Rede von
Oskar
Lafontaine
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat zum Schluß seiner Ausführungen die Außenpolitik seiner Regierung gewürdigt und darauf hingewiesen, auf wieviel internationale Zustimmung diese Außenpolitik stößt. Wer von der Opposition wollte dies beklagen, entspräche es den Tatsachen? Es ist aber - hierin wird mir jeder zustimmen - nicht in Ordnung, wenn in diesem Parlament ein Bild der Zustimmung zur Außenpolitik der Bundesregierung im gesamten Europa gezeichnet wird, das den Tatsachen schlicht und einfach nicht entspricht.
Beginnen wir mit Polen. Herr Bundeskanzler, Sie haben dieses schwierige Thema nicht sachgemäß behandelt. Niemand bestreitet, was Sie zur Politik Konrad Adenauers erwähnt haben. Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß einige kritische Bemerkungen, die Sie hinsichtlich des Umgangs mit der Solidarnosc gemacht haben, durchaus berechtigt sein mögen. Zu Zeiten der Ostpolitik war es halt immer schwer, den Spagat zwischen den Regierenden und den Oppositionsgruppen richtig zu halten.
Aber davon war gar nicht die Rede. Die Rede ist von der jüngeren Geschichte, die Sie zu verantworten haben. Die Rede ist von Ihrer Weigerung, die polnische Westgrenze anzuerkennen. Diese Weigerung war ein schwerer politischer und diplomatischer Fehler, der heute noch nachwirkt.
Herr Bundeskanzler, wenn Ihnen entgangen sein sollte, wie isoliert Sie zur damaligen Zeit waren, hätte ich mir gewünscht, daß Sie beispielsweise den Film von Hajo Friedrichs über die deutsche Einheit gesehen hätten, der anläßlich seines Todes noch einmal gezeigt worden ist. Beispielsweise mußte Sie der amerikanische Präsident öffentlich zur Ordnung rufen. Diese Begebenheit aus dem Jahre 1990 habe ich noch nicht vergessen.
Sie wissen ganz genau, auf wieviel Unverständnis in Frankreich und England diese Ihre Politik gestoßen ist. Maggie Thatcher schrieb in ihren Memoiren: Helmut Kohl hinterließ den denkbar schlechtesten Eindruck.
Herr Bundeskanzler, von großer Zustimmung kann hier ja wohl nicht die Rede sein.
- Das ist auch nicht zum Lachen.
Ihre Weigerung, die polnische Westgrenze anzuerkennen, hat das deutsch-polnische Verhältnis schwer belastet. Herr Bundeskanzler, wenn Sie das heute immer noch nicht verstanden haben, dann tut uns das leid. In diesem Kontext ist die Frage zu sehen, ob der polnische Staatspräsident nicht vielleicht anders hätte behandelt werden müssen, als Sie ihn behandelt haben.
Es mag ja sein, daß Sie bis zu dem Zeitpunkt, als François Mitterrand darum gebeten hat, das Wort ergreifen zu dürfen, durchaus übereinstimmend vorgegangen sind. Aber spätestens dann hätte sich doch die Frage stellen müssen - nachdem der französische Staatspräsident um diese Einladung gebeten hat -, ob nicht auch eine besondere Einladung an den polnischen Nachbarn hätte ergehen müssen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Darum geht es, Herr Bundeskanzler, und um nichts anderes. Dies kann man nicht mit irgendwelchen Einwänden vom Tisch fegen.
Ich möchte ganz leise etwas zur Diskussion über den 8. Mai sagen. Das scheint wirklich schwer zu sein. Herr Kollege Schäuble, Ihre Einlassung dazu war unter der Gürtellinie.
Es geht nicht darum, daß irgend jemand daran gehindert werden soll zu trauern. Mein Vater ist am 25. April 1945 gefallen. Wenn das Ende des Krieges früher gekommen wäre, bräuchte ich seinen Tod nicht zu betrauern. Ich bin der Auffassung, daß wir die Opfer und die Leiden nicht unbedingt am 8. Mai betrauern müssen, sondern wir betrauern sie ständig. Wir betrauern sie, wenn wir ihres Todestages gedenken
oder wenn wir der Tage gedenken, an denen das Unglück eingetreten ist.
Natürlich stellt niemand in Abrede, daß viel Unrecht auch nach dem 8. Mai 1945 geschehen ist. Natürlich nehmen wir am Los solcher Menschen Anteil und betrauern ihr Schicksal. Was wir beklagen, ist, daß sich viele immer noch weigern einzusehen, daß der 8. Mai 1945 das Ende der Schreckensherrschaft des Nazi-Systems war. Darum ging es.
