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ID1305208000

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    Plenarprotokoll 13/52 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 52. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Inhalt: Zur Geschäftsordnung Dr. Peter Struck SPD 4394B, 4399A Joachim Hörster CDU/CSU 4395 B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4396 C Jörg van Essen F.D.P. 4397 C Eva Bulling-Schröter PDS 4397 D Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996) (Drucksache 13/2000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999 (Drucksache 13/2001) Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 4345 B Ernst Schwanhold SPD . . . . 4346D, 4360 B Anke Fuchs (Köln) SPD 4349 A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . 4352A Birgit Homburger F D P. 4352 C Ernst Hinsken CDU/CSU 4352B, 4370D, 4377 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 4354 C Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4357 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 4359A Rolf Kutzmutz PDS 4361 A Stefan Heym PDS 4362 C Otto Schily SPD 4363 A Rainer Haungs CDU/CSU 4363 B Anke Fuchs (Köln) SPD . . . . 4364B, 4369A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . 4365B, 4393 A Uwe Hiksch SPD 4365 D Dr. Uwe Jens SPD 4367 B Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . 4368B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . 4369 D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4371 D Rudolf Dreßler SPD 4375 B Dr. Gisela Babel F.D.P 4378 A Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4379 C Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 4380 C Rudolf Dreßler SPD 4382A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4384 A Dr. Gisela Babel F.D.P 4386B Manfred Müller (Berlin) PDS 4388B Ulrich Heinrich F D P. 4388 D Ottmar Schreiner SPD 4390 A Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 4390 D Gerda Hasselfeldt CDU/CSU 43928 Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF 4399B Doris Odendahl SPD 4401 D Günter Rixe SPD 4401 D Dr. Peter Glotz SPD 4403 C Steffen Kampeter CDU/CSU 4406 C Dr. Peter Glotz SPD 4407 D Jürgen Koppelin F.D.P. . . 4408B, 4467A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4409D Steffen Kampeter CDU/CSU 4410A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4410B Wolf-Michael Catenhusen SPD . • . 4411C Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . 4412D Maritta Böttcher PDS 4414C, 4432 B Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 4416A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4416B Edelgard Bulmahn SPD 4418B Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU . . . 4420 D Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ 4422 A Edelgard Bulmahn SPD 4422 B Hanna Wolf (München) SPD 4424 C Johannes Singhammer CDU/CSU . 4426 B Peter Jacoby CDU/CSU 4427 A Wolfgang Dehnel CDU/CSU 4428 C Ingrid Holzhüter SPD 4428D, 4431 D Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4429 B Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . 4430 D Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 4433 A Hanna Wolf (München) SPD 4433 B Klaus Hagemann SPD 4434 B Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 4436 C Klaus Kirschner SPD 4439 A Angelika Pfeiffer CDU/CSU 4441 C Marina Steindor BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4443 C Jürgen W. Möllemann F.D.P. . . . . . 4445.A Horst Seehofer CDU/CSU 4445 C Klaus Kirschner SPD 4445C, 4448D Peter DreBen SPD 4446 A Dr. Ruth Fuchs PDS 4447 B Ulf Fink CDU/CSU 4448 B Gudrun Schaich-Walch SPD 4450p Jochen Borchert, Bundesminister BML 4452 A Dr. Peter Struck SPD 4453B, 4463 D Horst Sielaff SPD 4454 C Norbert Schindler CDU/CSU 4456 A Egon Susset CDU/CSU 4457 C Horst Sielaff SPD 4458 B Peter Harry Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 4458C, 4463 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4458D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4460A Jürgen Koppelin F.D.P 4461 C Jochen Borchert CDU/CSU . . 4463A, 4464 A Dr. Günther Maleuda PDS 4464 C Max Straubinger CDU/CSU 4465 C Ilse Janz SPD 4466 C Nächste Sitzung 4468 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 4469* A 52. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adler, Brigitte SPD 7.9.95 Behrendt, Wolfgang SPD 7.9.95 * Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 7.9.95 Frick, Gisela F.D.P. 7.9.95 Grießhaber, Rita BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Heym, Stefan PDS 7.9.95 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 7.9.95 Hoffmann (Chemnitz), SPD 7.9.95 Jelena Horn, Erwin SPD 7.9.95 Dr.-Ing. Jork, Rainer CDU/CSU 7.9.95 Dr. Klaußner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Dr. Knake-Werner, PDS 7.9.95 Heidi Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 7.9.95 Angelika 90/DIE GRÜNEN Leidinger, Robert SPD 7.9.95 Lemke, Steffi BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lotz, Erika SPD 7.9.95 Lüth, Heidemarie PDS 7.9.95 Neuhäuser, Rosel PDS 7.9.95 Neumann (Berlin), Kurt SPD 7.9.95 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Schätzle, Ortrun CDU/CSU 7.9.95 Schenk, Christa PDS 7.9.95 Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 7.9.95 Irmingard 90/DIE GRÜNEN Schmidt (Aachen), SPD 7.9.95 Ursula Schmitt (Langenfeld), BÜNDNIS 7.9.95 Wolfgang 90/DIE GRÜNEN Schultz (Everswinkel), SPD 7.9.95 Reinhard Dr. Schwaetzer, Irmgard F.D.P. 7.9.95 Simm, Erika SPD 7.9.95 Stübgen, Michael CDU/CSU 7.9.95 Thieser, Dietmar SPD 7.9.95 Tröscher, Adelheid SPD 7.9.95 Wieczorek-Zeul, SPD 7.9.95 Heidemarie • für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gleich bekennen: Ich habe weder heute noch in Zukunft Lust und Spaß an einer großen sozialpolitischen Hackerei. Wir sollten nämlich bei all unseren Diskussionen nicht vergessen, daß von unseren sozialpolitischen Entscheidungen Millionen von Menschen betroffen sind. Um ein Wort von Katharina der Großen umzuwandeln: Wir schreiben auf der empfindlichen Haut von Menschen, nicht auf totem Papier.
    Deshalb plädiere ich für sozialpolitische Besonnenheit. Das ist keine tatenlose Besinnlichkeit, keine handlungslose Betroffenheit. Sie sucht ihren Weg zwischen dem Übermut derjenigen, die die Welt zum zweiten Mal erfinden wollen, und der Erstarrung ei-

