Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zum Schluß der heutigen Debatte steht der Gesundheitshaushalt der Bundesregierung auf der Tagesordnung. Ich bedaure sehr, daß der Bundesfinanzminister zu einem solchen wichtigen Haushalt wie dem Gesundheitshaushalt nicht mehr hier ist. Wir haben alle in den letzten Wochen und natürlich auch heute in der allgemeinen Debatte erlebt, wie Herr Waigel uns mit diesem Haushalt in die Irre geführt hat.
So scheint Ihr Gesundheitshaushalt, Herr Seehofer, auf den ersten Blick geordnet.
Tatsächlich drückt er jedoch das Dilemma der Gesundheitspolitik in unserer Republik aus.
Meine Damen und Herren, seit dem Antritt der Koalition
ist das Gesundheitswesen vor allem von ständigen Haushaltskürzungen, steigenden Beitragssätzen
sowie immer weiter ausufernden Belastungen für die Patienten durch Leistungskürzungen und Zuzahlungsregelungen geprägt.
Für 1995 wurde der Gesundheitshaushalt um zirka 48 Millionen DM und für 1996 im Ansatz um weitere 6 Millionen DM gekürzt. Wesentlich gekürzt, nämlich um 8,5 Millionen DM, wurde wieder auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, davon allein 7,9 Millionen DM bei der Ausstattung von klinischen Krebsregistern und der Ausstattung für die Krebsbehandlung in den neuen Bundesländern.
Nach der dramatischen Diskussion um den BlutAids-Skandal und - ich sage das ganz bewußt - der jämmerlichen Einrichtung der Stiftung, einem Geschenk an die Pharmaindustrie, ist die erneute Kürzung um 2 Millionen DM bei den Aufklärungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Aidsbekämpfung ein Zynismus, den die SPD absolut ablehnt.
Meine Damen und Herren, seit einem Jahr liegen die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zum Blut-Aids-Skandal, von allen Parteien abgesegnet, vor uns. Aber kein Mensch diskutiert mehr darüber.
Das Thema ist scheinbar vom Tisch. Die Pharmaindustrie jubelt. Der Chef dieses Pilotprojekts und politische Garant der Pharmalobby, Herr Seehofer, sind Sie.
Aber damit nicht genug. Die Pharmaindustrie fordert ein weiteres Opfer: die Streichung der Positivliste.
Während das Institut „Arzneimittel in der Krankenversicherung" im Haushalt für 1996 bestätigt worden ist, haben Sie, Herr Minister, die Positivliste gesetzlich zu Fall gebracht.
Die Streichung der Positivliste ist zugleich ein tiefer Vertrauensbruch. Die weitere Diskussion um die Positivliste ist aber auch die Diskussion um die Gesundheitsstrukturreform auf der Grundlage des Lahnsteiner Kompromisses. Um diese Reform wird die SPD weiter kämpfen.
Meine Damen und Herren, schwere strukturelle Versäumnisse prägen den gesundheitspolitischen Weg der konservativ-liberalen Koalition.
Zu Ihren neuen Leitgedanken, Herr Minister, gehören auch die unlängst vom Sachverständigenrat veröffentlichten Fragestellungen, die das Schicksal des einzelnen gegen die Gemeinschaft stellen. Ausgrenzung und würdelose Rationalisierung sind die Schlagworte dieses unsozialen Fragenkatalogs. Denn da heißt es:
Welche Leistungen können ausgegrenzt werden?
Nach welchen Kriterien kann rationalisiert werden; zum Beispiel, wo sind die medizinischen Prioritäten zu setzen und wo sind die Grenzen bei den Leistungen der Solidargemeinschaft?
Welche Einkommensarten der Versicherten können - neben ihren Löhnen - zusätzlich herangezogen werden?
Wie können Regel- und Wahlleistungen in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt werden?
Wie kann der reduzierte Regelleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aussehen?
Damit geben Sie eindeutig zu erkennen, wohin die Reise gehen soll. Es geht Ihnen um eine Reprivatisierung der Gesundheitsrisiken, also von der Gemeinschaft hin zum einzelnen. Damit, Herr Minister, ist der Weg in die Zwei-Klassen-Medizin vorgezeichnet.
Die von Ihnen und uns mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeleitete Reform hatte das konkrete Ziel, die Selbststeuerungsfähigkeit, die Wirtschaft-
Gerhard Rübenkönig
lichkeit und die Qualität des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern. Wir hatten damals gemeinsam beschlossen: neue Formen der Preisbildung und Honorarverteilung, eine Positivliste - wie angekündigt - für Arzneimittel, einen kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich und die freie Wahl der Krankenkasse für die Versicherten ab 1996.
