Rede von
Dr.
Barbara
Höll
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor 13 Jahren der Bundeskanzler sein Amt antrat, tat er dies mit dem erklärten strategischen Ziel, eine „geistig-moralische Wende" in der Bundesrepublik Deutschland einzuleiten. Ich
glaube, da ist ihm leider sehr viel gelungen: Die Gesellschaft ist spürbar kälter geworden. Über Armut, Obdachlosigkeit und Massenarbeitslosigkeit wird kühl hinweggegangen. Die Grenzen wurden dichtgemacht, und deutsche Soldaten sind mit Schießbefehl im Einsatz.
Stellt man die abgelaufene Haushaltsdebatte in diesen Kontext, so muß man nüchtern konstatieren, daß Herr Kohl seinem Lebensziel tatsächlich ein Stück nähergekommen ist - mit der dankbar angenommenen Schützenhilfe der SPD.
Da ich mich im zweiten Teil auf die Regierungskoalition konzentrieren möchte, kurz einige Bemerkungen zu den Parteien, wobei es sich kaum noch lohnt, zur F.D.P., dem Gernegroß-Juniorpartner der CDU/CSU, etwas zu sagen.
Der Bundeswirtschaftsminister empfahl einmal mehr Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung. Der Subventionsabbau bleibt leeres Gerede. Aber kann man von einer Partei etwas anderes erwarten, deren Vorsitzender im Plenum erklärt, wie blind er durch das Land geht? Ich muß sagen: Nein, Herr Gerhardt, unser Land ist nicht auf einem Weg in die Armut, in die Umweltzerstörung und in Abenteuer, wie Sie sagten. Unser Land ist da schon voll drin. Denn viele, viele Menschen in Ost und West müssen mit Sozialhilfe auskommen. Sie sind obdachlos und sind bereits an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Der Einsatz deutscher Truppen in Bosnien ist mehr als ein Abenteuer, er ist bitterer Ernst.
Und die SPD? Herr Scharping stellte sich hier hin und fragte völlig unbefangen die Koalition:
Heute muß man den Eindruck haben: Sie wollen die Lebensrisiken der Menschen vollständig privatisieren und die unternehmerischen Risiken immer stärker sozialisieren. Soll das wirklich so weitergehen?
Zugegebenermaßen kenne ich mich nicht so gut in der Geographie der alten Bundesländer aus, aber ist Rheinland-Pfalz tatsächlich so weit von Bonn entfernt, daß es an Herrn Scharping vorbeigegangen sein könnte, daß wir mitten in diesem Prozeß sind?
Die Herausnahme der Asylbewerber und -bewerberinnen aus der Obhutspflicht des Bundessozialhilfegesetzes in ein besonderes Leistungsgesetz - von der SPD gefeiert - eröffnete doch erst die Möglichkeit zu umfangreichen Kürzungen. Die Einführung der Budgetierung im Gesundheitswesen, d. h. die Aufgabe des Bedarfsdeckungsprinzips, die pauschalierte Leistungsvergütung in der Pflegeversicherung - das waren und sind Meilensteine auf dem Wege der Zerschlagung des Sozialstaates. Die SPD hat alldem zugestimmt, genau wie den Militäreinsätzen.
Brav ihre Kompromißfähigkeit beteuernd, folgt die SPD der Regierungskoalition unter dem Verdikt der angeblichen Modernisierung des Sozialstaates und beteiligt sich dadurch leider auch an dessen Demontage. Sie jagen die Regierungskoalition nicht, was auch durch den Bundesrat möglich wäre; vielmehr zwingt diese Sie, hinter ihr herzuhecheln. Auch ist
Dr. Barbara Höll
man im Plenum Zeuge von allgemeinen Beteuerungen, Einladungen zu Diskussionen, der Hervorhebung der eigenen Offenheit und eines oberflächlichen Streites über Urheberschaften von politisch unzulänglichen Lösungen.
