Rede von
Rudolf
Dreßler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Jahren wurde dieses Haus sowohl in der ersten wie in der zweiten und auch in der dritten Beratung des Bundeshaushaltes für Arbeit und Sozialordnung der verbalen Klimmzüge des Bundesarbeitsministers teilhaftig: Wie toll doch der Sozialstaat bei dieser Regierung aufgehoben sei, sehe man am stetigen Wachstum des Sozialetats. Eine Wiederholung dieser alljährlichen Aufführung ist in diesem Jahr ausgeblieben, wie wir gehört haben.
An Hand des Rückganges im Sozialetat von über 10 Milliarden Deutsche Mark muß diese Vorstellung beim Bundeshaushalt 1996 ausfallen. Das übrigens müßte nicht von Schaden sein. Denn die These von Herrn Blüm, ein stetiges Wachstum der Sozialausgaben sei Ausdruck der Qualität in der Sozialpolitik, war, gelinde gesagt, reichlich frivol.
Die Wahrheit nämlich war weniger erfreulich. Das stetige Wachstum des Sozialetats war nicht Ausdruck planvoller, bewußter sozialpolitischer Gestaltung, sondern war erzwungen: erzwungen von einer stetig wachsenden Zahl an Arbeitslosen. Mehr Arbeitslose, höhere Sozialausgaben: So lautete die politische Gleichung der vergangenen Jahre.
Diese Regierung war Opfer ihrer eigenen mangelhaften Wirtschaftspolitik, die Arbeitslosigkeit in Kauf nahm oder gar produzierte, die versäumte, mit gezielten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Entwicklung entgegenzuwirken. Der stetig gewachsene Sozialetat der vergangenen Jahre war also nicht Ausdruck sozialpolitischer Qualität, sondern des Gegenteils. Er war Ausdruck des gesellschaftspolitischen Mißmanagements und der arbeitsmarktpolitischen Verantwortungslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, wäre der Rückgang der Sozialausgaben eigentlich begrüßenswert, wenn, ja wenn dieser Rückgang durch ein Sinken der Zahl der Arbeitslosen, durch eine Abnahme der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufen worden wäre, wenn die politische Gleichung des Jahres 1996 also lautete: weniger Arbeitslose, weniger Sozialausgaben. Dies ist aber offenbar nicht der Fall. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auf hohem Niveau. Der sogenannte konjunkturelle Aufschwung, derzeit allenfalls ein laues Lüftchen, geht völlig am Arbeitsmarkt vorbei.
Wenn also der Rückgang der Sozialausgaben 1996 nicht durch einen Rückgang der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufen worden ist, dann gibt es nur eine denkbare andere Erklärung: Diese Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P., fuhrwerken in den Sozialleistungen herum. Sie streichen, sparen und würgen sich die 10 Milliarden DM für 1996 zusammen. Die Wahrheit hat sie also eingeholt. Diese Koalition kann ihre Politik des Sozialabbaus nicht mehr hinter dem Mäntelchen eines durch wachsende Arbeitslosigkeit aufgeplusterten Sozialetats verbergen. Sozialer Rückschritt ist nunmehr auch konkret an Haushaltszahlen ablesbar.
Es war ja bemerkenswert, daß der für diesen Haushalt federführende Minister es in seiner ganzen Rede sorgsam vermieden hat, auch nur einen Satz zu den Inhalten dieses Haushalts zu sagen und uns eine Begründung dafür zu geben. Das war bemerkenswert!
Man könnte es auch anders ausdrücken: Es ist erstaunlich, auf welch naßforsche Art hier Politik gemacht wird. Da stellt die Regierung, die Herren Waigel und Blüm, Arm in Arm fest, der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit sei gesundet. Für den Bund ergebe sich daraus die erfreuliche Konsequenz, ein aus seiner Defizithaftung folgender Bundeszuschuß an die Bundesanstalt sei nicht notwendig. Man stelle sich vor: Die Massenarbeitslosigkeit bleibt, aber die Bundesanstalt für Arbeit braucht kein Geld. Das ist schlicht absurd, meine Damen und Herren.