Ihr fehlender Wille, Herr Minister, die eingeleiteten Reformen entschlossen umzusetzen, zeigt schon jetzt Wirkung: Die Stabilität unserer Krankenversicherung wird von einem Kostenschub bedroht, der im kommenden Jahr zwangsläufig zu den von uns prophezeiten und von Ihnen mittlerweile angekündigten Beitragserhöhungen führen wird. Das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung von 5,4 Milliarden DM im ersten Halbjahr 1995 wird sich wahrscheinlich bis Ende des Jahres auf 9 Milliarden DM summieren.
Herr Minister Seehofer, mit Ihrer Festlegung, die am 31. Dezember dieses Jahres auslaufende sektorale Begrenzung der Krankenkassenausgaben nicht zu verlängern, hat sich die Koalition selbst ein Bein gestellt. Die Beitragssatzexplosion wird so unausweichlich.
Meine Damen und Herren, die krampfhafte Suche nach alternativen Regelungen hat mittlerweile skurrile Formen angenommen. Wer davonlaufenden Ausgaben mit einer Begrenzung der Einnahmen begegnen will, während er dem Arbeitnehmeranteil freien Lauf läßt, handelt zudem sozialpolitisch gefährlich;
denn er will die paritätische Aufteilung der Beitragslast auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer beseitigen.
Die SPD wird dafür kämpfen, daß das materielle Interesse der Arbeitgeber an der Schaffung gesundheitsverträglicher Arbeitsbedingungen durch die 50prozentige Beteiligung an den Krankenversicherungsbeiträgen erhalten bleibt.
Spätestens wenn - wie bei vielen anderen wichtigen Themen - in der Koalition zum Nachteil der Betroffenen streitige Entscheidungen dazu getroffen werden, ist es an der Zeit, meine Damen und Herren von der F.D.P., daß einer Partei, der alle Wähler davonlaufen, das Mandat für diese Regierung entzogen wird.
Herr Minister Seehofer, wenn Sie Vorschläge machen, die eine solidarische Finanzierung der Krankenversicherung beseitigen, die zu weiteren einseitigen Belastungen der Versicherten führen, die das Sachleistungsprinzip beeinträchtigen, die Teile des Leistungskatalogs in die private Finanzierungslast überführen sollen, die eine Aufteilung zwischen Wahl- und Regelleistungen vorsehen sollen, dann
sage ich Ihnen: Diese sind mit Sozialdemokraten nicht zu verwirklichen.
Das Konzept der SPD dagegen schafft Vertrauen und Einsicht bei den Betroffenen. Wir wollen zur Sicherung einer stabilen Beitragssatzentwicklung die derzeitigen Ausgabenbegrenzungen nicht nur um ein Jahr verlängern, sondern sie in eine dauerhafte globale Budgetierung überführen.
Wir wollen eine konsequente Stärkung der hausärztlichen Versorgung.
- Schon immer. Wir wollen eine vernünftige Honorierung und eine eigene Gebührenordnung der Hausärzte. Wir wollen mehr organisationspolitisches Gewicht für Hausärzte im Gesamtkontext der Ärzteschaft. Wir wollen eine leistungsfähigere ärztliche Selbstverwaltung, wie bei den Krankenkassen bereits gemeinsam durchgesetzt.
Wir wollen eine vernünftige und flexible Arbeitsteilung von Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten. Wir wollen über zehn Jahre Schritt für Schritt, das heißt, ohne Auswirkungen auf die Beitragssätze, die monistische Krankenhausfinanzierung und gemeinsame Letztverantwortung von Krankenkassen und Ländern für die Bedarfsplanung von Krankenhausbetten einführen. Wir wollen Preisverhandlungen für Arzneimittel zwischen Koalition und Pharmaindustrie, und wir werden auf die Einführung der Positivliste nicht verzichten.
Herr Minister Seehofer, nachdem die Kritik an Ihrer Politik bisher schon so negativ ausgefallen ist, komme ich jetzt zu einem Thema, bei dem die SPD wahrhaftig nicht alleinsteht, sondern sich mit über hundert Organisationen unseres gesellschaftlichen Lebens einig weiß. Es geht um die Sozialhilfereform.
Hier haben Sie, Herr Seehofer, das Reformziel deutlich verfehlt. Schon im Ansatz war klar, daß Sie die Verantwortung des Bundes auf die Kommunen abschieben, die städtischen Finanzen in unerträglicher Weise belasten und den betroffenen Menschen bedarfsgerechte Leistungen verweigern.
Mehr als hundert Organisationen von paritätischen Wohlfahrtsverbänden über kirchliche Verbände bis hin zum Deutschen Gewerkschaftsbund haben die Bundesregierung in dieser Sache über die Presse aufgefordert, Ihren Entwurf zur Sozialhilfereform zurückzuziehen. Eine tiefe Enttäuschung hat sich jetzt bei allen Betroffenen eingestellt.
Die Vorlage wird weder dem Problem der überlasteten Sozialhilfe noch den Menschen in der Sozialhilfe mit ihren Nöten gerecht und trägt zur weiteren Verarmung in Deutschland bei.