Nehmen wir das Beispiel des ab 1996 steuerfrei zu stellenden Existenzminimums und des Kindergeldes, was sich im Haushalt niederschlägt. Alle Ihre Ansätze blieben weit unter dem tatsächlich Notwendigen. Alle haben bewußt verschwiegen, daß, egal, ob man ein Kindergeld von 200 oder 250 DM zahlt, die Familien, in denen 1 Million Kinder und Jugendliche von Sozialhilfe leben, von dieser Änderung ab Januar nicht eine müde Mark mehr haben; denn das Kindergeld wird bei der Sozialhilfe gegengerechnet.
Dasselbe geschah auch in der Frage der Werbungskosten im Rahmen der Haushaltsführung oder z. B. des Arbeitszimmers. Das ist wahrlich keine Subventionierung. In einem Betrieb würde es als Betriebskosten und nicht als Subvention bezeichnet und daher auch nicht unter den Subventionsabbau fallen. Ich hoffe, daß wir gemeinsam mit dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Beratungen doch einiges voranbringen können.
Herr Waigel, der sich in den letzten Jahren und insbesondere mit diesem Haushalt als „Robin Hood des ,Thatcherismus', der den Armen nimmt und den Reichen gibt", wie ihn die „Frankfurter Rundschau" bezeichnete, profilierte, setzt jetzt zur offenen und radikalen Demontage des Sozialstaates an. Die Argumentation wird geringfügig geändert: Während es in den vergangenen vier Jahren der angeblich desolate Zustand der DDR war - dabei hantierten Sie mit Schattenhaushalten, nannten bei den Transferleistungen nur Bruttozahlen und nicht die realen Nettozahlen -, sind Sie jetzt dazu übergegangen, die Staatsquote als neue zu bekämpfende Hauptursache der Probleme darzustellen.
Hier muß ich fragen: Was soll das?
Herr Thiele hat als Vorsitzender des Finanzausschusses dem Ganzen am 2. Juni dieses Jahres sogar eine ideologische Weihe gegeben,
indem er sagte, wegen der zu hohen Staatsquote sei „die Freiheit der Bürger unseres Landes durch den auswuchernden Staat ernsthaft bedroht".
In der Geschichte der Bundesrepublik unterlag die Staatsquote tatsächlich beachtlichen Schwankungen, und sie hat derzeit einen sehr hohen Stand erreicht.
Wenn aber Herr Waigel die Staatsquote senken will, d. h. sparen, um gestalten zu können, und behauptet, dies führe über die Stärkung der Marktmechanismen gleichzeitig zu mehr Wachstum, so ist dies eine Scheindiskussion. Eine hohe Staatsquote bedeutet ja
nicht automatisch, daß der Staat viele Schulden hat. Ein Staat jedoch, der wie die Bundesrepublik Deutschland - dank Ihrer chaotischen Finanzpolitik - so hohe Schulden hat, muß natürlich die Zinsen bedienen. Jede vierte Steuermark wird darauf verwendet.
Es geht doch darum, mit der Staatsquote über den Inhalt zu diskutieren: An welchen Stellen ist der Staat tatsächlich in der Pflicht, Aufgaben zu zentralisieren und entsprechend zu agieren? Es geht um die Umstrukturierung der Wirtschaft in eine ökologische Richtung. Es geht um die Aufhebung der Massenarbeitslosigkeit, den Abbau der Lehrstellenmisere usw. Der Markt hat in den letzten Jahren bewiesen, daß er nicht dazu in der Lage ist, das zu regeln. In den Kategorien von Angebot und Nachfrage kann er nur aufGegenwartserfordernisse reagieren, aber keine Zukunft gestalten.
