Rede von
Annelie
Buntenbach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Blüm, das war ja am Anfang wirklich eine Rede, die zu Herzen geht. Ich will und kann den Bogen jetzt nicht so weit spannen, wie Sie das getan haben. Ich möchte auf dem Teppich bleiben und mich gleich Ihrem Haushaltsentwurf zuwenden.
Aber eine Vorbemerkung muß ich einfach machen: Herr Blüm, reden Sie die Pflegeversicherung nicht schön! Angesichts der vielfältigen Probleme, die deren Umsetzung allerorten aufwirft, erwarten wir von Ihnen etwas ganz anderes: Geben Sie endlich zu, daß noch vielfacher Änderungsbedarf besteht, damit die Pflegeversicherung zum Fortschritt und nicht zu einer Beschwernis für die Betroffenen wird.
Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie von seiten der Regierung die großen Herausforderungen dieser Zeit angehen! Das war ja vorhin angekündigt. Aber offensichtlich haben wir ein unterschiedliches Verständnis davon, was die großen Herausforderungen dieser Zeit sind. Ich dachte, sie bestehen aus dem Kampf gegen Massenerwerbslosigkeit und Armut. Aber offensichtlich meint Herr Fuchtel, daß die Herausforderung darin besteht - ich werde das sehr kurz zusammenfassen --, den Mut zu haben, auch dann Sozialausgaben zu kürzen, wenn es offensichtlich unsinnig und gegenüber den Betroffenen nicht zu verantworten ist.
Weit mehr als 3 Milliarden DM will die Bundesregierung allein bei der Arbeitslosenhilfe streichen. Das ist einer der größten Sparposten in diesem Haushalt. Nun, wer im Geld schwimmt, kann auch abgeben. Offensichtlich meint die Bundesregierung, daß die Milliarden, die in den öffentlichen Kassen fehlen, auf privaten Konten liegen. Soweit kann ich sogar folgen. Nur, daß diese Konten ausgerechnet denen gehören sollen, die Arbeitslosenhilfe beziehen, darauf ist außer Ihnen noch niemand gekommen - und das zu Recht.
Aber ich kann gar nicht so zynisch werden, wie Ihr Haushaltsentwurf gegenüber den Betroffenen ist. Wissen Sie eigentlich, wie hoch die Arbeitslosenhilfe monatlich im Durchschnitt ist, was die Menschen an Geld zur Verfügung haben? In den alten Bundesländern sind das durchschnittlich 984 DM, in den neuen Bundesländern noch weit weniger, nämlich 776 DM. Diese Zahlen sind ein statistischer Durchschnitt. Das heißt, für viele sieht die Situation noch schlimmer aus. Viele bekommen weniger als 600 DM im Monat. Im Osten ist das fast ein Viertel aller Arbeitslosenhilfebezieher. Jetzt wagen Sie es wirklich, ausgerechnet diesen Leuten noch das Geld zu kürzen? Das ist doch ein bodenloser Zynismus.
Sicher, es geht nicht um eine lineare Kürzung, sondern um eine Strukturveränderung. Sie nennen es Arbeitslosenhilfereform. Das ist eine viel zu hübsche Bezeichnung für einen widerlichen Sachverhalt. Dieser Sachverhalt besteht im wesentlichen aus verschärften Kontrollen, Zwangsmaßnahmen und Schikanen gegenüber den Betroffenen. Sie wollen die Leute in Billig-ABM drücken. Vielleicht können Sie mir dann bei Gelegenheit erklären, wo diese überhaupt herkommen sollen, wenn Sie gar keine aktive Arbeitsmarktpolitik mehr betreiben. Sie wollen die Leute in billige Ernteeinsätze drängen. Das ist eine echte Perspektive für die „kräftigen jungen Leute", von denen immer wieder gesprochen wird, und wahrscheinlich auch ein echter Beitrag zum Erhalt ihres Marktwertes.
Sie wollen die Bedürftigkeit noch genauer prüfen und noch mehr als bisher in den privaten Angelegenheiten der Betroffenen herumschnüffeln. Dabei können Sie sich mit Herrn Seehofer zusammentun und in den Kühlschränken von Wohngemeinschaften ganz genau nachschauen, ob denn jede und jeder auch ein eigenes Käsekästchen und Margarinetöpfchen hat.