Wenn Sie von der großen Zustimmung sprechen, die Sie in der internationalen Politik erfahren haben, muß ich Sie leider korrigieren. Es könnte allerdings sein, daß wir immer in verschiedenen Hauptstädten sind und mit unterschiedlichen Politikern sprechen.
- Ach, Herr Kollege Schäuble, Sie haben schon klügere Zwischenrufe gemacht.
Ich will dies gern am Beispiel François Mitterrands erläutern. Dies hat mich im Jahre 1990 belastet. Es trifft ja nicht zu, daß alles eitel Sonnenschein ist, wie Sie hier immer versuchen, es darzustellen. Sie, Herr Bundeskanzler, reden sich die Welt so schön, wie Sie glauben, daß sie aus Ihrer Sicht sein sollte. Das ist aber kein richtiges Herangehen an die Wirklichkeit.
Als Sie im Jahre 1989 den Zehn-Punkte-Katalog im Deutschen Bundestag vorgetragen -
- eine Sternstunde, höre ich hier - und damals keine
Zeit gefunden haben, den französischen Staatspräsidenten zu informieren, haben Sie einen schweren Fehler begangen, der das deutsch-französische Verhältnis bis zum heutigen Tage belastet.
Sie waren mitverantwortlich dafür, daß im Anschluß daran der französische Staatspräsident, Ihr Freund François Mitterrand, in der französischen Politik in enorme Schwierigkeiten kam. Er reiste nach Ost-Berlin, er reiste nach Kiew, und er mußte sich die Frage gefallen lassen, was er eigentlich wolle und was eigentlich das Ziel der französischen Politik sei.
Ich sage Ihnen: Den französischen Staatspräsidenten über diese entscheidende, richtungsweisende Rede im Deutschen Bundestag nicht informiert zu haben war für mich ein Bruch des Elysee-Vertrages, um dies einmal in aller Deutlichkeit zu sagen.
Hören Sie, Herr Bundeskanzler, also auf, von der großen Zustimmung im Ausland zu Ihrer Politik zu sprechen. Ich habe Ihnen einige Beispiele, die das Gegenteil belegen, genannt. Es wäre ebenfalls gut, wenn Sie nicht mit einer derartigen Selbstgewißheit hier an das Podium treten würden, so als hätte ganz Europa, von rechts bis links, von oben bis unten, nur auf Ihren Wahlsieg gewartet. Das ist doch ein bißchen Selbstüberschätzung. Nehmen Sie sich etwas zurück! Das wäre auch gut für das Ansehen der deutschen Außenpolitik, Herr Bundeskanzler.
Immer wenn Sie sich listig hier ans Pult pirschen und sich schon im vorhinein über den Humor freuen, den Sie vortragen werden, ist Aufmerksamkeit geboten. Und so unterrichteten Sie Rudolf Scharping darüber, daß Sie hier Reden als Oppositionsführer gehalten hätten, daß Sie da immer aggressiver geworden seien, daß Sie sich immer weiter von den Leuten entfernt hätten und daß die Fraktion großen Beifall geklatscht habe. Nun, großen Beifall haben Sie vorhin wieder von Ihrer Fraktion gehabt. Dies führt dann zu der Frage, ob Sie wirklich so nahe bei den Leuten draußen im Lande sind, wie Sie glauben, daß Sie derzeit seien.
Dabei, Herr Bundeskanzler, wollen wir Ihnen gar nicht absprechen - und Sie haben dem SPD-Vorsitzenden leider nicht genau zugehört -,
daß Sie mit Ihrer Rede durchaus die Empfindungen vieler Menschen in unserer Republik treffen und daß Sie durchaus auch viele Positionen vertreten, die mehrheitsfähig sind. Wer wollte das bestreiten?
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Aber wenn man wirklich den Anspruch erhebt, sich nicht von den Leuten zu entfernen, dann muß man natürlich auch an die Minderheiten in unserem Volke denken,
weil sich eine Demokratie eben im besonderen durch den Umgang mit Minderheiten auszeichnet, und zwar mit dem Recht, daß ihre Anliegen hier zur Sprache kommen.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn der Oppositionsführer Rudolf Scharping hier von den Arbeitslosen, von den Obdachlosen, von den Sozialhilfeempfängern, von den vielen Menschen spricht, die in Not und Elend sind, dann geht es zwar um eine Minderheit, aber trotzdem muß von ihr gesprochen werden, denn diese Minderheit darf in unserem demokratischen Rechtsstaat nicht vergessen werden.
