Rede von
Prof. Dr.
Peter
Glotz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat einen Zukunftsminister berufen. Sie hat in der Koalitionsvereinbarung eine Qualifikations- und Innovationsoffensive angekündigt. Wir Sozialdemokraten haben das eine wie das andere begrüßt. Wir haben Herrn Minister Rüttgers beim Haushalt 1995 mit Samthandschuhen angefaßt, mit dem Argument, als neu berufener Minister habe er den Haushalt 1995 nicht wirklich beeinflussen können.
Den jetzigen Haushalt konnte er beeinflussen. Ich muß heute feststellen: Die Qualifikations- und Innovationsoffensive findet nicht statt. Sie ist heiße Luft.
Der Zukunftsminister findet sozusagen statt, aber bloß als Kommunikator, nicht als Umsetzer. Herr Rüttgers mag der Tag- und Nachtschatten des Bundeskanzlers sein - um Günter Grass zu zitieren. Auf seinen Haushalt hat sich das aber noch nicht ausgewirkt. Der Zukunftsminister ist blaß um die Nase.
Ich spiele hier nicht das alberne Schwarzer-PeterSpiel zwischen Regierung und Opposition und zwischen Bund und Ländern. Ich weiß wohl, wie tief auch sozialdemokratische Länder gelegentlich in den Bildungshaushalt hineinschneiden. Ich weiß wohl, daß auch die SPD angesichts der Staatsverschuldung und der Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte nicht beliebig viel Geld für Forschung und Bildung zur Verfügung hätte.
Aber ich sage mit allem Ernst, meine Damen und Herren, und unter voller Deckung durch meine Fraktion einschließlich der Haushaltspolitiker: Die deutschen Hochschulen und die deutsche Berufsbildung sind in einem Zustand, in dem man den Karren nicht weiterlaufen lassen kann wie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten.
Dr. Peter Glotz
Ich neige nicht zu pathetischen Übertreibungen, aber ich fühle mich verpflichtet festzustellen: Wenn wir noch ein halbes Jahrzehnt lang Bildung und Forschung weiterhin als Haushaltsposten unter Haushaltsposten bewerten, dann sind viele deutsche Hochschulen ruiniert, und die deutsche Berufsbildung ist halbiert, meine Damen und Herren.
In diesem Punkt helfen die Rechnungen von 1995 auf 1996, die Herr Rüttgers stolz vorträgt, nicht weiter. Der Bundesanteil am Bildungsbudget lag 1975 bei rund 10 %. Jetzt liegen wir weit unter 8 %.
Wenn der Bund so wie 1975 weitergemacht hätte - damals war der Höhepunkt der Finanzierung -, hätten wir heute 3 Milliarden DM mehr im Haushalt des Herrn Rüttgers stehen.
- Sie haben durchaus recht. Der Abstieg fing nicht erst bei Helmut Kohl an. Aber bei Helmut Kohl hat er sich - und zwar nicht erst ab 1989 wegen der Sonderbedingung Wiedervereinigung, sondern bereits ab 1982 - absolut radikalisiert. Sie haben dieses Thema überhaupt nicht wichtig genommen.
Die Regierung betreibt ein Zentralgebiet der Politik wie ein Kavallerieregiment die Schreibstube: als Nebensache. Das ist nicht nur verantwortungslos. Ich glaube, es ist auch töricht.
Es geht jetzt nicht um den üblichen Zank zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten.
Jetzt geht es um den Rang unserer Hochschulen und um das Überleben eines Systems, das in der ganzen Welt berühmt ist, das aber in Gefahr gerät, nämlich um die duale Berufsausbildung. Bildung und Forschung müssen wieder den Rang bekommen, den sie beispielsweise unter Bundeskanzler Brandt hatten, oder wir verfehlen alle gemeinsam unsere Verantwortung.
Dazu ist auch eine Trendwende beim Bildungs- und Forschungshaushalt des Bundes notwendig. Sie haben recht, wenn Sie sagen, Herr Rüttgers, Geld ist nicht alles. Sie haben recht, wenn Sie sagen, der Bund allein kann vieles nicht bewegen. Sie haben recht, wenn Sie auf die Finanzierungsprobleme hinweisen. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie auf eine neue Prioritätensetzung zugunsten von Bildung und Forschung verzichten.
An unseren Anträgen zur zweiten und dritten Lesung werden Sie erkennen, daß wir an hundert Stellen Einsparungsvorschläge machen. Bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und bei der Investition in Köpfe aber muß Butter bei die Fische. Dies werden Sie an der sozialdemokratischen Haushaltspolitik erkennen, meine Damen und Herren.
Es ist eine Versündigung an den nachkommenden Generationen, daß diese Bundesregierung auf eine solche Trendumkehr verzichtet.