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    ner Betonmentalität. Es wird nicht alles beim alten bleiben, es wird aber auch nicht alles neu. Zwischen Erstarrung und Chaos suchen wir einen Weg der Vernunft, der Verantwortung, des Augenmaßes.
    Täglich erscheinen neue Vorschläge. Schneller sind sie vergessen als ausgesprochen. Nicht jeder Lichtschein am Himmel ist ein Fixstern; manche sind nur Sternschnuppen. Forderungen werden erhoben, die längst durchgesetzt sind. Der befristete Arbeitsvertrag wird gefordert; den haben wir längst umgesetzt. Eine neue Arbeitszeitordnung, die der Flexibilität Bahn bricht, wird gefordert; wir haben sie längst erreicht. 23 Gesetze sind über Nacht überflüssig geworden.
    Die einen schreien: Keine Veränderungen, es muß alles beim alten bleiben. Die anderen sagen: Alles muß neu werden. Zu der einen Seite, den Katastrophenspezis, die aus jeder Veränderung schon den Ruin des Sozialstaates herleiten, sage ich: Es ist noch immer so, daß jede dritte Mark der öffentlichen Finanzen für Soziales ausgegeben wird. Wer dabei von Ruin spricht, der kennt die Welt nicht.

    (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Im übrigen: Jede Mark muß von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden. Insofern beginnt der Sozialstaat nicht erst auf der Ausgabenseite, sondern er beginnt bei der Belastungsfähigkeit seiner Zahler.
    Preisstabilität halte ich für eines der wichtigsten sozialpolitischen Ziele. 1 % weniger Preissteigerung bedeutet 18 Milliarden DM mehr Kaufkraft, 1 % Rentenerhöhung bedeutet nur 2,7 Milliarden DM mehr Kaufkraft. 2 % Lohnerhöhung bedeutet soviel wie 1 % weniger Preissteigerung; denn die Hälfte der Lohnerhöhung kommt beim einzelnen gar nicht an.
    Ich möchte an die beste Erfindung unseres Sozialstaates Deutschland erinnern, an dem viele mitgewirkt haben. Die beste Erfindung ist soziale Partnerschaft. Sie hat uns eine Sozialkultur ermöglicht, um die uns andere beneiden. Noch immer gehört der Sozialstaat Deutschland zu jenen Gesellschaften mit dem geringsten Arbeitsausfall durch Arbeitskämpfe. Das ist nicht vom Himmel gefallen, und das wird auch in Zukunft nur erhalten bleiben, wenn der Sozialstaat gehegt und gepflegt wird. Ich glaube, seine wichtigste Voraussetzung ist die Fähigkeit zum Kompromiß, zum Geben und Nehmen.
    Da sehe ich diese Sozialkultur durchaus bröckeln. Sie bröckelt und wandelt sich zum Teil in eine Herausholergesellschaft. Ich warne allerdings nachdrücklich davor, die Herausholer nur auf der Arbeitnehmerseite zu sehen. Großbetriebe, die keine Lehrlinge ausbilden, sich aber den Nachwuchs vom Handwerk beschaffen, halte ich für klassische Herausholer. Ich halte sie für eine Gefahr für unseren Sozialstaat.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Ich warne auch, von einzelnen auf alle zu schließen. Ich schließe auch nicht von dem Herrn Schneider auf alle Kreditnehmer. Das wäre eine Beleidigung.
    Eine amerikanische Mentalität des Heuern und Feuerres verträgt sich nicht mit unseren Sozialstaatstraditionen. Es ist widersprüchlich, wenn Branchen ältere Arbeitnehmer mit goldenem Handschlag verabschieden und ein halbes Jahr später die Facharbeiter suchen, die sie sechs Monate vorher mit Sozialplänen ins Freie befördert haben. Solche Unternehmensplanung halte ich für dumm und kurzsichtig.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch ein Bauer verfuttert nicht sein Saatgut. Mancher Großbetrieb könnte sich da eine Scheibe beim handwerklichen Betrieb abschneiden.