Sie haben die Arbeitslosigkeit angesprochen. Aber auch hier fehlt eine kritische Selbstreflexion. Sie setzen auf Wachstum. Sie zitieren die Statistik. Ich rate immer, sich die Statistik genau anzusehen. Die stolzen Zahlen, die Sie verkünden, relativieren sich nämlich schnell, wenn man sie analysiert hinsichtlich Vollzeitarbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeitsverhältnissen und nicht sozialversicherungspflichtig abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Wenn Sie sich einmal dieser Mühe unterzögen, dann würde Ihnen etwas auffallen. Dann würde Ihnen auffallen, daß Sie seit Jahren an einer Stelle eine falsche Politik betrieben haben.
Es ist nun einmal so, daß sich der Zuwachs unserer gesamten Wirtschaftsleistung über Jahrzehnte linear vollzieht und daß die Entwicklung der Pro-Kopf-Produktivität eben nicht linear verläuft, sondern stärker ist als der Zuwachs unserer gesamten Wirtschaftsleistung; man nennt das exponentiell. Bei einer solchen Entwicklung ist mehr Menschen ein Zugang zum Arbeitsleben nur zu ermöglichen, wenn man die Arbeitszeiten verkürzt.
Sie haben diese richtige Politik jahrelang mit der Formel „dumm, töricht und absurd" bekämpft. Sie sind also mitverantwortlich für Fehlentwicklungen, die sich in den letzten Jahren eingeschlichen haben.
Noch vor einiger Zeit sprachen Sie von einer Verlängerung der Arbeitszeit, die notwendig sei. Sie dürfen nicht auf das Kurzzeitgedächtnis setzen, Herr Bundeskanzler. Politik vollzieht sich in langen Wellen. Sie sprachen mit vielen Verbandsfunktionären von einer notwendigen Verlängerung der Arbeitszeit.
Es ist ja gut, daß Sie jetzt von dieser völlig falschen Rezeptur heruntergekommen sind; es ist ja gut, daß Sie jetzt die Wende vollzogen haben und daß Sie jetzt immer mehr über Teilzeit reden. Sie haben das in Ihrer Rede eben wieder getan. Teilzeit ist Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich. Wir begrüßen es, daß Sie jetzt endlich zu dieser Einsicht gefunden haben. Sie haben aber mehr als zehn Jahre dazu gebraucht, Herr Bundeskanzler.
Sie sprachen von der Stabilität der D-Mark und von ihrer Stärke. Ich bedanke mich für die Information über die Entscheidung des Zentralbankrates, die Sie mir freundlicherweise zukommen ließen. Ich hoffe, daß Sie mir das Papier auch noch nach meiner Rede gegeben hätten. Es ist nun einmal meine Aufgabe, Herr Bundeskanzler, auf die Schwachstellen Ihrer Politik aufmerksam zu machen.
Ich möchte, was die Stärke der D-Mark angeht, zur Vorsicht raten, Herr Bundeskanzler. Auch der Dollar war beispielsweise zu Zeiten Ronald Reagans sehr stark.
Ob dies ein Ausdruck besonders rationaler ökonomischer Politik war, mag zumindest dahingestellt sein.
In Amerika wird das heute anders gesehen. Daß Sie diese Zusammenhänge nicht richtig würdigen und damit zu politischen Fehlern kommen, ergibt sich aus Ihrer Betrachtung des Verschuldungsgrades der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe es mir aufgeschrieben: Auf das Sozialprodukt bezogen beträgt der Verschuldungsgrad bei uns 53 % - nun will ich nicht darüber rechten, wie viele Nebenhaushalte dabei noch nicht berücksichtigt sind; das ist für meine Betrachtung unwichtig - und in den Vereinigten Staaten 64 %.
Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, das entscheidende Problem ist dabei nicht berührt: Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind und das wir nicht gelöst haben, ist der rapide Anstieg der Staatsverschuldung in den letzten Jahren. Dieses Problem muß gelöst werden. Das kann man nicht wegreden mit dem Hinweis darauf, daß die Amerikaner ja schon viel früher angefangen haben, sich über beide Ohren zu verschulden.