Jetzt, ein knappes Jahr nach Ihrem Amtsantritt, Herr Minister, muß ich das auch an Sie persönlich adressieren. Wenn Sie sich die Statistiken ansehen, stellen Sie fest: 1991 gibt es eine deutliche Ausbuchtung des Bildungs- und Forschungshaushaltes nach oben. Ich mache Jürgen Möllemann nur ungern Komplimente, aber ich muß sagen: Das ist die Möllemann-Ausbuchtung. Ich stelle mit Bedauern fest: Eine auch nur einigermaßen vergleichbare RüttgersAusbuchtung haben Sie noch nicht zustande bekommen, Herr Bundesminister.
Aber trickreicher als Ihre direkten Vorgänger sind Sie schon. Ich meine nichts Negatives, wenn ich Ihre Geschäftsführerraffinesse lobe. Die Idee, Ihren Haushalt über Zinszahlungen des einkommensmäßig untersten Fünftels der Studentenschaft aufzunorden, ist so hinterlistig - auf bayerisch würde ich sagen, aber das möchte ich Ihnen als rheinischem Menschen nicht zumuten: hinterfotzig -,
daß sich einem fast ein gequältes Bewunderungsstöhnen entringt. Aber ich füge gleich hinzu: Für viele Studierende würde sich die Rückzahlungsschuld verdoppeln und damit Dimensionen erreichen, die vom Studium abschrecken.
Wohin, verehrter Herr Rüttgers, wollen Sie die Leute eigentlich abschrecken, nachdem auch die Zahl der Ausbildungsplätze im dualen System zurückgeht?
Ihr Plan ist konzeptionslos oder, schärfer ausgedrückt, ruchlos.
Meine Damen und Herren, wir werden uns überlegen müssen, wo wir neue Finanzierungsquellen für die Bildung erschließen. Ich glaube auch nicht, daß alle notwendigen Mittel einfach aus staatlichen Haushalten erschlossen werden können. Aber ausgerechnet die untersten 20 % zu kneifen, die sowieso
Dr. Peter Glotz
schon am meisten gekniffen sind, das ist ganz und gar unakzeptabel.
Damit bin ich wieder bei der Geschäftsführerraffinesse unseres Zukunftsministers.
Er weiß natürlich, daß er mit seiner BAföG-Umschichtung an den sozialdemokratischen Ländern im Bundesrat scheitert. Deswegen will er die Länder nach dem Motto „Mit Speck fängt man Mäuse" ködern und sperrt zusätzliche Mittel für Hochschulbau, Forschungsorganisation oder Hochschulsonderprogramme qualifiziert.
Hinter diesem Konzept steht die Anthropologie von Pferdehändlern. Ich prophezeie Ihnen, Herr Bundesminister: Mit diesem Zaubertrick werden Sie scheitern. Was wir jedenfalls dazu beitragen können, daß Sie im Bundesrat scheitern, das werden wir tun.
Selbstverständlich beschränken wir uns nicht auf bissige Kritik. Wir haben Ihrem Vorschlag einen eigenen entgegengestellt, den Sie heute mit fragwürdigen und von der Öffentlichkeit schwer kontrollierbaren Rechnungen zu konterkarieren versucht haben.
- Nein, nicht gleichwohl richtig. Der Grundtatbestand, auf den wir hinweisen, ist der folgende. Sie haben einen ordentlichen Professor an einer Universität eines unserer Bundesländer. Er ist mit einer Oberstudienrätin verheiratet.
Er sagt einem - jetzt passen Sie einmal auf -: Mein Sohn ist mit 27 Jahren jetzt gerade fertig geworden. Wissen Sie, was mir im Budget fehlt? 700 DM.
Das heißt, ein Ehepaar mit diesem Einkommen hat Bildungstransfers - Kindergeld, Kinderfreibeträge und anderes - von 700 DM. Das, meine Damen und Herren, ist in der Tat unnötig. Von diesem Geld kann man ein ganzes Stück von dem finanzieren, was Herr Rüttgers den ärmsten 20 % der Studenten wegnehmen will. Das ist der Grundgedanke.
Dann ist die Frage, ob man allen, die eine Ausbildungsvergütung bekommen, die berühmten 400 DM oder 500 DM gibt. Ich gebe Ihnen recht: Da muß man genau rechnen, ob es 380 DM oder 500 DM sind. Zu dieser gemeinsamen Rechnung sind wir ja bereit. Aber dann müssen auch Sie dazu bereit sein und dürfen nicht einfach nur sagen Das steht in meinem
Haushalt, das mache ich jetzt ganz schnell, bei den unteren 20 % kassieren wir ab, und damit sind meine Probleme gelöst. - Das geht nicht, meine Damen und Herren, jedenfalls nicht mit uns.
Sie wissen im übrigen ja auch, was die Hochschulrektorenkonferenz, das Deutsche Studentenwerk, die Gewerkschaften und selbst unionsgeführte Länder zu Ihrem Patentrezept sagen. Reden Sie mit uns, bevor Sie mit Karacho in die Sackgasse fahren.