Rudolf Dreßler
Man mag sich ja die Welt durch Gesundbeterei eine Weile schönreden können, aber die Stunde der Wahrheit wird man dadurch nicht verhindern können. Noch im Haushaltsjahr 1996 wird sich das alles als Trick herausstellen. Angesichts der Lage am Arbeitsmarkt wird die Bundesregierung der Bundesanstalt für Arbeit doch einen Bundeszuschuß in Milliardenhöhe zahlen müssen. In Wahrheit wissen die Herren Waigel und Blüm das auch; sie tun nur so als ob, und die Regierungsfraktionen machen mit. Soll diese Trickserei etwa Haushaltspolitik sein?
Nun gibt es natürlich noch eine andere Interpretationsvariante, mit der die Zahlenakrobatik der Koalition erklärt werden könnte. Diese allerdings ist nicht minder pervers. Die Bundesregierung definiert das zu erwartende Defizit der Bundesanstalt für Arbeit nicht nur einfach künstlich weg, nein, sie vermeidet es tatsächlich. Sie tut dies, indem sie brutal in die Leistungen eingreift und kürzt. Daß die Herren Kohl, Waigel und Blüm in dieser Hinsicht Männer mit Vergangenheit sind, und zwar einer reichlich unrühmlichen, können sie nicht einmal selber leugnen.
Was also liegt näher als die Prognose, daß diese Bundesregierung auch diesmal zum Mittel des Sozialabbaus greifen wird?
Nun hat Herr Rexrodt, als Bundeswirtschaftsminister sicherlich einer der intellektuellen Leuchttürme dieser Koalition,
sich vor wenigen Tagen mit der Bemerkung vernehmen lassen, unser Land benötige in Sachen Sozialpolitik einen ökonomischen Befreiungsschlag. Daß Rexrodtsche Befreiungsschläge in der Regel zu sozialpolitischen K.-o.-Schlägen werden, das wissen wir. So liest sich auch diesmal die Liste der Maßnahmen von Herrn Rexrodt, die er als Befreiung bezeichnete, nicht anders als ein Gruselkatalog. Was er als Befreiung definiert, ist nichts weiter als die weitgehende Privatisierung der sozialen Sicherung. Es ist die Zerstörung der solidarisch finanzierten Sozialversicherung.
Dies ist übrigens nicht verfassungswidrig. Aber es ist auch nicht verfassungswidrig, die deutsche Bevölkerung darauf hinzuweisen und hinzuzufügen: Wenn Sie demnächst beabsichtigen, diesen neuen Weg zu gehen, wird an irgendeiner Stelle der Straße das Schild mit den Worten „No return" , „keine Rückkehr", auftauchen, und dann ist es zu spät für Art. 20 GG und für die bis dato parteienübergreifende Obereinstimmung, daß diese Vorschrift zu wahren sei, daß sie unser eigentliches Glück war, unser Standortvorteil, die Voraussetzung für unsere wirtschaftliche Expansion sowie dafür, all das zu erreichen, was wir heute haben. Auf diesem Weg, meine Damen und Herren von der Union, wird Sie die SPD nicht nur nicht begleiten, sondern wir werden alles versuchen, was in unseren Kräften steht, Sie davon abzuhalten.
Weil nun der Bundeswirtschaftsminister diesen Befreiungsschlag formuliert hatte, will ich wenigstens die Volkspartei CDU/CSU auf eine Winzigkeit hinweisen dürfen. Rexrodt ist ja, wie Sie wissen, ein Berliner Spitzenpolitiker.
- Ja, so steht es in den F.D.P.-Broschüren.