Hier möchte ich durchaus selbstkritisch eine Reflexion aufgreifen, die auch aus Ihren Reihen gekommen ist und vom Bundesfinanzminister zu Recht immer wieder eingewandt wird: Wir stehen alle in der Pflicht der Konsolidierung. Es hat keinen Sinn, populäre Forderungen nach Steuersenkungen in die Welt zu setzen, aber nicht zu sagen, wie das Ganze gegenfinanziert werden soll. Es hat ebenfalls keinen Sinn, immer wieder Forderungen zu erheben und nicht zu sagen, wie das gegenfinanziert werden soll. Das trifft dann in der Regel die Opposition. Es hat
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
keinen Sinn, sich an diesen Grundregeln solider Finanzpolitik vorbeizumogeln. Daher möchte ich auch in meiner Funktion und in meiner Verantwortung für den Bundesrat dies hier in aller Klarheit sagen.
Wenn Sie aber, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang die Argumentation der SPD, was den Solidaritätszuschlag angeht, als erbärmlich bezeichnen, dann haben Sie die Debatte in der letzten Zeit wohl nicht richtig mitbekommen.
Es waren doch nicht die Sozialdemokraten, die als erste angefangen haben zu sagen: Wir müssen die Steuern sehr schnell senken. Ich habe hier oft die finanzpolitischen Reden für die Sozialdemokraten gehalten. Ich habe bei meiner ersten Rede den Finanzminister bestärkt und gesagt: Geben Sie bei Steuersenkungsforderungen nicht so leicht nach, ehe wir nicht bestimmte Probleme gelöst haben. Es war zunächst einmal vielmehr Ihr Koalitionspartner, der immer wieder gesagt hat: Es müssen jetzt schleunigst die Steuern gesenkt werden. Wenn Sie also den Esel meinen, dann hauen Sie auch den Esel, und schlagen Sie nicht nach dem Sack!
Ich habe natürlich mit einer gewissen Skepsis aufgenommen, daß auch der geschätzte Kollege Waigel es zu einer bestimmten Zeit nicht lassen konnte, als Weihnachtsmann durch die Lande zu ziehen und große Steuersenkungspakete zu verkünden.
Sie wurden heute in einer Tageszeitung darauf aufmerksam gemacht, daß es fair wäre, die zusätzlichen Belastungen gegenzurechnen. Dann relativiert sich nämlich die Summe, die auf die Bürgerinnen und Bürger in Form von Steuern und Abgaben zukommt und die Sie in die Welt gesetzt haben. Das würde der Redlichkeit entsprechen und ist für die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicherlich von Bedeutung.
Nein, es hat keinen Sinn, sich mit Steuersenkungsversprechen zu überbieten, Forderungen zu erheben und gleichzeitig so zu tun, als könne man das Ziel der Haushaltskonsolidierung in vollem Umfang erfüllen.
An dieser Stelle zeigt sich die besondere Schwäche der jetzigen Koalition: Was war das für ein Hin- und Hergewürge um den Kohlepfennig und seine Gegenfinanzierung! Die F.D.P. hatte vor der Bundestagswahl einen Parteitag. Auf diesem Parteitag wurden drei Energiesteuern beschlossen: zunächst einmal eine allgemeine Energiesteuer, dann eine CO2-Steuer und schließlich die Erhöhung der Mineralölsteuer. Die allgemeine Energiesteuer war zunächst an die Mitwirkung der Europäischen Union gebunden, und nach einiger Zeit sollte der entsprechende Vorbehalt aufgegeben werden.
Ich habe es begrüßt, daß jetzt - dies ist ein Ertrag der Debatte - der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Herr Schäuble, wieder gesagt hat - er hat das ja öfters gesagt -, daß er für die ökologische Steuerreform eintritt. Daß selbst Herr Solms dies hier wiederholt hat, hat mich wirklich überrascht. Er hat hier gesagt: Auch wir sind für die ökologische Steuerreform. Wenn dies auf europäischer Ebene nicht geht, dann wollen wir das auf nationaler Ebene tun. - Dann laßt es uns doch endlich machen.
Seit Jahren werben viele verantwortliche Bürgerinnen und Bürger dieses Landes für die ökologische Steuerreform; nicht von heute auf morgen in riesigen Schritten, sondern abgestimmt auf die konjunkturelle Entwicklung und die Erfordernisse der Wirtschaft. Aber wir müssen dieses Reformprojekt auf den Weg bringen, wenn ein Klimagipfel, wie er jetzt in Berlin stattfindet, nicht zu einer reinen Witzveranstaltung verkommen soll.
