Rede von
Dr.
Helmut
Kohl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich zu Beginn meiner Ausführungen auch namens der Bundesregierung noch ein kurzes Wort zur Ermordung von Premierminister Rabin sage.
Wir alle in Deutschland sind tief erschüttert über den Tod, die Ermordung von Yitzhak Rabin. Ich will die Gelegenheit nutzen - wie ich das auch in Jerusalem tun durfte -, vor allem seiner Frau, seinen Kindern, seinen Enkeln, seiner ganzen Familie unser herzliches Beileid zu übermitteln.
In diesen Tagen - es wird vielen so ergangen sein wie mir - hielten wir inne und überlegten, was es bedeutet, daß ein solches Leben - gelebter Patriotismus seit Kindertagen - durch diese barbarische Tat ausgelöscht wurde. Er war ein Mann, der ein ganzes Leben seinem Land in vielen Funktionen - als ganz junger Soldat, als Chef der israelischen Armee, als ein wichtiger diplomatischer Vertreter seines Landes wie auch als aktives Mitglied seiner Regierung, zum Schluß als Regierungschef - immer und zu jeder Zeit gedient hat. Ein solches Leben ist beispielhaft auch weit über Israel hinaus. Er war ein Mann, der dienen konnte, der Maßstäbe setzte und der in diesen Tagen zu Recht - ungeachtet der Tatsache, ob man mit jeder seiner politischen Entscheidungen einverstanden war oder nicht - zu den ganz großen Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts gezählt wird.
Ich will ihm auch von dieser Stelle aus noch einmal danken: für freundschaftliche, kameradschaftliche Begegnungen, für die Fähigkeit, auch in schwierigen Zeiten schwierigste Fragen ganz offen miteinander zu besprechen, für ein weites Herz gegenüber unserem Volk, gegenüber den Deutschen, die seinem Volk so viel angetan haben. Er kannte die Geschichte und vergaß nicht, war aber fähig, aus der Geschichte heraus Zukunft zu entwickeln. Manche, die hier im Saal sind, waren dabei, als wir im Sommer am letzten Abend unseres Besuches im Garten seines Hauses nicht nur gemeinsam Lieder sangen, sondern ins 21. Jahrhundert zu schauen versuchten.
Ich empfand - das wird Ihnen ähnlich gegangen sein -, daß die Trauerfeier am vergangenen Montag nicht nur die Sympathie und die Anteilnahme der ganzen Welt auf sich zog, sondern daß sie auch eine innere Kraft des jüdischen Volkes, des israelischen Volkes zeigte, die bewundernswert ist. Wir wünschen uns, daß diese Kraft erhalten bleibt.
Meine Damen und Herren, auch das will ich sagen: Wir wünschen uns vor allem, daß die israelische Regierung, das israelische Parlament und, wie ich hoffe, die große Mehrheit des israelischen Volkes auch nach diesem feigen Mord den Weg des Friedens weitergeht. Yitzhak Rabin hatte recht: Es gibt keine Alternative zu diesem Weg. Wir, die Bundesrepublik Deutschland - ich denke, darin sind wir uns alle einig - werden auch als Teil der Europäischen Union und in allen internationalen Organisationen unseren Beitrag leisten.
Ich erinnere mich an ein Gespräch in diesem Sommer im Jordantal mit dem jetzigen israelischen Ministerpräsidenten, mit Yitzhak Rabin und dem König von Jordanien, bei dem wir uns einig waren, daß es eigentlich eine Schande wäre, wenn es den Menschen guten Willens nicht gelänge, in einer Region, in der drei Weltreligionen ihren Ursprung haben - der Islam, das Judentum und das Christentum -, zu einem Werk des Friedens zu kommen, jetzt und für künftige Generationen.
Ich will noch einmal namens der Bundesregierung sagen: Wir, die Deutschen, wollen dabei helfen.
Meine Damen und Herren, ich habe gezögert, ans Pult zu gehen; denn in meinen jetzt 36 Jahren parlamentarischer Erfahrung habe ich gelernt, daß - so war es im Landtag in Mainz, und so war es in den über 40 Jahren auch hier immer - die Generalaussprache über den Etat des Bundeskanzlers, in Mainz
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
des Ministerpräsidenten, die Stunde der Opposition und der großen Abrechnung ist.
Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich, wenn ich mich erst jetzt melde, nicht in den Verdacht komme, auch noch den Anspruch zu erheben, die Führung der Opposition zu übernehmen.
Da Sie mir ja viel zutrauen, will ich vorsorglich sagen: Diese Absicht habe ich nicht.
Da der Oppositionsführer nicht gesprochen hat - den Vorsitzenden der grünen Fraktion kann ich als solchen nicht anerkennen; da wären die Maßstäbe völlig verrutscht, zwar nicht bei Ihnen, aber bei den anderen -, will ich zu den Themen, die mir wichtig sind, sprechen.
Ich möchte mich ausdrücklich beim Kollegen Verheugen bedanken, der für mich einen neuen Begriff eingeführt hat - andere haben ihn aufgenommen -; er hat mich als Buddha bezeichnet. Ich bin mir nicht klar, ob Herr Verheugen wirklich weiß, was er damit getan hat. Ich habe meine Erinnerungen extra telefonisch aufgefrischt. Im Staatslexikon heißt es unter dem Stichwort Buddha, Herr Verheugen: Als Persönlichkeit zeichnete sich Buddha aus durch seinen Lebensernst, seine durchdachte und gelassene Lebensmeisterung, seinen Sinn für das Wirkliche und Mögliche, seine Mäßigung und Ausdauer.
Ich bin bereit, alles zu akzeptieren. Mit der Mäßigung habe ich allerdings gewisse Probleme. Diese teile ich mit dem Vorsitzenden der grünen Fraktion. Das ist eine der wenigen Gemeinsamkeiten. Daß Sie mich aber nach 13 Jahren in diesem Amt so ansprechen, tut mir wohl.
Ich sage Ihnen, Herr Verheugen, ganz offen: Ich bin seit 23 Jahren Parteivorsitzender der CDU. Aber so hat mich meine Partei noch nie verwöhnt.
Die gehen ganz anders mit mir um. Aber ich bin für dieses Lob dankbar, und es stimmt ja auch.
Ich will jetzt ein, wie ich hoffe, für uns gemeinsam wichtiges Thema ansprechen. Vielleicht kann auch diese Debatte dazu beitragen, daß wir zu einer Klärung darüber kommen, daß die Themen Bau des
Hauses Europa, Wirtschafts- und Währungsunion, Maastricht-II-Vertrag - also Abschluß der Regierungskonferenz - Themen sein sollten, die jedenfalls Demokraten in Deutschland nicht entzweien sollten.
Ich verstehe das, was sich hier in der SPD vollzogen hat, überhaupt nicht. Wenn es einen Grund gibt, daß Sie das alles vor Ihrem Parteitag gebraucht haben, um irgendwelche Stimmungen zu reflektieren - auch ich habe vor Parteitagen schon manchmal Fehler gemacht und Stimmungen reflektiert -, dann wollen wir das als läßliche Sünde einstufen. Die Grundfrage - ich behaupte, die Frage der Fragen - der deutschen Politik lautet: Werden wir Teil des neuen Europas im 21. Jahrhundert? In dieser Frage sollten sich - ich sage das sehr ernsthaft - die großen tradierten politischen Kräfte einig sein; sie haben in dieser Frage eine alte Tradition. Die SPD hat hier eine längere Tradition als alle anderen, weil sie eine sehr viel ältere Partei ist. Diese Frage wurde schon auf den internationalen Sozialistenkongressen vor 1914 von Ihrer Seite ganz klar angesprochen. Denken Sie an die große Rede von Jean Jaurès damals vor seiner Ermordung.
Dies alles ist ein Beispiel dafür, daß es sich um ein sehr kostbares Thema handelt - ich verwende bewußt diese Sprache - und daß es sich weder zur Legendenbildung noch zu einem billigen Populismus eignet. Ich will jetzt gar nicht zynisch sagen, Herr Vorsitzender Scharping, was Sie so oder so zu tun hätten. Ich habe als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland ganz einfach die Bitte: Tragen Sie dazu bei, daß diese ungute Diskussion durch die SPD so schnell wie möglich beendet wird!
Sagen Sie auch Ihren politischen Freunden, die dabei ganz anderes im Schilde führen - ich nenne jetzt Herrn Schröder aus Hannover -, daß es diesem Thema natürlich nicht angemessen ist, zu sagen, es eigne sich, um die Spiele des Herrn Kohl zu stören. Es geht nicht um die Spiele des Herrn Kohl. Es geht um eine Säule deutscher Politik. Dies haben alle meine Amtsvorgänger ohne Wenn und Aber vertreten.