Gerhard Rübenkönig
Die Ursachen, Herr Minister, sind eben nicht im System der Sozialhilfe selbst zu suchen, sondern außerhalb. Hier führe ich die Massenarbeitslosigkeit und zu hohe Mieten an. Diese Reform übertrifft die schlimmsten Erwartungen. Mit diesem Gesetzentwurf verabschiedet sich die Bundesregierung vom Bedarfsdeckungsprinzip. Gegen ihr Versprechen wird die Deckung der Regelsätze der letzten drei Jahre bis 1999 fortgesetzt.
Die Kommunen werden als Ersatzarbeitsämter mißbraucht und mit zusätzlichen Kosten belastet. Die Wohlfahrtsverbände fürchten zu Recht, durch starre und unsensible Regelungen in ihrer Leistungsfähigkeit zum Nachteil der Menschen in ihren Einrichtungen eingeschränkt zu werden. Darüber hinaus brauchen Behinderte ein eigenes Leistungsgesetz. Für Bürgerkriegsflüchtlinge können die Kommunen nicht allein aufkommen.
Herr Minister Seehofer, Sie bleiben da untätig, wo Sie eigentlich handeln müßten, nämlich bei der Bekämpfung und Beseitigung der Ursachen für die Sozialhilfebedürftigkeit.
Von den Beziehern der Hilfe zum Lebensunterhalt sind ein Drittel arbeitslos, rund 30 Prozent Familien und Alleinerziehende und 37 Prozent Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. Ich hoffe und denke, das ist eine Aussage, die allen Kolleginnen und Kollegen und auch Ihnen, Herr Minister, zu denken geben muß.
Wenn Sie vor diesem Hintergrund eine isolierte Reform des Sozialhilfegesetzes anstreben, Herr Minister, dann verfolgen Sie meines Erachtens ein völlig anderes politisches Ziel.
Es geht Ihnen nicht um die Armutsbekämpfung, son-dem um eine würdelose, unsoziale Haushaltssanierung.
Dagegen, meine Damen und Herren, hält die SPD fest:
Erstens. Das Bundessozialhilfegesetz steht in seiner Funktion als letztes Instrument zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung nicht zur Disposition. Es ist für den Sozialstaat unverzichtbar.
Zweitens. Das Bundessozialhilfegesetz ist auf Einzelfallhilfe auf akute, vorübergehende Notlagen angelegt. Es eignet sich deshalb weder als Finanzierungsinstrument für auf Dauer zu gewährende Leistungen noch als Ausfallbürge unzureichender Leistungssysteme.
Drittens. Die Kommunen und Landkreise als Träger der Sozialhilfe dürfen durch systemfremde Leistungen finanziell nicht länger überfordert werden.
Die der Sozialhilfe vorgelagerten Sozialleistungen müssen so ausgebaut und ergänzt werden, daß der Nachrang der Sozialhilfe wiederhergestellt wird.
Viertens. Aufgabe der Sozialhilfe bleibt die Sicherung des Existenzminimums. Dazu ist die Erfüllung des Bedarfsdeckungsprinzips unverzichtbar.
Ein weiterer Punkt, Herr Minister Seehofer, ist das unsoziale neue Asylbewerberleistungsgesetz,
mit der Absicht, daß Asylbewerber, die bisher nur ein Jahr eingeschränkte Leistungen bezogen, künftig „bis zum Abschluß ihres Verfahrens" um bis zu 20 Prozent gekürzte Sozialhilfeleistungen erhalten. Sie verstoßen wieder gegen die gemeinsame Vereinbarung im Asylkompromiß, wenn Sie in das Asylbewerberleistungsgesetz auch die Bürgerkriegsflüchtlinge einbeziehen und die zeitliche Begrenzung der eingeschränkten Leistung auf maximal zwölf Monate aufheben. Diese Politik aber zeigt, was Arbeitslose und Bedürftige von dieser Regierungskoalition zu erwarten haben.
Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß Menschen in diesem Land unter unseren Lebensbedingungen mit Leistungen unterhalb des Existenzminimums nur kurze Zeit menschenwürdig leben können.
Herr Minister Seehofer, meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß stelle ich fest: Der mangelnde Wille zur Umsetzung des Gesundheitsstrukturgesetzes hat eine Lage heraufbeschworen, in der die Gesundheitspolitik unseres Landes an Vertrauen und Ansehen verloren hat.
Übernehmen Sie, Herr Minister, hier die Verantwortung! Sie betreiben eine Gesundheits- und Sozialpolitik auf dem Rücken der Patienten, Versicherten, der Arbeitslosen und Bedürftigen in unserem Lande. Die angebliche Sozialhilfereform und die Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes zeigen, daß ihre Politik das Elend der Armut in Deutschland weiter vorantreibt.
Gerhard Rübenkönig
Herr Minister Seehofer, eine würdelose HaushaltsSanierung bei kalkuliertem Sozialabbau ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
Aus diesem Grunde lehnen wir Ihren Gesundheitshaushalt ab.
Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es ein bißchen unruhig war, bedanke ich mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.