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß hinter dieser Art von Befreiungsschlag, die er auch heute wieder in diesem Haus vertreten hat, zur Zeit nach On Umfragen 2 % der Berliner Bevölkerung stehen,
und ich kann nur sagen: Als Volkspartei CDU/CSU sollten Sie von Ihrer gravierenden Mehrheit Gebrauch machen und solche gefährlichen Wegbereiter für eine veränderte Republik bremsen. Das ist auch Ihre Pflicht.
Daß die Klientel der F.D.P. den Sozialstaat als Mühlstein am Halse der Wirtschaft diskreditiert, der der deutschen Volkswirtschaft angeblich ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit nehme, ist nicht neu. Diese Leier kennen wir.
Ich will Ihnen etwas sagen: Ihre Partei ist zur Zeit auf einem Wege, den ich Vulgärkapitalismus nenne und nicht anders.
Das bedeutet, was dem Geschäft dient, ist gut, was ihm schadet, schlecht. So einfach ist diese F.D.P.-Philosophie. Gesellschaftspolitische Wertung von Politik findet nicht mehr statt, soziale Wertigkeit ist hinderlich, allein die Kasse zählt. Als Motiv dient eine als Gewinnmaximierung getarnte Habgier, und das war's dann auch schon. Das ist heute diese F.D.P.
Neu in dieser Diskussion ist für mich allerdings die Erfahrung, daß sich nunmehr auch Teile der CDU/ CSU
in einschlägiger Weise an dieser Diskussion beteiligen, genauer gesagt, der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und seine gesammelten Flüstertüten von Doss bis Dregger, von Louven bis Haungs.
Wo die Eigenverantwortung verkümmert, wo die Menschen sich daran gewöhnen, daß andere für sie sorgen, verkommt die Freiheit.
Das ist Originalton Schäuble.
Wie wahr, könnte man da nur sagen, und man kann die Frage an diese Regierung, vor allem an die
Rudolf Dreßler
CDU/CSU, anschließen: Wo sind denn eigentlich die politischen Konsequenzen aus diesem Satz? Was tun Sie, um die 3,6 Millionen registrierten erwerbslosen Menschen in Deutschland arbeitsplatzmäßig zu befrieden, damit sie endlich ihrer Eigenverantwortung gerecht werden können? Was tun Sie dafür?
Diese Menschen wollen das nämlich. Sie wollen für sich selbst sorgen, sie wollen ihre ökonomische und soziale Freiheit endlich zurück.
Tatsache ist doch, daß die arbeitsmarktpolitische Nichtstuerei dieser Regierung sie ihnen vorenthält, und angesichts der gesellschaftspolitischen Realität in Deutschland kommt dieser Satz des Herrn Schäuble einer Verhöhnung dieser Menschen gleich.
Nun hat Herr Schäuble seit geraumer Zeit ein Exempel gefunden, an dem er exekutieren möchte, was er unter Stärkung der Eigenverantwortung versteht - die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Da kann das Kanzleramt im Auftrag des Allerhöchsten noch so heftig dementieren, da kann Herr Seehofer noch so heftig räsonieren - die Wahrheit ist: CDU und CSU wollen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einschränken; wer krank ist, soll weniger Geld bekommen.
Herhalten für diese Philosophie müssen dann die sogenannten Blaumacher, denen es an den Kragen gehen soll.
Blaumacher, meine Damen und Herren, die gibt es auch, aber gesellschaftliche Realität ist, daß die erdrückende Mehrheit der arbeitsunfähigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht blaumacht, sondern schlicht krank ist.
Gesellschaftliche Realität ist auch, daß bereits heute ausreichende gesetzlich festgelegte Maßnahmen gegeben sind, dieses sogenannte Blaumachen zu bekämpfen,
etwa im Entgeltfortzahlungsgesetz, das auch regelt, daß eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am vierten Tag vorzulegen ist. Und ich zitiere den Gesetzestext im Original:
Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen.
So heißt es dort. Mit dieser Bestimmung kann man also gegen sogenannte Blaumacher vorgehen, wenn man wirklich will. Man muß sie nur anwenden, meine Damen und Herren.