Sie wollen zukünftig die Arbeitslosenhilfebezieher nach ihrem jeweils aktuellen Marktwert einstufen. Wir alle, auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, wissen doch, daß die Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben, gerade wenn sie länger dauert, Qualifikationen zerstört und daß die adäquate Wiedereingliederung immer schwerer wird. Genau gegen diese Risiken zu schützen, das ist doch die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge, die die Beschäftigten einzahlen, sind nicht nach deren zukünftigem Marktwert nach zwei Jahren Erwerbslosigkeit berechnet.
Genau hier liegt außerdem die Verantwortung von aktiver Arbeitsmarktpolitik, nämlich Angebote zur Wiedereingliederung zu schaffen, die dem Verlust an Qualifikation perspektivische Alternativen, aber nicht Ernteeinsätze entgegensetzen. Wenn diese Verantwortung von der Bundesregierung nicht wahrgenommen wird, dann kann man dies doch nicht den einzelnen Erwerbslosen anlasten und ihnen die Schuld in die Schuhe schieben.
Annelle Buntenbach
Sie setzen einen solchen Affront gegen die Erwerbslosen in die Welt, Herr Blüm, und wissen noch nicht einmal, wie dieses absurde Verfahren der Marktwertbestimmung überhaupt funktionieren soll. Wir haben uns erlaubt, dazu eine Anfrage an die Bundesregierung zu stellen, nämlich: Nach welchen Kriterien sollen die Arbeitsämter künftig entscheiden, welches Gehalt der Erwerbslose auf dem Arbeitsmarkt noch erzielen könnte und wieviel Prozent dieses fiktiven Nettogehaltes dann künftig als Arbeitslosenhilfe ausgezahlt werden? Die prosaische Antwort vom August 1995: Die Prüfung, welche Vorschriften geschaffen werden sollen, ist noch nicht abgeschlossen. - Diese Vorschriften sollten Sie sich besser ganz sparen und Ihre sogenannte Arbeitslosenhilfereform schnellstens wieder einstampfen, bevor Sie damit noch mehr Schaden anrichten.
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, unterstellen den Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben, immer wieder, sie wollten nicht arbeiten.
- Das ist die Unterstellung, die genau aus diesen Kontrollen und Zwangsmechanismen hervorgeht, die Sie einrichten.
Faktum ist, daß die Menschen nicht arbeiten können. Diese tragische Tatsache kann angesichts von 6 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen niemand vom Tisch wischen. Dagegen helfen keine Kürzungen, keine noch so scharfen Kontrollen und Zwangsmaßnahmen gegen die Betroffenen.
Es sind nicht die Betroffenen, die schuld sind und ihr Verhalten ändern müssen. An allererster Stelle ist es diese Regierung. Wo bleiben denn Ihr Angebot an Arbeitsplätzen und Ihre aktive Arbeitsmarktpolitik? Es erwartet bestimmt niemand, daß Sie Millionen von Arbeitsplätzen aus dem Ärmel schütteln. Ich erwarte aber, daß Sie ein klares Signal für ein echtes Bemühen setzen. Genau davon kann ich in diesem Haushaltsentwurf nichts erkennen; im Gegenteil.
Der Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit ist auf null gesetzt. Das trifft ausschließlich die aktive Arbeitsmarktpolitik, die von dort gemacht werden könnte. Den Pflichtausgaben, die sich unmittelbar aus der Arbeitslosenversicherung ergeben, muß die Bundesanstalt auf jeden Fall nachkommen.
Sie nehmen den Arbeitsämtern mit all den Kontroll- und Zwangsmaßnahmen jede Luft zum Atmen und jeden Hauch einer Chance, in den Regionen überhaupt eine neue Dynamik in die Arbeitsmarktpolitik zu bringen. Wenn Sie dieses Durchstylen einer Behörde - vielleicht bleibe ich besser bei der Bezeichnung Anstalt - auf puren Zwangscharakter für ein Modellprojekt der Reform des öffentlichen Dienstes und einen Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung halten, dann gute Nacht.
Einen Teil der Arbeitslosenhilfebezieher wollen Sie künftig direkt an die Sozialhilfe durchreichen. Dann können die Kommunen sehen, wie sie mit dem Problem umgehen. Natürlich kann man beim Bund Kosten sparen, indem man nicht das Problem angeht, sondern die Kostenstellen zu Lasten der Betroffenen hin- und herschiebt. Darin haben Sie große Übung: vom Bund an die Bundesanstalt, an Land oder Kommune und wieder zurück.
