen. Das entsprach dem Völkerrecht, den rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 des Grundgesetzes. Wäre es dabei geblieben, wäre eine Verfolgung von DDR-Hoheitsträgern nur in wenigen Ausnahmefällen möglich gewesen.
Das war aber der politischen Führung der Bundesrepublik offenbar nicht genug. Jedenfalls formulierte der damalige Justizminister Klaus Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag die Forderung, es müsse der Justiz gelingen, die DDR zu delegitimieren. Kinkel hat dort übrigens auch an die politische Treuepflicht der Richter erinnert. Damit war der Justiz eine Aufgabe gestellt, die sie nur unter Verletzung oder Umgehung geltenden Rechts bzw. von Eingriffen in rechtsstaatliche Errungenschaften in Angriff nehmen konnte. Ich erinnere an die Ruhensregelung zur Verjährung, die wir hier
Dr. Uwe-Jens Heuer
beschlossen haben, und an die Verjährungsverlängerung, die in einem unbeschreiblichen Tempo durch den Bundestag gepeitscht wurde.
Der Einigungsvertrag durfte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht ändern, und er hat dies auch nicht getan. Daher ist auch nach dem Völkerrecht strikt zu beachten, daß die DDR mit der vertraglichen Einführung des § 315a in das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch nur die Befugnis auf die Bundesrepublik übertragen wurde, diejenigen Handlungen zu bestrafen, die in der DDR tatsächlich verfolgt worden sind oder verfolgt worden wären.
Obwohl die Volkskammer der DDR am 1. Juli 1990 das Strafrecht umfassend änderte, hat sie natürlich nicht das pflichtgemäße Handeln ihrer Hoheitsträger unter Strafe gestellt. Der Bundesgerichtshof hat unter Bezugnahme auf die Radbruchsche Formel erklärt, die Schußwaffengebrauchsbestimmung des § 27 des Grenzgesetzes der DDR sei kein geltendes Recht gewesen. Uwe Wesel hat dies am 13. Oktober 1995 in der „Zeit" zutreffend als eine „heikle Geschichte" bezeichnet und darauf hingewiesen, daß die überwiegende Meinung der deutschen Staatsrechtler die ist, daß diese Urteile verfassungswidrig sind.
Ich komme nun zum Prozeß gegen Egon Krenz und andere. Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin hat 1 550 Seiten für eine Anklage gebraucht. Sie hat dabei beispielsweise den Art. 7 der DDR-Verfassung übersehen: „Die Staatsorgane gewährleisten die territoriale Integrität der Deutschen Demokratischen Republik und die Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenze."
Allerdings ist die Anklageschrift in einem Punkt bemerkenswert. Meines Wissens werden in ihr zum erstenmal die ökonomischen und politischen Umstände behandelt, die zur Absperrung der Grenze 1961 und zur Aufrechterhaltung dieser Absperrung geführt haben. Die Anklageschrift räumt ein, daß die Grenzschließung angesichts des existenzbedrohenden Auswanderungsstroms Ausdruck eines „Staatsnotstandes" gewesen sei. Sie behauptet dann allerdings, daß bei Abwägung der betroffenen Rechtsgüter „Leben der fluchtwilligen DDR-Bürger" einerseits und „Selbsterhaltungsrecht" der DDR andererseits der Schutz des Lebens eindeutig Vorrang vor dem Selbsterhaltungsinteresse des Staates genossen habe.
Wenn sich diese Ansicht der Staatsanwaltschaft in der Rechtsprechung durchsetzen sollte und wenn dies als allgemeiner Rechtssatz und nicht nur wieder rückwirkend für die DDR gelten sollte, dann stellen sich interessante Fragen. Beispielsweise käme auch die Bundesregierung in Schwierigkeiten. Schließlich nimmt sie, wenn sie Bundeswehrsoldaten zu „out of area" -Einsätzen entsendet, deren Tod oder Verwundung und den Tod anderer billigend in Kauf. Wenn nicht einmal das Selbsterhaltungsinteresse eines Staates dies rechtfertigen würde, welches höherrangige Rechtsgut erlaubt dann diese billigende Inkaufnahme des Todes von Bundeswehrsoldaten?
Ich sage mit allem Nachdruck, daß die politische Führung der DDR nicht genügend für die Beseitigung dieses „Staatsnotstandes" und seiner für viele Menschen schlimmen Konsequenzen getan hat. Einmal entstanden, stand die Mauer nicht mehr zur Disposition, weil die notwendige Reform, die sie hätte überflüssig machen können, ausblieb.
Diese historisch-politische Delegitimierung der Mauer berührt aber nicht die zweifelhaften Rechtsgrundlagen der heutigen Strafverfolgung. Es handelt sich in diesen Fällen in meinen Augen um politische Justiz. Ihr Dilemma besteht darin, daß politische Ziele mit juristischen Mitteln so durchgesetzt werden sollen, daß diese Ziele verborgen bleiben. Das Verfahren soll als juristisches Verfahren die politische Intention unkenntlich machen und zugleich legitimieren. Das ist im Rechtsstaat ihr Problem.
Otto Kirchheimer hat in seinem Buch „Politische Justiz" 1965 geschrieben:
Daran, daß jemand zwischen politischen und anderen Delikten keinen Unterschied sieht, kann man mit Sicherheit erkennen, daß er ein Hitzkopf oder ein Dummkopf ist.
Die Politik der Bundesregierung hat die Justiz in diese Sackgasse hineingeführt. Sie muß sie auch wieder herausführen, indem sie durch ein Schlußgesetz, durch ein Strafverfolgungsbeendigungsgesetz, wie es die PDS hier vor kurzem eingebracht hat, die politische Strafverfolgung in Ostdeutschland beendet.
Noch ein allgemeines Wort zur Haltung der Exekutive zur Justiz dieses Landes. Der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Kinkel, hat sich gestern in die von der CSU angeführte Reihe der Kritiker der Justiz mit den Worten „Unsere Soldaten sind kein Freiwild für Verhöhnung" eingereiht. Ich weiß nicht, was ihn dazu treibt, sich auch noch zum Verteidigungsminister, besser: zum Weltpolizeiminister machen zu wollen. Ich denke aber, daß es heute eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Bundesjustizministerin wäre, hier etwas aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht geradezurücken.