Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wußten eigentlich die Menschen in der DDR von der Bundeswehr, die in diesen Tagen ihr 40jähriges Bestehen feiern kann? Ein weitverbreitetes DDR-Wörterbuch der Geschichte charakterisierte die Bundeswehr als
... wichtigstes bewaffnetes Machtorgan des staatsmonopolistischen Regimes der BRD, dessen innenpolitische Funktion die Sicherung der monopolkapitalistischen Klassenherrschaft ist und dessen außenpolitische Funktion darin besteht, expansionistische Ziele unter militärischer Gewaltanwendung erreichen zu können.
Ich mute Ihnen allen diesen typischen SED-Text zu, weil mir wichtig ist, mit diesem Zitat deutlich zu machen, was die Menschen in der DDR nach dem Willen der DDR-Machthaber von der Bundeswehr glauben sollten.
Das Eintreten für den Frieden und die Verweigerung des Waffendienstes in der Nationalen Volksarmee
- hör doch zu! - gehörten in der DDR zu den wichtigsten Motiven für Widerstand und Opposition. Ich selber wurde endgültig zu einem politischen Menschen, als ich mich zum Dienst in den Baueinheiten der NVA entschloß und als „Spatensoldat" das Gelöbnis verweigerte, mit dem ich meinen militärischen Genossen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam geloben sollte. Das konnte und das wollte ich nicht.
Nach dem Sturz der SED-Diktatur wurde aus dem Bausoldaten, der wegen Gelöbnisverweigerung acht Monate Militärhaft hatte abbüßen müssen, ein Minister. Ich legte großen Wert darauf, daß sich das Ministerium, an dessen Spitze ich berufen wurde, „Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR" nannte. Ich glaube auch heute noch, daß wir damit damals ein wichtiges Zeichen gesetzt hatten. Der Verteidigungsauftrag wird im Interesse der Menschen, um deren Verteidigung es geht, immer nur dann richtig begriffen, wenn er alle Möglichkeiten, zu geordneten Formen der Abrüstung zu kommen, im Blick behält.
Die Position, die meine Freunde und ich damals einnahmen, war damals keineswegs selbstverständlich. Wir begannen aber zu begreifen, daß die Vereinigung unseres geteilten Landes in Frieden und Freiheit nur dann möglich sein würde, wenn es gelingt,
Rainer Eppelmann
die Vereinigung von Volksarmee und Bundeswehr erfolgreich zu gestalten.
Welche harten Konflikte sich damit auch im ganz persönlichen Bereich ergaben, will ich Ihnen mit einer kleinen Geschichte, an die ich mich noch erinnern kann, illustrieren: Als ich zu der Zeit, in der ich Minister für Abrüstung und Verteidigung war, eines Tages nach Hause kam - ich wohnte damals noch in der Gemeinde, in der ich Pfarrer war -, war mit großen Lettern an die Wand des Hauses, in dem ich lebte, gesprüht: „Eppelmann treibt uns in die NATO". Ich habe hinterher erfahren, daß es ein lieber Mensch war, der das an die Wand gesprüht hatte. Er hat seine Sorgen öffentlich gemacht und versuchte auf diese Weise, seinem Vater etwas ins Stammbuch zu schreiben. Es war mein ältester Sohn, der das an die Wand gesprüht hat.
- Ja, und - darauf lege ich Wert - nicht ohne den Vater denkbar.
Ich erzählte diese Geschichte, um Ihnen deutlich zu machen: Die deutsche Vereinigung erfordert von allen daran Beteiligten ein neues Denken. Wir von der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR mußten unsere Auffassungen zur politischen Aufgabe der Verteidigung und zur politischen Funktion einer Bürgerarmee grundlegend überdenken. Bei allen Parallelen gab es nämlich gewaltige grundsätzliche Unterschiede zwischen Bundeswehr und Nationaler Volksarmee, zwischen NATO und WVO. Armee ist eben nicht gleich Armee, und militärisches Bündnis ist eben nicht gleich militärisches Bündnis.
Heute ist mir klar - als Pazifist sage ich das eigentlich gar nicht so gerne; aber um der Ehrlichkeit willen muß ich es sagen -: Ohne NATO und ohne Bundeswehr gäbe es heute kein demokratisches Europa mit einem demokratischen Deutschland. Davon bin ich überzeugt. Darum bin ich froh, daß es sie gegeben hat.