Wie sehen die Haushalte aus? Im Umweltbereich gibt es eine Senkung um 3 %, im Verkehrsbereich um 4,4 % und im Wirtschaftsbereich, rechnet man den Kohlepfennig heraus, um sage und schreibe 15 %. Das heißt: Für die Wirtschaft stehen - pro Kopf der Bevölkerung - 1996 135 DM zur Verfügung, für die Umwelt ganze 16 DM, für Gesundheit 10 DM, aber für den Verteidigungshaushalt 605 DM. Aber das ist noch nicht die wirklich richtige Zahl; denn ein großer Teil der notwendigen Finanzleistungen ist in anderen Haushalten versteckt, so die Pflichtbeiträge zu WEU und NATO im Auswärtigen Amt, ebenso wie die Militärhilfe, die vom Kanzler an die Türkei versprochen wurde, die MEKO-Fregatten. Und aus dem Haushalt „Allgemeine Finanzverwaltung" soll in diesem Jahr mindestens hälftig der Einsatz in Bosnien finanziert werden.
Der Verteidigungshaushalt steigt um 1,2 %, d. h. um 500 Millionen DM. Und dann wird behauptet, der Sozialstaat sei nicht mehr zu finanzieren.
Ich muß einmal fragen: Wer finanziert denn den Sozialstaat? Nimmt man den Zeitraum von 1984 bis 1994, so wird eine deutliche Verschiebung erkennbar. Die Staatseinnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen sind deutlich stärker als die Staatseinnahmen insgesamt gewachsen. Betrachtet man dann die Entwicklung der einzelnen Steuerarten, so fällt auf, daß die Zuwächse aus der Erhöhung der Lohnsteuer um 95,4 vom Hundert, d. h. von 136,4 auf 266,5 Milliarden DM, und der Umsatzsteuer um 113,5 vom Hundert, d. h. von 110,5 auf 235,7 Milliarden DM, total aus dem Rahmen fallen. Die breite Allgemeinheit der kleinen und mittleren Verdiener finanziert also diesen Sozialstaat. Und den Menschen aus diesen Schichten machen Sie Vorwürfe, wenn sie berechtigterweise Ansprüche anmelden, die ihnen zustehen. Dagegen sind die Steuern aus den Schichten der Vermögenden sogar überproportional gesunken. Hier geht es also wirklich nicht mehr um Kleinigkeiten.
Der Kanzler hat sich hier am Mittwoch hingestellt und gesagt:
Es war der Stil unserer Republik in diesen Jahren,
zu lange zu glauben es gehe automatisch so wei-
Dr. Barbara Höll
ter und wir würden immer besser leben können und immer weniger leisten müssen.
Damit wirft er der Masse der Bevölkerung de facto eine Hängemattenmentalität vor.
Es geht hier um das Grundgesetz. Hat es noch Gültigkeit? Es geht um Art. 20 GG, um die Sozialstaatspflichtigkeit, die Sie mit Ihrem Haushaltsentwurf endgültig aushebeln wollen. Sie ist ein eigenständiger Wert und nicht nach ökonomischen Marktmechanismen zu messen. Und es geht um Art. 14 GG. Es geht darum, ob Eigentum tatsächlich verpflichtet, ob sein Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll.
An dieser Stelle sind wir dann auch da, wo wir fragen müssen: Warum wird in diesem Hause ständig nur über die Ausgabenseite diskutiert? Es wird nicht ausreichen, nur über Umschichtungen innerhalb der Haushalte zu diskutieren, sondern es geht darum, tatsächlich neue Finanzierungsquellen zu eröffnen.
Der Kanzler hat hier am Mittwoch bemerkt, es sei ein Ladenhüter, zu sagen, den Reichen gehe es zu gut. Ich meine, es ging ihnen noch nie so gut wie in der Bundesrepublik der 90er Jahre. Ich glaube, nach diesen Umschichtungen von unten nach oben ist es tatsächlich an der Zeit, auch diejenigen, die an der Einheit unwahrscheinlich verdient haben, zur Kasse zu bitten und bei ihnen neue Finanzierungsquellen zu erschließen.
Ich bedanke mich.
: Reden Sie doch keinen