    Im Handwerk gibt es eine alte Tradition, den familiären Zusammenhalt. Man hält in guten und schlechten Zeiten zusammen. Es müßte uns doch zu denken geben, daß der Krankenstand in den Kleinbetrieben unter vier Arbeitnehmern 2,4 % und bei manchen Großbetrieben bis zu 11 % beträgt. Es kann doch nicht sein, daß bei den Kleinbetrieben die Gesunden und bei den Großbetrieben die Kranken arbeiten. Könnte es nicht auch sein, daß dies etwas mit Betriebsloyalität, mit Zusammenhalt zu tun hat? Wer den haben will, der kann nicht heuern und feuern, der muß auch das Miteinander pflegen.
    Zum Thema Mißbrauch. Im Rahmen der Pflegeversicherung haben wir ermöglicht, daß ab dem ersten Tag der Krankmeldung zum Vertrauensarzt geschickt werden kann, wer unter Verdacht des Mißbrauchs steht. Man muß das nicht mit allen machen. Warum sollte man alle verdächtigen? Ich halte das für ein richtiges Instrument.
    Zwei Klugheiten sind in unseren Sozialstaat eingebaut: erstens die Subsidiarität und zweitens die Leistungsgerechtigkeit. Zur Subsidiarität. Wir haben die soziale Sicherung nicht den Staatskassen überlassen, sie wird nicht steuerfinanziert, sondern durch Beiträge. Das schafft mehr Selbständigkeit, schützt gegen Manipulation, macht die soziale Sicherheit von den Verteilungskämpfen unabhängig, die wir jährlich im Zusammenhang mit dem Haushalt, gerade heute wieder, führen müssen: Was ist für Bildung, was ist für Straßenbau? Die selbstverwaltete Sozialversicherung ist ein großes Moment der Selbständigkeit. Es war eine große Klugheit, sie zu schaffen.
    Der zweite Gesichtspunkt ist, daß wir unsere Rentenversicherung auf dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aufbauen: Jedem das Seine. Das legen wir aus und verbinden es mit: Wie du mir, so ich dir, wie die Jungen die Alten behandeln, so werden, wenn sie alt sind, auch sie behandelt. Unser Sozialstaat ist nicht die Reduzierung auf Armenfürsorge, ist nicht das Armenhaus unserer Gesellschaft; das ist ein großes Mißverständnis.

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    Das in der Erwerbsphase differenzierte Einkommen setzt sich auch im Alter fort. Das ist eine Stützung des Leistungsprinzips. Alle, die auf Grundversorgungssysteme abstellen, müssen wissen, daß darin sehr viel mehr Umverteilung als in unserem Sozialsystem enthalten ist.
    Meine Damen und Herren, wir haben große Ref ormen bewältigt. Wir haben die Gesundheitsreform geschafft, und zwar zweimal mit großen Entlastungen, die auch noch heute wirken. Wo wären wir ohne zwei Gesundheitsreformen hingekommen? Allein die Veränderungen in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung entlasten die Beitragszahler in diesem Jahr um 60 Milliarden DM, nur in diesem Jahr und nicht etwa kumuliert. Wir fangen also nicht bei Null an.
    Wir haben ein großes Reformprojekt, das Arbeitsförderungsgesetz, noch vor uns. Es ist in den Zustand der Unlesbarkeit geraten. Bei § 242 sind wir bei „u" angekommen. Für solche Ausfächerungen hat die Krankenversicherung 100 Jahre gebraucht; das haben wir im Arbeitsförderungsgesetz in nicht ganz 30 Jahren geschafft. Diese Ausfächerung ist schon ein Grund für die Reform; denn der Sozialstaat muß durchsichtig sein. Um ihn zu nutzen, sollte man keinen Berater nötig haben. Aber um die Lohnkostenzuschüsse heute zu durchschauen, braucht man einen Lohnkostenzuschußberater.
    Ich sehe die erste und wichtigste Aufgabe in der Verantwortung der Beteiligten; denn die Arbeitsmarktpolitik kann nicht alles schaffen. Wir haben ja keine Planwirtschaft. Es bleibt bei der Verantwortung der Unternehmer und der Tarifpartner. Die Arbeitsmarktpolitik muß sich, wie ich glaube, auf diejenigen konzentrieren, die es schwer haben, vermittelt zu werden, die es aus eigener Kraft kaum schaffen, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Das sind die Langzeitarbeitslosen, die Ungelernten und die Behinderten.