Im Bonner Verteidigungsministerium, in der Bundeswehr und in der Führung der Nationalen Volksarmee mußte man darüber nachzudenken beginnen, wie zwei Armeen, die sich fast vier Jahrzehnte lang als potentielle Kriegsgegner gegenüberstanden, nun zusammengeführt - zusammen geführt - werden können. Die NVA-Angehörigen sahen sich zusätzlich einer völlig ungewissen Zukunft gegenüber. Hervorragend ausgebildet und ausgestattet sahen sie, die doch wie alle anderen Bürger auch ihre persönlichen Hoffnungen und Ängste hatten, sich einer mehr als ungewissen Zukunft gegenüber.
Das politische Urteil über die Nationale Volksarmee als Klassen- und Machtinstrument der SED konnte durch diese Einsicht jedoch nicht getrübt werden. Die NVA stand immer bereit, ihren sogenannten Klassenauftrag zu erfüllen. Wir wissen heute: Diese Armee bereitete sich im Auftrag der SED-Machthaber auf die Eroberung Westberlins vor, entwickelte Pläne für die Besetzung Westdeutschlands bis zum Rhein und war - auch das wissen wir inzwischen durch die Arbeit der Enquete-Kommission - voll einsatzbereit, als in Prag und Warschau die kommunistischen Diktaturen zu wanken begangen. Erst - aber auch das muß fairerweise dazugesagt werden - in den letzten Wochen und Monaten der DDR begann sich dieser blinde Gehorsam gegenüber den Diktatoren zu wandeln. Und in der Wendezeit stellte sich die NVA in ihren allergrößten Teilen auf die Seite der ersten demokratisch gewählten Regierung in der DDR. Dafür gehört ihr Dank.
Bundesverteidigungsminister Volker Rühe hat die Überleitung der NVA in die Bundeswehr am 9. Oktober als eine Leistung gewürdigt, die historisch ohne Beispiel ist. Als einer, der an diesem Prozeß beteiligt war, kann ich dieses Urteil aus meiner Sicht bestätigen. Ich glaube, wir dürfen heute sagen: Die Integration ist - gemessen am Leben und nicht an irrationalen Träumen - beispielhaft gut gelungen. Aus Menschen, die sich als Feinde gegenüberstanden, sind Kameraden geworden. Alte Feindbilder sind innerhalb von wenigen Monaten zerbrochen. Rund 3 000 Offiziere und 7 600 Unteroffiziere der ehemaligen NVA wurden von der Bundeswehr übernommen. Bundeswehrdienststellen wurden in den neuen Bundesländern neu aufgebaut, Wehreinrichtungen, Truppenteile und Dienststellen vom Westen in den Osten verlegt. In jedem Jahr der deutschen Einheit wurden die sanitären und hygienischen Verhältnisse, wurde die Unterbringungs- und Betreuungssituation der Soldaten besonders in den neuen Bundesländern durch Milliardenbeträge massiv verbessert.
Solche Zahlen und Aussagen verdeutlichen nicht alles. Wichtig war und ist mir, welche Schicksale sich dahinter erkennen lassen. In der gesamtdeutschen Bundeswehr ist jenes Vertrauen gewachsen, das Menschen brauchen, die sich im Ernstfall total aufeinander verlassen müssen.
Inzwischen hat auf der Ebene der Wehrpflichtigen jene Durchmischung stattgefunden, die die Integration erst wirklich dauerhaft macht. Bis heute haben 200 000 ostdeutsche junge Männer ihren Wehrdienst in der Bundeswehr abgeleistet - viele von ihnen an Standpunkten, die sich in den alten Bundesländern befinden. Die Erfahrungen, die sie da mit ihren Kameraden gemacht haben, waren überwiegend positiv. Das finde ich gut. Auch in diesem Bereich wächst allmählich zusammen, was zusammengehört.
Mit dem Prinzip der Durchmischung von Wehrpflichtigen, längerdienenden Soldaten und Zivilbeschäftigten aus Ost und West wird für das Zusammenwachsen der Menschen ein besonders wichtiger Beitrag geleistet. Die Bundeswehr bereitet sich damit auf die völlig neuen Aufgaben vor, die ihr ein zusammenwachsendes Europa stellt, in dem Integration, Konfliktbegrenzung und Katastrophenhilfe in ge-
Rainer Eppelmann
meinsamer Verantwortung organisiert werden müssen.