Es ist gut, daß wir uns bei allem dringenden Diskussionsbedarf zu innenpolitischen Fragen - Europapolitik ist im übrigen längst zu einem Teil deutscher Innenpolitik geworden - darüber im klaren sind, daß wir in den nächsten zwei Jahren - bis zum Ende der Amtszeit des Kollegen Wim Kok als Vorsitzender des Rates der Europäischen Union bis Sommer 1997 - in einem ungewöhnlich schwierigen innenpolitischen und außenpolitischen Umfeld vorangehen müssen.
Europa ist und bleibt Kern unserer Außenpolitik. Das heißt, wir wissen, daß von uns erwartet wird, daß wir mehr internationale Verantwortung übernehmen. Das heißt aber gleichzeitig - das ist die eigentliche Problematik -, daß uns alle unsere Nachbarn mit sehr viel intensiveren Blicken betrachten als noch vor ein paar Jahren zur Zeit des kalten Krieges, als man
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
glauben konnte, die Balance im Westen Europas sei ungefähr erreicht. Wir müssen sehen, daß das Mißtrauen nicht wegen der aktuellen Politik, sondern wegen der objektiven Daten gewachsen ist. In der Zeit des Jahres 1985/86 war es für den Beobachter in Paris, in London, in Rom und Den Haag sehr viel einfacher, die Deutschen entsprechend einzuordnen, weil wir ungefähr die gleiche Bevölkerungszahl hatten, zwar eine stärkere Wirtschaftskraft, aber sich bestimmte militärische und andere Komponenten eben zugunsten der anderen entwickelt hatten. Das ist anders geworden. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute ein Land mit knapp 80 Millionen Einwohnern und mit weitem Abstand trotz all unserer Probleme die stärkste Wirtschaftskraft Europas.
Mir sind jene Sätze mitten im Prozeß der deutschen Einigung unvergessen, die François Mitterrand damals in einer Rede sagte: „Es ist wahr, die Deutschen haben jetzt Probleme. Aber sie werden ihre Probleme lösen, sonst wären sie nicht mehr die Deutschen. Danach werden sie stärker sein als je zuvor." Der Satz „Danach werden sie stärker sein als je zuvor" geht durch Europa. Deswegen ist es wichtig, daß wir nicht vergessen, woher wir kommen.
1982 sprach man noch von „Eurosklerose". Wenn Sie einmal nachlesen, meine Damen und Herren von der SPD, was Sie von diesem Pult - -
- Meine Damen und Herren, das entspricht dem Bild, das ich in diesen Jahren von Ihnen hier gewonnen habe. Sie sind mit Blumen in dieses Haus gezogen und haben mehr Zwietracht hereingebracht als viele andere.
- Lassen Sie den Abgeordneten operieren, wie er will.
- Er hat Angst wegen seiner Wiederwahl, und das ist ja verständlich.
Lassen Sie mich bitte wieder zu diesem für mich wirklich wichtigen Punkt zurückkommen. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren aus einer Politik des Stillstands heraus eine neue europäische Dynamik entwickelt. Wir haben in diesen zehn Jahren gemeinsam mit unseren französischen Freunden - rühmen will ich den Präsidenten der Europäischen Kommission in dieser Zeit, Jacques Delors; das möchte ich ausdrücklich hinzufügen - Europa auf das richtige Gleis gebracht.
Entgegen allen Unkenrufen haben wir 1985 das Binnenmarktprogramm und 1986 die Einheitliche Europäische Akte durchgesetzt. Wir haben erreicht - das war nicht selbstverständlich -, daß am Ende alle unsere europäischen Nachbarn der deutschen Einheit zugestimmt haben.
Meine Damen und Herren, in dieser neumodischen Form der Indiskretion hat der langjährige Berater von François Mitterrand, Jacques Attali, vor einigen Tagen erneut ein Buch veröffentlicht und darin geschildert, daß auf dem Straßburger Gipfel im Dezember 1989 keine Mehrheit der Anwesenden in dieser Stunde für die deutsche Einheit war. Ich halte es für eine der ganz großen Leistungen deutscher Politik und dieser Bundesregierung, daß wir diese Stimmung verändert und mit dem Aufbruch nach Europa die Besorgnisse abgebaut haben.