    (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Auch die Frauen haben es noch schwer. Auf diese Gruppen muß sich die Arbeitsmarktpolitik konzentrieren.
    Integration in den ersten Arbeitsmarkt heißt dabei das Gebot der Stunde.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Denn wer einen zweiten Arbeitsmarkt stabilisiert, der schafft eine neue Klassengesellschaft, ohne daß er es will. Die Jungen, Gesunden und Ausgebildeten im ersten Arbeitsmarkt, und für die Kranken und Alteren haben wir einen ghettoähnlichen zweiten Arbeitsmarkt. Für uns bleibt das Ziel: Integration der Behinderten, der Langzeitarbeitslosen und der Ungelernten in den ersten Arbeitsmarkt.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, für uns auch!)

    - Herr Fischer, Sie waren nicht sehr lange auf dem ersten Arbeitsmarkt. Deshalb kennen Sie sich dort nicht so gut aus.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie?)

    - So lange wie Sie wahrscheinlich auch. Ich bin im übrigen noch jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt.
    Wir bleiben dabei: Der erste Schritt ist der wichtigste. Denn die größte Hemmung für Langzeitarbeitslose besteht darin, daß sie in den ersten Arbeitsmarkt überhaupt nicht hineinkommen, daß sie keine Chance bekommen. Deshalb meine ich - das ist eine alte Erfahrung -: Wenn jemand im ersten Arbeitsmarkt ist, ist die Hemmung der Arbeitgeber, ihn wieder zu entlassen, größer. Das zeigen befristete Arbeitsverträge.

    (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    - Sie können ruhig lachen. Das steht wahrscheinlich in Ihren Lehrbüchern anders. Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der befristeten Arbeitsverträge entgegen Ihrer Ideologie zu unbefristeten Arbeitsverträgen geführt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich entnehme Sozialpolitik nicht fernen Lehrbüchern, sondern der Erfahrung.
    Befristete Arbeitsverträge, Leiharbeitsverträge, Einstiegstarife, von den Tarifpartnern ausgehandelt - ich bin gegen staatliche Einstiegstarife -, und Einarbeitungsverträge - unsere ganze Phantasie muß darauf gerichtet sein: Wie bekommt derjenige, der jahrelang arbeitslos war, wieder eine Chance, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukommen? Das ist das Wichtigste.
    Die Ungelernten werden das große Arbeitsmarktproblem der Zukunft. Die Arbeitsplätze für Ungelernte schmelzen wie der Schnee unter der Sonne. Da kann die Konjunktur boomen, aber die Arbeitsplätze für Ungelernte fallen noch immer weg. Das erste heißt: Qualifizierung. Was machen wir mit denjenigen, die im Bereich der Technologie nicht qualifizierungsfähig, aber trotzdem begabt sind? Ich sehe in den neuen Beschäftigungsfeldern Haushalt und Pflege auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten für diejenigen, die weder Spaß noch Begabung haben, einen Computer zu bedienen.

    (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!)

    Nur warne ich davor, das neue Feld Pflege zu überprofessionalisieren. Wir brauchen Profis, hochqualifizierte Fachkräfte. Aber ich füge hinzu: Übertreibt es nicht! Um einen 30jährigen zu füttern, brauche ich keine sechs Semester Psychologie. Dazu brauche ich ein gutes Herz und eine ruhige Hand.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ein weiterer Punkt wird sein: Dezentralisierung. Wir müssen die Bundesanstalt in der Tat vom Kopf auf die Füße stellen: mehr Verantwortung vor Ort,