Hier bin ich sozusagen beim Cantus firmus dieser Haushaltsdebatte im Forschungs- und Bildungsbereich. Mein Plädoyer lautet: Trauen Sie sich Komplexität zu, Herr Rüttgers. Die Probleme des Ressorts, in dem Sie arbeiten und in dem wir arbeiten, sind nur durch neue Ideen lösbar, nicht durch Schlaumeiereien. Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutlichen.
Erstes Beispiel: Schon seit einigen Jahren werden die notwendigen Ausbildungsplätze im dualen System nur noch mit Preßwehen geboren. Die Regierung macht große Appelle. Die Opposition weist pflichtgemäß auf die Defizite hin. Die Regierung beschimpft die Opposition wegen angeblicher Schwarzmalerei. Am Schluß wurde das Problem dann, jedenfalls bisher, mit Ach und Krach gelöst. Wir wünschen uns gemeinsam, daß es auch dieses Jahr gelingen möge. Ihr Sonderprogramm für 14 500 außerbetriebliche Ausbildungsplätze mag ja dazu beitragen. Es gibt aber keinen Anlaß, die Opposition zu beschimpfen und einen Kollegen wie den Kollegen Thierse mit dem Begriff „verhetzen" zu belegen. Herr Kollege Rüttgers, diesen Begriff sollten Sie wirklich aus der Debatte nehmen.
Herr Kollege Rüttgers, es ist absehbar, daß irgendwann der Zeitpunkt kommt, ab dem auf diese Weise die Probleme nicht mehr lösbar sind. Jetzt sage ich: Beenden Sie doch den jährlichen Eiertanz, und denken Sie mit uns gemeinsam über einen überbetrieblichen Leistungsausgleich zur Rettung des dualen Systems nach. Ich will keine klassenkämpferisch motivierte Abgabe. Wir wollen eine pfiffige Lösung, die uns diesen jährlichen Eiertanz erspart. Muten Sie sich Komplexität zu, und diskutieren Sie mit uns, wie man eine Politik der pathetischen und immer wirkungsloseren Appelle an die Wirtschaft durch eine Politik der intelligenten Anreize ablösen kann.
Mein zweites Beispiel zielt auf das Thema Risikokapital für junge Technologieunternehmen. Da stimmen wir beide in der Rhetorik deckungsgleich miteinander überein. Das Problem ist nur: Weil Sie wissen, daß man zu einem wirksamen Programm den Finanzminister, den Wirtschaftsminister, die Justizministerin, die Banken und noch viele andere Partner braucht, fassen Sie das heiße Eisen gar nicht an. Ich
Dr. Peter Glotz
sage Ihnen: Nichts gegen Geschäftsführergeschicklichkeit und gegen Vermittlungsausschußlogik; aber als Zukunftsminister werden Sie damit nicht durchkommen.
In dieser Bundesrepublik ist es derzeit so: Alle reden von Innovation, aber sie passiert nicht. Ich habe Ihnen vor einem Jahr jede Kooperation im Hinblick auf ein vielfältiges Innovationsprogramm angeboten. Es müßte viele Elemente umfassen: Förderung von „start up and seed capital", verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für junge Technologieunternehmen, Änderungen von Steuersätzen, Reform des Insolvenzrechts. Ja, das ist schwierig, das ist komplex. Aber wenn Sie sich Komplexität nicht zutrauen, werden Sie in diesem Ressort scheitern, Herr Rüttgers.
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stelle ich fest:
Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, der Forschungs- und Bildungspolitik nicht nur in Sonntagsreden - das tun alle -, sondern auch in der täglichen Politik und beim Haushalt eine neue Priorität zu geben. Die Qualität unserer Bildungseinrichtungen ist nun wirklich wichtiger als die Verschickung irgendwelcher Tornados irgendwohin und manches andere, was von dieser Regierung für wichtig genommen wird.
Zweitens. Die Probleme von Bildung und Forschung sind angesichts leerer Kassen nicht durch clevere Zauberkunststücke, sondern nur durch anspruchsvolle und zugegebenermaßen schwer zu bewerkstelligende Reformkonzepte lösbar. Sie müssen sich Komplexität zutrauen und Ihr ganzes Kabinett für die Bildungsreform gewinnen. Wenn Sie es als Einzelkämpfer versuchen, müssen Sie scheitern.
Drittens. Entweder bringen wir gemeinsam - der ganze Bundestag - durch Veränderung der Rahmenbedingungen Bewegung in unsere erstarrte Industrie, oder die Arbeitslosigkeit wird in der Tat immer schlimmer werden. Wo gibt es in der Bundesrepublik Unternehmen, die jünger als 20 Jahre sind und beispielsweise einen Umsatz von mehr als 500 Millionen DM haben? Wo sind die deutschen Entsprechungen zu Apple oder Compaq? Jetzt könnte ich noch eine ganze Reihe von anderen Namen nennen.
Meine Damen und Herren, der Zukunftsminister - das ist mein letzter Satz - darf die Zukunft nicht nur beschwören, er müßte sie gestalten.
Herzlichen Dank.