Die in dieser Zeit meistgestellte Frage war, ob sich die Deutschen, wenn sie die Einheit gewinnen, wieder isolieren, neutralisieren lassen, ob sie abdriften oder ob sie die Bindung in die NATO und die Europäische Union beibehalten und gleichzeitig offen für zukünftige Entwicklungen in Mittelost- und Südosteuropa sind.
Herr Abgeordneter Fischer, Sie haben mich nach der Erweiterung gefragt. Ich habe in Polen nicht gesagt: Im Jahr 2000 tritt Polen bei. Das ist falsch zitiert. Ich habe gesagt, daß ich fest davon ausgehe, daß wir im Jahr 2000 mitten in den Verhandlungen über den Beitritt von Polen stehen. Da ein solcher Vertrag von allen ratifiziert werden muß, das heißt von allen 16, erkennt doch jeder, daß ein Zeitplan, der auf dieses Datum zielt, abwegig ist.
Aber ich bleibe dabei, für uns als Deutsche kann die Gleichung nur heißen: Wir sind für die Vertiefung der Europäischen Union, und wir sind für die Erweiterung der Europäischen Union. Die Ostgrenze Deutschlands, die Oder-Neiße-Linie, darf nicht die Ostgrenze der Europäischen Union sein. Das ist für mich eine entscheidende Voraussetzung.
Dann haben wir, François Mitterrand und ich, im April 1990 die gemeinsame Initiative zur Politischen Union ergriffen. Deswegen stellt sich doch die Frage gar nicht, Herr Fischer, ob man sich vorstellen kann, daß die Währungsunion ohne Frankreich beginnt. Das ist eine völlig abwegige Vorstellung. Das habe ich oft genug gesagt. Warum stellen Sie dann diese Frage? Sie können doch nicht die Momentaufnahme des heutigen Tages nehmen, nach der die Kriterien von Maastricht derzeit nur von Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland erfüllt werden. Sie wissen doch so gut wie ich, daß das kein Neubeginn wäre. Selbstverständlich müssen wir mit unseren Freunden darüber reden, aber nicht über das Absenken der Voraussetzungen; dazu will ich gleich noch etwas sagen.
Wir haben dann die Verhandlungen zum Maastricht-Vertrag auf den Weg gebracht. Natürlich,
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
meine Damen und Herren, können Sie sich hinsetzen und sagen, dieses oder jenes sei schlampig ausgearbeitet.
- Das können Sie sagen, weil Sie keine Ahnung haben! Jeder, der dabei war, auch die Mitglieder der Sozialistischen Internationale, die als Regierungschefs dabei waren, halten diesen Vertrag für einen ersten Schritt zu einem großen Wurf. Daß er nicht alle unsere Wünsche erfüllt, daß es nicht ein Vertrag ist, den wir hier zusammen erdacht und diktiert haben, sondern daß wir dazu die Zustimmung von anderen brauchen, ist doch auch ganz klar.
Meine Damen und Herren, was für eine Arroganz vor der Geschichte! Daß wir als Deutsche 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diesen Vertrag mit erreicht haben, zeigt doch, daß wir aus der Geschichte gelernt haben und daß wir etwas erreicht haben, von dem ich vor 20 Jahren nicht geglaubt hätte, daß es erreichbar sei.
Die Sympathien und die Lebenserfahrungen der Völker haben sich in diesen paar Jahren doch nicht völlig verändert. Natürlich stimmen solche Sätze - die sind in der Sache nicht richtig -, die ich aus dem englischen Unterhaus gehört habe, nachdenklich: Wir haben sie zweimal geschlagen, jetzt sind sie wieder da! - Das ist doch die Realität, mit der wir uns in Europa auseinandersetzen müssen!
Deswegen müssen wir viele kleine Schritte tun. Deswegen müssen wir sehr viel Sympathie erwerben. Deswegen müssen wir sehr sensibel sein, auch gegenüber Einwänden und Vorwürfen, die wir selbst auf Grund unserer Geschichte als abwegig erkennen. Dennoch: Wir brauchen diesen Einigungsprozeß. Wir brauchen dieses Haus Europa. Europa muß unumkehrbar gemacht werden. Das ist entscheidend für die nächsten Jahre.