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    mehr Flexibilität, auch mehr Entscheidungsbefugnis. Wir brauchen einen Wettbewerb zwischen den Arbeitsämtern in bezug auf Initiative, Engagement und neue Einfälle.
    Auch die Finanzierungsfrage stellt sich. Das ist nicht originär von Blüm; auch ich habe kein Patentrezept. Schon 1969 bei der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes wurde diese Frage gestellt. Sie ist die Grundfrage unseres Sozialstaats. Was muß der einzelne zahlen? Was übergeben wir der Eigenverantwortung? Was muß der Solidarität übergeben werden? Ich gebe zu, daß diese Grenze nicht fest ist, daß immer balanciert werden muß.
    Aber bezüglich der Solidarität entsteht eine weitere Frage. Was muß vom Steuerzahler und was vom Beitragszahler gezahlt werden? Der Beitragszahler ist nicht für alles, was gut und nützlich ist, zuständig; denn sonst würden wir eine Umverteilung von unten nach oben betreiben. Wenn der Beitragszahler zahlt, zahlen nicht alle - die Beamten und die Selbständigen nicht, und selbst die, die zahlen, zahlen nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Also stellt sich diese Frage auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und aus Gründen der Entlastung der Lohnzusatzkosten.
    Ich gebe zu, daß sich diese Frage bei der Haushaltslage nicht von heute auf morgen löst. Laßt uns ein Stufenprogramm machen. Jedenfalls kann sie, wie ich glaube, nicht ausgeklammert werden. Übrigens hat sie die Koalition nie ausgeklammert. Wir haben die Aussiedlerfinanzierung aus der Beitragsfinanzierung herausgenommen und dem Steuerzahler übertragen.
    Die erfolgreiche Organisation des Hauptschulabschlusses - es gab großen Widerstand, ich erinnere mich an das Spektakel - ist eine Frage der Bildungspolitik und nicht des Beitragszahlers. Wenn die Schüler den Abschluß nicht schaffen, wieso ist der Beitragszahler, der Arbeitnehmer, der Handwerksmeister und der Arbeitgeber dafür zuständig? Wir haben neu organisiert gegen - wie ich zugebe - viel Widerstand aus den Ländern.
    Zu den älteren Arbeitnehmern. Ich sage, die Alternative darf nicht Sozialplan oder Vollerwerbsarbeit sein. Die Alternative muß lauten: Teilzeit mit Teilrente statt ganz heraus aus allem. Ich bin gegen ganz heraus. Das entspricht auch nicht den Bedürfnissen der älteren Arbeitnehmer.
    Ich glaube, daß die Teilzeit nur Schub bekommt, wenn sie an die Lebenslage und die besonderen Bedürfnisse der Menschen anknüpft. Ich sehe zwei Felder, in denen ein Schub entstehen kann. Dort, wo Mutter und Vater kleine Kinder erziehen, besteht ein Bedürfnis nach anderen Arbeitszeiten. Und die älteren Arbeitnehmer haben zwei Grundbedürfnisse: erstens mit dem Betrieb in Kontakt zu bleiben, aber zweitens weniger zu arbeiten als früher.
    Zur Arbeitslosenhilfe. Ich nehme das große Wort Reform gar nicht in den Mund. Aber der Frage muß doch nachgegangen werden: Soll die Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosenhilfe unendlich gelten? Soll sie noch nach 20 Jahren nach dem ehemaligen Spitzenlohn bemessen sein? Das hatte das Arbeitsförderungsgesetz nie gemeint.
    Das geltende Recht sieht vor, daß nach drei Jahren individuell überprüft wird. D'as wäre eine Marktwertveranstaltung. Ich sage: Laßt uns das pauschal machen, aber nicht als kopflose, pauschale Abwertung, sondern nur nach einem Vermittlungsversuch mit den Langzeitarbeitslosen - es sind ja alles Langzeitarbeitslose -; denn die Gefahr ist, daß sie vergessen werden, daß sich die Vermittlung in erster Linie an die richtet, die es leichter haben, vermittelt zu werden, daß sie sozusagen in den toten Winkel der Anstrengungen geraten.
    Es kann doch nicht sein, daß unsere ganze Welt schon an solchen kleinen Veränderungen zusammenbricht. Herr Scharping hat gestern ein leidenschaftliches Plädoyer für Reformfähigkeit gehalten. Manchmal denke ich, die Kraft zu mutigen Überschriften ist umgekehrt proportional zur Bereitschaft zu kleinen Veränderungen. Manchmal kommt es mir so vor, als kommt der Gewichtheber auf die Bühne, kündigt einen Weltrekordversuch an, schnallt den Gürtel enger, bestreicht die Hände mit Magnesium, verneigt sich vorm Publikum und geht von der Bühne wieder runter. Das ist die ganze Veranstaltung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich bin diese großen Theorien leid. Der Fortschritt und die Umstellung erfolgen immer nur schrittweise. Wir fordern nicht Tabula rasa. Ich sehe in aller Kürze eine große Reformaufgabe: breite Streuung des Eigentums, Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital. Das ist ein uneingelöstes Versprechen der sozialen Marktwirtschaft. 10 % der Bevölkerung besitzt die Hälfte des Vermögens, 25 % ein Drittel - und die restlichen 65 %?

    (Annelle Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kommt das?)

    - Es gibt in der Einkommenspolitik eine Fixierung auf den Konsumlohn. Wir haben es nicht geschafft, eine breite Investivlohnphilosophie umzusetzen.
    Ich gebe zu, daß auch wir nicht den größten Druck gemacht haben. Wir gebrauchen dazu die Tarifpartner, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite; denn eine solche breite Eigentumsstreuung hat zwei Entlastungsfunktionen. Sie könnte erstens die Tarifpolitik von der Verkrampfung durch die Fixierung auf den Konsumlohn entlasten, und sie könnte zweitens die kollektiven Sicherungssysteme entlasten. Ich weiß auch, daß man da nicht immer draufsatteln kann.
    Das Eigentum hat eine zweifache Entlastungsfunktion. Ich finde es schon eine Provokation: Die Millionen Arbeitnehmer zahlen mit ihren Steuergroschen auch die Investitionsförderung im Osten, die sein muß. Aber das schlägt sich nicht in Eigentumstitel für diejenigen nieder, die diese Investitionen mitfinanzieren. Ich gebe zu, daß uns bisher noch keine intelligente Regelung eingefallen ist. Auch in Ihrer Regierungszeit ist über solche Mechanismen diskutiert

