Rede von
Annelie
Buntenbach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Situation im Baugewerbe ist durch Spitzenbelastungen im Sommer und witterungsbedingte Beschäftigungseinbrüche im Winter geprägt.
Die Wintererwerbslosigkeit im Baugewerbe hatte vor Einführung des Schlechtwettergeldes einen riesigen Umfang. Im Winter 1956/1957 betraf sie fast jeden zweiten am Bau Beschäftigten. Eine solche erzwungene Saisonarbeit belastet die Betroffenen und ihre Familien in unzumutbarer Weise. Außerdem bringt sie immense gesellschaftliche Folgekosten mit sich: in erster Linie in der Arbeitslosenversicherung, aber auch darüber hinaus.
Das Schlechtwettergeld wurde 1959 von einer CDU-Regierung eingeführt, um die Beschäftigungslage auf dem Bau zu stabilisieren. 1994 wurde, ebenfalls von einer CDU-geführten Regierung, die Abschaffung des Schlechtwettergeldes zum 1. Januar 1996 beschlossen.
Wir hatten, wie auch die anderen Oppositionsfraktionen, zuletzt im Frühjahr dieses Jahres beantragt, diese Streichung zurückzunehmen; denn schließlich ist es der Bundesregierung bis jetzt nicht gelungen, gesetzlich besseres Wetter zu verordnen. Da die Baubranche in besonderem Maße mit schlechtem Wetter zu kämpfen hat, liegt es auf der Hand, daß flankierende staatliche Maßnahmen unabweisbar notwendig sind.
Alles andere würde einen Rückfall in die früheren Zustände der Saisonarbeit bedeuten.
Unsere Zielsetzung war und ist, ganzjährig gesichertes Einkommen und Beschäftigung auf dem Bau zu erreichen.
Mit der Streichung des Schlechtwettergeldes wurde den Tarifparteien der Boden für eine bessere Regelung zum ganzjährig gesicherten Einkommen, aufbauend auf dem bewährten Fundament der Schlechtwettergeldregelung, entzogen. Dafür trägt die amtierende Bundesregierung die politische Verantwortung.
Wir stehen jetzt vor einer veränderten Situation. Inzwischen haben die Tarifparteien im Baugewerbe einen Tarifvertrag zur ganzjährigen Einkommenssicherung abgeschlossen. Unter dem Druck der Abschaffung des Schlechtwettergeldes ist hier ein Kompromiß gefunden worden, der beide Seiten einiges kostet, ein Kompromiß unter erschwerten Bedingungen mit vielen Haken und Ösen. Die Arbeitnehmerseite hat eine Reihe von Kröten schlucken müssen. Eine Verrechnung der witterungsbedingten Ausfallzeiten mit bis zu fünf Urlaubstagen, die Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit im Sommer auf 40 Stunden, die Erweiterung der Ausgleichszeiträume mit Zustimmung des Betriebsrats auf bis zu acht Monaten konnten nicht abgewendet werden.
Für Arbeitnehmer in der Baubranche, die bisher kein Schlechtwettergeld bezogen haben, bringt der Tarifvertrag unter dem Strich eine Verschlechterung
Annelie Buntenbach
der Arbeitsbedingungen. Wie sich die hier festgeschriebene Flexibilisierung von Winter- und Sommerarbeitszeiten auswirkt, wer letztlich die Macht über die Zeit hat und ob Spitzenbelastungen für die Beschäftigten im Sommer nicht eher verschärft werden - all dies wird die Praxis zeigen müssen. Aber schon heute sind die Gefahren dieser Flexibilisierung und mögliche Nachteile für die Beschäftigten auf dem Bau nicht zu übersehen. Eine gesteigerte Arbeitsbelastung in den Sommermonaten steht in krassem Gegensatz zu überfälligen Bestrebungen zur Humanisierung der Arbeit und insbesondere zu einem verbesserten Gesundheitsschutz. Sie geht auf Kosten von Partnerinnen und Partnern und Kindern der Beschäftigten.
Außerdem sieht der Tarifvertrag vor, für den Ersatz des Schlechtwettergeldes Mittel aus der Sozialkasse des Baugewerbes zu verwenden, die ansonsten sicherlich auch sinnvoll z. B. für eine Verbesserung der Berufsausbildung oder des Arbeitsschutzes hätten verwendet werden können.
Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten hätten wir uns darüber hinaus eine weitergehende Verkürzung der Arbeitszeit gewünscht.