Herr Seehofer will, daß die Kommunen 600 000 Sozialhilfeberechtigte in Lohn und Brot bringen. Auch wir wollen, daß Sozialhilfeberechtigte stärker in aktive Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden. Aber wie sollen ausgerechnet die ausgebluteten Kommunen das leisten können? Geld oder organisatorische Möglichkeiten werden vom Bund nicht mitgeliefert, geschweige denn irgendwelche vernünftigen Konzepte. Ein solches Vorgehen, von dem von vornherein alle wissen, daß es überhaupt nicht funktionieren kann, ist einfach unredlich.
Eine Sozialstaatsreform ist nötig, Herr Blüm; das ist gar keine Frage. Die Frage ist aber, in welche Richtung diese Änderungen gehen sollen. Wir wollen solidarische Lösungen, die Sozialversicherungssysteme armutsfest machen, Erwerbsarbeit solidarisch umverteilen, Frauen gleichberechtigt einbeziehen und besser absichern.
Was Sie Sozialstaatsreform nennen, ist nichts anderes als die weitere Durchlöcherung sozialer Absicherung, und das auf der ganzen Linie. Ihre Maßnahmen - Bundessozialhilfegesetz, Ausländerleistungsgesetz, Arbeitslosenhilfe, Arbeitsförderungsgesetz - zeigen doch ganz klar, wohin Sie wollen. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, setzen offensichtlich auf Deregulierung, auf Ausweitung des Billiglohnsektors, auf Senkung der sozialen Mindeststandards. Die Schutzrechte und Regeln, die in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erkämpft worden sind, scheinen Ihnen nur Hindernisse im Fluß der freien Marktwirtschaft zu sein, die die Probleme von selbst am besten lösen würde, wenn sie sich so frei entfalten könnte wie z. B. in Amerika.
Eine solche Lösung - das können Sie sich in Amerika anschauen - macht die Gesellschaft zu einem sozialen Pulverfaß. Sie beruht auf einem immensen Reichtums- und Privilegiengefälle, zwingt Arme ohne soziale Absicherung, jede Arbeit unter jeder Bedingung anzunehmen, sich bei den Reichen um jeden Preis zu verdingen und da all die Aufgaben zu erfüllen, die an Dienstleistungen nicht mehr öffentlich organisiert werden.
In den privaten Haushalten, die es sich leisten können, gibt es bei Kinderbetreuung und Hausarbeit zu Billiglöhnen endlich die neuen Arbeitsplätze, von denen Sie hier immer schwärmen. Die hätten, finde ich, besser in das vorige Jahrhundert gepaßt.
Sozialstaat ist der Versuch des Schutzes vor den härtesten Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Arbeit und Einkommen, bei der Existenzsicherheit, wie der Markt sie zwangsläufig mit sich bringt.
Armelle Buntenbach
Das jedenfalls war die Haltung der Väter der Sozialen Marktwirtschaft. An deren Konzepten läßt sich viel begründete Kritik anbringen, aber nicht an der Grunderkenntnis, daß die menschenverachtenden Tendenzen des Marktes durch politische Steuerung konterkariert werden müssen.
Von dieser Grunderkenntnis rückt die Bundesregierung immer weiter ab. Das können auch Ihre großen Worte, Herr Blüm, nicht zudecken. Das Ergebnis ist: keine Verbesserung des Angebots an Arbeitsplätzen, die dringend nötig wäre, sondern Entmutigung. Die schlechte Lage der von Ausgrenzung Betroffenen wird noch mehr verschlechtert. Sie werden weiter verunsichert, als Sündenböcke diffamiert und gedemütigt, ohne Perspektive draußen stehengelassen.
Die Botschaft dieser Politik für die Gesellschaft ist verheerend. Es werden Strukturen geschaffen, die das Auseinanderdriften der Gesellschaft beschleunigen und die soziale Ausgrenzung eines großen Teils dieser Gesellschaft zementieren. Es entsteht ein immenses gesellschaftliches Konfliktpotential, und Sie steuern uns in eine Zerreißprobe.
Patentrezepte gegen Massenerwerbslosigkeit hat in diesem Hause niemand.