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    worden. Aber jetzt haben wir genug diskutiert. Politiker sind nicht zum Besprechen, sondern zum Arbeiten eingesetzt. Deshalb müssen uns hier, wie ich glaube, im Sinne der Stabilisierung der Eigentumsordnung neue Wege einfallen.
    Der Umbau braucht manchmal Nachhilfe. Ich hoffe, daß die Tarifpartner es schaffen, eine eigenständige Regelung auch für das Schlechtwettergeld zu finden, das nicht der Allgemeinheit zu übertragen. Der Fortschritt hat es schwer. Es wäre im Sinne des Sozialstaates, das Risiko dort abzusichern, wo es entsteht, und nicht der Allgemeinheit aufzubürden.
    Noch eine wichtige Mitteilung wollte ich machen. Die ersten Ergebnisse der Pflegeversicherung zeigen, daß die Anträge auf stationäre Unterbringung zurückgehen und nach dem Urteil aller Fachleute weiter zurückgehen werden. Das ist das Ergebnis eines verstärkten Angebotes an ambulanter Hilfe. Wir brauchen auch stationäre Hilfe; deshalb brauchen wir auch den zweiten Schritt. Aber die stationäre Pflege darf nicht der normale Weg sein. Ich glaube, daß eine solche Veränderung sozialer und humaner Fortschritt sein kann und wirtschaftliche Entlastung bringt.
    Sie sehen, Wirtschaft und sozialer Fortschritt sind keine Gegensätze. Deshalb: Der Haushalt steht unter dem Motto „ Sparen und Gestalten" . Sparen ist notwendig, auch aus sozialen Gesichtspunkten. Um so mehr ist unsere Gestaltungskraft herausgefordert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von Dr. Burkhard Hirsch
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Wort bekommt nun der Abgeordnete Rudolf Dreßler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Jahren wurde dieses Haus sowohl in der ersten wie in der zweiten und auch in der dritten Beratung des Bundeshaushaltes für Arbeit und Sozialordnung der verbalen Klimmzüge des Bundesarbeitsministers teilhaftig: Wie toll doch der Sozialstaat bei dieser Regierung aufgehoben sei, sehe man am stetigen Wachstum des Sozialetats. Eine Wiederholung dieser alljährlichen Aufführung ist in diesem Jahr ausgeblieben, wie wir gehört haben.
    An Hand des Rückganges im Sozialetat von über 10 Milliarden Deutsche Mark muß diese Vorstellung beim Bundeshaushalt 1996 ausfallen. Das übrigens müßte nicht von Schaden sein. Denn die These von Herrn Blüm, ein stetiges Wachstum der Sozialausgaben sei Ausdruck der Qualität in der Sozialpolitik, war, gelinde gesagt, reichlich frivol.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Wahrheit nämlich war weniger erfreulich. Das stetige Wachstum des Sozialetats war nicht Ausdruck planvoller, bewußter sozialpolitischer Gestaltung, sondern war erzwungen: erzwungen von einer stetig wachsenden Zahl an Arbeitslosen. Mehr Arbeitslose, höhere Sozialausgaben: So lautete die politische Gleichung der vergangenen Jahre.

    (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Regierung der Arbeitslosen!)

    Diese Regierung war Opfer ihrer eigenen mangelhaften Wirtschaftspolitik, die Arbeitslosigkeit in Kauf nahm oder gar produzierte, die versäumte, mit gezielten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Entwicklung entgegenzuwirken. Der stetig gewachsene Sozialetat der vergangenen Jahre war also nicht Ausdruck sozialpolitischer Qualität, sondern des Gegenteils. Er war Ausdruck des gesellschaftspolitischen Mißmanagements und der arbeitsmarktpolitischen Verantwortungslosigkeit.

    (Beifall bei der SPD)

    Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, wäre der Rückgang der Sozialausgaben eigentlich begrüßenswert, wenn, ja wenn dieser Rückgang durch ein Sinken der Zahl der Arbeitslosen, durch eine Abnahme der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufen worden wäre, wenn die politische Gleichung des Jahres 1996 also lautete: weniger Arbeitslose, weniger Sozialausgaben. Dies ist aber offenbar nicht der Fall. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auf hohem Niveau. Der sogenannte konjunkturelle Aufschwung, derzeit allenfalls ein laues Lüftchen, geht völlig am Arbeitsmarkt vorbei.
    Wenn also der Rückgang der Sozialausgaben 1996 nicht durch einen Rückgang der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufen worden ist, dann gibt es nur eine denkbare andere Erklärung: Diese Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P., fuhrwerken in den Sozialleistungen herum. Sie streichen, sparen und würgen sich die 10 Milliarden DM für 1996 zusammen. Die Wahrheit hat sie also eingeholt. Diese Koalition kann ihre Politik des Sozialabbaus nicht mehr hinter dem Mäntelchen eines durch wachsende Arbeitslosigkeit aufgeplusterten Sozialetats verbergen. Sozialer Rückschritt ist nunmehr auch konkret an Haushaltszahlen ablesbar.
    Es war ja bemerkenswert, daß der für diesen Haushalt federführende Minister es in seiner ganzen Rede sorgsam vermieden hat, auch nur einen Satz zu den Inhalten dieses Haushalts zu sagen und uns eine Begründung dafür zu geben. Das war bemerkenswert!

    (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)

    Man könnte es auch anders ausdrücken: Es ist erstaunlich, auf welch naßforsche Art hier Politik gemacht wird. Da stellt die Regierung, die Herren Waigel und Blüm, Arm in Arm fest, der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit sei gesundet. Für den Bund ergebe sich daraus die erfreuliche Konsequenz, ein aus seiner Defizithaftung folgender Bundeszuschuß an die Bundesanstalt sei nicht notwendig. Man stelle sich vor: Die Massenarbeitslosigkeit bleibt, aber die Bundesanstalt für Arbeit braucht kein Geld. Das ist schlicht absurd, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Rudolf Dreßler
    Man mag sich ja die Welt durch Gesundbeterei eine Weile schönreden können, aber die Stunde der Wahrheit wird man dadurch nicht verhindern können. Noch im Haushaltsjahr 1996 wird sich das alles als Trick herausstellen. Angesichts der Lage am Arbeitsmarkt wird die Bundesregierung der Bundesanstalt für Arbeit doch einen Bundeszuschuß in Milliardenhöhe zahlen müssen. In Wahrheit wissen die Herren Waigel und Blüm das auch; sie tun nur so als ob, und die Regierungsfraktionen machen mit. Soll diese Trickserei etwa Haushaltspolitik sein?
    Nun gibt es natürlich noch eine andere Interpretationsvariante, mit der die Zahlenakrobatik der Koalition erklärt werden könnte. Diese allerdings ist nicht minder pervers. Die Bundesregierung definiert das zu erwartende Defizit der Bundesanstalt für Arbeit nicht nur einfach künstlich weg, nein, sie vermeidet es tatsächlich. Sie tut dies, indem sie brutal in die Leistungen eingreift und kürzt. Daß die Herren Kohl, Waigel und Blüm in dieser Hinsicht Männer mit Vergangenheit sind, und zwar einer reichlich unrühmlichen, können sie nicht einmal selber leugnen.

    (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)

    Was also liegt näher als die Prognose, daß diese Bundesregierung auch diesmal zum Mittel des Sozialabbaus greifen wird?

    (Beifall bei der SPD)

    Nun hat Herr Rexrodt, als Bundeswirtschaftsminister sicherlich einer der intellektuellen Leuchttürme dieser Koalition,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    sich vor wenigen Tagen mit der Bemerkung vernehmen lassen, unser Land benötige in Sachen Sozialpolitik einen ökonomischen Befreiungsschlag. Daß Rexrodtsche Befreiungsschläge in der Regel zu sozialpolitischen K.-o.-Schlägen werden, das wissen wir. So liest sich auch diesmal die Liste der Maßnahmen von Herrn Rexrodt, die er als Befreiung bezeichnete, nicht anders als ein Gruselkatalog. Was er als Befreiung definiert, ist nichts weiter als die weitgehende Privatisierung der sozialen Sicherung. Es ist die Zerstörung der solidarisch finanzierten Sozialversicherung.
    Dies ist übrigens nicht verfassungswidrig. Aber es ist auch nicht verfassungswidrig, die deutsche Bevölkerung darauf hinzuweisen und hinzuzufügen: Wenn Sie demnächst beabsichtigen, diesen neuen Weg zu gehen, wird an irgendeiner Stelle der Straße das Schild mit den Worten „No return" , „keine Rückkehr", auftauchen, und dann ist es zu spät für Art. 20 GG und für die bis dato parteienübergreifende Obereinstimmung, daß diese Vorschrift zu wahren sei, daß sie unser eigentliches Glück war, unser Standortvorteil, die Voraussetzung für unsere wirtschaftliche Expansion sowie dafür, all das zu erreichen, was wir heute haben. Auf diesem Weg, meine Damen und Herren von der Union, wird Sie die SPD nicht nur nicht begleiten, sondern wir werden alles versuchen, was in unseren Kräften steht, Sie davon abzuhalten.

    (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Weil nun der Bundeswirtschaftsminister diesen Befreiungsschlag formuliert hatte, will ich wenigstens die Volkspartei CDU/CSU auf eine Winzigkeit hinweisen dürfen. Rexrodt ist ja, wie Sie wissen, ein Berliner Spitzenpolitiker.