Die durch den Tarifvertrag veränderte Lage erfordert jetzt auch andere flankierende staatliche Maßnahmen. Dazu hat die Bundesregierung einen Entwurf vorgelegt, der jetzt auch für uns die weitere Diskussionsgrundlage sein wird. Ich finde es schön, daß Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, sich haben dazu durchringen können, für eine Branche, die unter besonderen Bedingungen arbeitet, auch eine besondere Regelung vorzuschlagen. Dagegen haben Sie sich ja bislang gesperrt. Vielleicht kann ich das auch als positives Signal für die Chancen einer Entsenderichtlinie werten, wo Sie sich in dieselbe Argumentationslinie verwickelt haben.
Vielleicht besteht doch noch die Chance, daß Sie hier Ihren aussichtslosen Weg über die tarifliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung und die Zustimmung der BDA verlassen und statt dessen auf einen realitätstauglichen Weg einschwenken.
Bei der Entsenderichtlinie schnell zu einer tragfähigen gesetzlichen Grundlage zu kommen ist längst überfällig.
Das Problem der ganzjährigen Einkommenssicherung auf dem Bau ist immer auch die Frage nach den Einbrüchen im Winter und den Spitzen im Sommer. Diese Spitzen im Sommer werden im Moment von vielen Unternehmen mit illegaler oder legaler, aber sozial nicht abgesicherter Beschäftigung von Arbeitnehmern aus Osteuropa und aus der Europäischen Union abgedeckt. Praktiken von Lohn- und Sozialdumping prägen die Situation. Die Arbeitsbedingungen auf dem Bau sind bekanntlich eine Katastrophe.
Bei der unübersichtlichen Situation und bei Rechtsunsicherheit von Subunternehmen, Scheinselbständigen, Werkvertragarbeitnehmern blüht auch die illegale Leiharbeit. Das Ergebnis für viele sind Stundenlöhne zwischen 5 und 10 DM, menschenunwürdige Unterbringung, keinerlei Absicherung gegen Unfälle und Krankheit, oft nicht einmal schriftliche Arbeitsverträge und glatter Betrug um den Lohn.
Wenn es uns hier nicht gelingt, gleichen Lohn und gleiche Absicherung für die gleiche Arbeit durchzusetzen, dann wird es immer weniger fest angestellte ausländische wie inländische Kollegen geben, die überhaupt unter tarifvertraglichen Bedingungen arbeiten. Denn abgesehen davon, daß die Bauunternehmen, die Arbeitskräfte noch zu vernünftigen Bedingungen beschäftigen, durch das Sozialdumping niederkonkurriert werden, gibt es bei freiem Zugriff auf ein solches Sommersaison-Arbeitspotential immer weniger wirtschaftliche Gründe für Arbeitgeber, auch im Winter ein festes Arbeitskräftepotential weiter zu beschäftigen. Diese Bedingungen müssen wir dringend verändern, denn sonst kann die höhere Belastung der Arbeitgeber, wie sie durch den Wegfall des Schlechtwettergeldes entsteht, diese Spirale noch beschleunigen. Früher blieben pro Schlechtwettergeldstunde ungefähr 6,70 DM als Eigenanteil beim Arbeitgeber. Jetzt ist es fast das Doppelte: 12,30 DM. Auch die 6,70 DM haben oft genug, auch wenn es rechtlich nicht vorgesehen ist, zu präventiven Kündigungen vor der Schlechtwetterphase geführt.
In Tarifverträgen normierte Standards können nur dann ihre Schutzfunktion für die abhängig Beschäftigten erfüllen, wenn sie breit zur Anwendung kommen. Das gilt auch und besonders für den Tarifvertrag im Baugewerbe und die damit verbundene Schlechtwettergeld-Nachfolgeregelung. Wenn es nicht umgehend gelingt, mit einer nationalen Entsenderichtlinie diese Schutzfunktion der Tarifvereinbarungen bzw. die entsprechenden Mindeststandards für alle Beschäftigten durchzusetzen, dann ist jede Regelung Flickwerk, da sie beliebig unterlaufen werden kann.
Ob der hier vorgelegte Ersatz für die bisherige Schlechtwettergeldregelung tragfähig sein wird, hängt von der Entwicklung der Gesamtbedingungen im Baugewerbe ab. Ob die Regelung sich positiv, gemessen am Ziel der ganzjährigen Einkommenssicherung, auswirkt, werden wir in der Praxis überprüfen müssen. Hier könnte übrigens eine Zweijahresfrist, die bei der Entsenderichtlinie offensichtlicher Unsinn ist, durchaus einen Sinn machen.
Die vorgeschlagenen Regelungen werden wir in den Ausschußberatungen im einzelnen überprüfen müssen. Wir müssen schnell zu einer tragfähigen Entscheidung kommen, damit die Kollegen auf dem Bau ab dem 1. Januar 1996 nicht im Regen stehen.