Ich könnte hier noch sehr viel davon berichten, was ich als Pazifist und Zivilist in der Zeit der Überleitung der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr erlebt habe. Gewiß habe ich dabei auch Fehler gemacht. Gewiß bin ich dabei von den Profis auch gelegentlich über den Tisch gezogen worden. Ich habe aber auch hohe Einsatzbereitschaft, Vermittlungsfähigkeit in schwierigen Konfliktsituationen und hohe fachliche Kompetenz bei den Männern erlebt, mit denen ich da zu tun hatte.
Auch an dieser Stelle möchte ich deutlich sagen: Es ist ein ungeheures Verdienst, daß bei der Fülle von Waffen, Munition und Material, die uns übergeben worden ist - das läßt sich heute nachweisen -, nicht eine Pistole, nicht ein Schuß Munition verlorengegangen ist. Da ist eine ganz wichtige Arbeit zur Erhaltung des inneren Friedens für uns alle geleistet worden.
Das hätte im Frühjahr 1990 alles ganz anders laufen können.
Die Gefahr eines Putsches einzelner bewaffneter Kräfte der SED-Diktatur war nicht nur ein Hirngespinst überängstlicher Gemüter.
Wenn wir heute an die Gründung der Bundeswehr vor 40 Jahren denken, dann gehört für mich auch der fünfte Jahrestag der Integration der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr dazu. Immerhin ist das schon ein Achtel ihrer Gesamtgeschichte.
Natürlich hätte ich mir gewünscht, daß noch mehr Menschen in diesen Integrationsprozeß hätten einbezogen werden können. Ich weiß aber auch, wo die Grenzen - auch vor dem Hintergrund von Wien I und Wien II - des Machbaren und Möglichen liegen. In manchen Punkten hätte man gewiß großzügiger sein können. So halte ich es noch immer für möglich, daß Offiziere der NVA, die sich nichts zuschulden kommen ließen, ihren militärischen Rang mit einem sachlich präzisen Zusatz, z. B. Oberst a. D. oder Oberst der NVA a. D., führen dürfen.
Auch im Bereich der Versorgungsleistungen halte ich Verbesserungen noch immer für machbar. Wir sollten da so großzügig wie nur möglich verfahren. Wer hier aber kritisiert, sollte dabei fair sein. Das heißt, es geht und es ging uns in unserem politischen Bemühen um eine allgemeinverträgliche Lösung. Nicht alle Wünsche sind erfüllbar, und das Ergebnis ist nicht immer von allen zu akzeptieren. Wer zu laut über nach seiner Meinung zu schlechte Behandlung schimpft, sollte bedenken: Wenn die Geschichte anders gelaufen wäre, hätte kein Soldat und kein Offizier der Bundeswehr in der NVA anerkannt Dienst tun können. Auch hier hat sich der demokratische
Rechtsstaat als überlegen und als der menschlichere Staat erwiesen.
Die Bundeswehr ist heute eine gesamtdeutsche Armee, in der Menschen aus den alten und neuen Bundesländern gemeinsam wirken. Sie verstehen sich als „Staatsbürger in Uniform", die sich in Befehl und Gesetz nicht an eine Parteiclique, sondern an die Grundwerte unserer freiheitlichen Demokratie und ihr Gewissen gebunden fühlen. Sie verstehen sich als Angehörige einer Armee, die unlösbar in ein umfassendes Bündnis der parlamentarischen Demokratien in dem sich vereinenden Europa eingebunden ist. Sie erproben und bewältigen vor dem Hintergrund unterschiedlichster Biographien Tag für Tag alle die vielfältigen Probleme, die der Prozeß der deutschen Einheit uns allen aufgibt.
Die Bundeswehr ist zu einer Schmiede der Integration und der deutschen Einheit geworden. Die Bundeswehr als Bürgerarmee des vereinigten Deutschlands ist zu einem guten Modell dafür geworden, was wir in allen Bereichen unseres Lebens erreichen wollen und müssen. Darum muß sie, solange wir noch eine Armee brauchen, eine Bürgerarmee bleiben; sie sollte keine Berufsarmee werden und keinesfalls eine Parteiarmee, wie es die NVA war.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich, daß ich mir vor fünf Jahren diese Entwicklung zwar vorstellen konnte, daß ich keineswegs aber gewiß war, ob es sich auch realistisch umsetzen läßt. Heute kann ich voller Dankbarkeit feststellen: Das große Experiment ist gelungen. Verantwortung füreinander und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und sich völlig neu zu orientieren, haben sich in der Bundeswehr des vereinten Deutschlands bewährt. Dafür danke ich allen aus den alten und den neuen Bundesländern, die dazu beigetragen haben und dies geschafft haben. Danke schön ihnen allen!