    (Zuruf von der SPD: Was?!) - Ja, so steht es in den F.D.P.-Broschüren.


    (Zuruf von der SPD: Ach so!)

    Ich darf Sie darauf hinweisen, daß hinter dieser Art von Befreiungsschlag, die er auch heute wieder in diesem Haus vertreten hat, zur Zeit nach On Umfragen 2 % der Berliner Bevölkerung stehen,

    (Zuruf von der SPD: Viel!)

    und ich kann nur sagen: Als Volkspartei CDU/CSU sollten Sie von Ihrer gravierenden Mehrheit Gebrauch machen und solche gefährlichen Wegbereiter für eine veränderte Republik bremsen. Das ist auch Ihre Pflicht.

    (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Welchen Zustimmungsgrad haben Sie denn als sozialdemokratischer Spitzenpolitiker?)

    Daß die Klientel der F.D.P. den Sozialstaat als Mühlstein am Halse der Wirtschaft diskreditiert, der der deutschen Volkswirtschaft angeblich ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit nehme, ist nicht neu. Diese Leier kennen wir.
    Ich will Ihnen etwas sagen: Ihre Partei ist zur Zeit auf einem Wege, den ich Vulgärkapitalismus nenne und nicht anders.

    (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Das bedeutet, was dem Geschäft dient, ist gut, was ihm schadet, schlecht. So einfach ist diese F.D.P.-Philosophie. Gesellschaftspolitische Wertung von Politik findet nicht mehr statt, soziale Wertigkeit ist hinderlich, allein die Kasse zählt. Als Motiv dient eine als Gewinnmaximierung getarnte Habgier, und das war's dann auch schon. Das ist heute diese F.D.P.
    Neu in dieser Diskussion ist für mich allerdings die Erfahrung, daß sich nunmehr auch Teile der CDU/ CSU

    (Jörg van Essen [F.D.P.]: Ja, auch da gibt es Vernünftige!)

    in einschlägiger Weise an dieser Diskussion beteiligen, genauer gesagt, der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und seine gesammelten Flüstertüten von Doss bis Dregger, von Louven bis Haungs.
    Wo die Eigenverantwortung verkümmert, wo die Menschen sich daran gewöhnen, daß andere für sie sorgen, verkommt die Freiheit.
    Das ist Originalton Schäuble.
    Wie wahr, könnte man da nur sagen, und man kann die Frage an diese Regierung, vor allem an die

    Rudolf Dreßler
    CDU/CSU, anschließen: Wo sind denn eigentlich die politischen Konsequenzen aus diesem Satz? Was tun Sie, um die 3,6 Millionen registrierten erwerbslosen Menschen in Deutschland arbeitsplatzmäßig zu befrieden, damit sie endlich ihrer Eigenverantwortung gerecht werden können? Was tun Sie dafür?

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Diese Menschen wollen das nämlich. Sie wollen für sich selbst sorgen, sie wollen ihre ökonomische und soziale Freiheit endlich zurück.
    Tatsache ist doch, daß die arbeitsmarktpolitische Nichtstuerei dieser Regierung sie ihnen vorenthält, und angesichts der gesellschaftspolitischen Realität in Deutschland kommt dieser Satz des Herrn Schäuble einer Verhöhnung dieser Menschen gleich.
    Nun hat Herr Schäuble seit geraumer Zeit ein Exempel gefunden, an dem er exekutieren möchte, was er unter Stärkung der Eigenverantwortung versteht - die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Da kann das Kanzleramt im Auftrag des Allerhöchsten noch so heftig dementieren, da kann Herr Seehofer noch so heftig räsonieren - die Wahrheit ist: CDU und CSU wollen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einschränken; wer krank ist, soll weniger Geld bekommen.

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Eine falsche Behauptung! - Gegenruf von der SPD)

    Herhalten für diese Philosophie müssen dann die sogenannten Blaumacher, denen es an den Kragen gehen soll.

    (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Blödsinn!)

    Blaumacher, meine Damen und Herren, die gibt es auch, aber gesellschaftliche Realität ist, daß die erdrückende Mehrheit der arbeitsunfähigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht blaumacht, sondern schlicht krank ist.
    Gesellschaftliche Realität ist auch, daß bereits heute ausreichende gesetzlich festgelegte Maßnahmen gegeben sind, dieses sogenannte Blaumachen zu bekämpfen,

    (Zuruf von der SPD: So ist es!)

    etwa im Entgeltfortzahlungsgesetz, das auch regelt, daß eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am vierten Tag vorzulegen ist. Und ich zitiere den Gesetzestext im Original:
    Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen.
    So heißt es dort. Mit dieser Bestimmung kann man also gegen sogenannte Blaumacher vorgehen, wenn man wirklich will. Man muß sie nur anwenden, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)