Daß jetzt am Ende Ihres von Ihnen so gepriesenen Regierungshandelns - Herr Bundeskanzler, es tut mir leid, daß ich etwas Wasser in den Wein gießen muß -, am Ende Ihrer Diskussion ein Absenken der Strompreise steht, ist nun wirklich schizophren und keinem draußen mehr vermittelbar.
Beenden Sie diesen Unsinn! Wenn Sie Geld zuviel haben, dann legen Sie es irgendwo drauf. Dann ziehen Sie meinetwegen die Entlastung beim Solidaritätszuschlag vor oder irgendwo sonst. Aber daß Sie ausgerechnet die Strompreise senken wollen, zeigt doch nun wirklich, daß Sie vor lauter Streit im Innern der Koalition nur noch zu unsinnigen Beschlüssen fähig sind.
Damit komme ich nun zur Energiepolitik, die sowohl vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion als auch vom Bundeskanzler angesprochen worden ist. Ich stelle hier schlicht und einfach fest, daß wir in der Beurteilung der Fakten weit auseinanderliegen. Ich bin der Auffassung, daß man die energiepolitische Diskussion nicht auf einen Schadstoff, auf CO2, reduzieren kann. Ich habe das nie verstanden. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar und unökologisch. Vernünftig ist es, davon auszugehen, daß unendlich viele Schadstoffe unsere Umwelt belasten, auch wenn einzelne stärker im Blickfeld der Öffentlichkeit und der Politik stehen, andere weniger. Aber einzelne Schadstoffe herauszugreifen und sie gar etwa durch Energieumwandlungsprozesse ersetzen zu wollen, die dann noch weitaus größere Gefahren in sich bergen, ist irrational und von der Sache her nicht haltbar.
Es gab einmal eine Zeitlang eine Diskussion um die Schwefelsäure. Dann gab es eine Zeitlang eine Diskussion um die Stickstoffverbindungen. Jetzt ist CO2 das beliebteste Thema. Dann gab es andere, die sich der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und vieler anderer Schadstoffe annahmen. Einen einzelnen
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Schadstoff herauszugreifen ist methodisch völlig unhaltbar und führt daher - Herr Kollege Töpfer, Ihre Heiterkeit erheitert nun wieder mich - zu völlig falschen Schlußfolgerungen.
Die saubere Antwort darauf ist: Reduktion der Energieumwandlung in jeder Form.
Dies ist die einzige Formel, auf die wir uns verständigen können. Unter diese Formel müssen alle Formen der Energieumwandlung subsumiert werden. Wer aber wirklich auf die Schwachsinnsidee verfällt, das CO2 durch das Plutonium ersetzen zu wollen, das den Lebenskreislauf 500 000 Jahre lang belastet und das in geringsten Dosen wirklich lebensgefährdend ist, da es ganze Landschaften unbewohnbar machen kann, der hat von Ökologie wirklich überhaupt nichts verstanden.
Ich sage also noch einmal: Wir müssen die Umwandlung fossiler Brennstoffe reduzieren, aber wir müssen - mit weitaus besseren Argumenten - auch die Umwandlung von Uranerzen und andere Prozesse der Erzeugung von Strom aus Kernenergie reduzieren.
Was soll denn nun diese wirklich ideologische Anbetung und Gläubigkeit gegenüber der Kernenergie? Meine Damen und Herren, manchmal stellt man sich die Frage, was eigentlich passiert wäre, wenn im japanischen Kobe ein Kernreaktor gestanden hätte. Wären Sie dann vielleicht wach geworden, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien?
Oder sitzt hier jemand, der wirklich glaubt, tektonische Verwerfungen würden sich nach der Tagespolitik der Bonner Koalition richten?
Der Philosoph Günther Anders hatte recht, als er analysierte, daß die Menschheit apokalypseblind geworden ist, daß sie nicht mehr in der Lage ist, die Reichweite ihrer Verantwortung für ihre eigenen Produkte zu erfassen. Das ist auch meine feste Überzeugung. Wer die Kerntechnologie so befürwortet wie Sie, der muß auch wissen, daß die Ausbreitung der Kerntechnologie die sichere Gewähr dafür ist, daß wir eine immer größere Verbreitung von Atomwaffen auf dieser Erde haben werden. Alles andere ist schlicht und einfach naiv.
Aber jetzt bewege ich mich wieder auf Kategorien zu, die Sie vielleicht eher akzeptieren können. Wenn Sie schon so sehr Anhängerin und Anhänger der Kernenergie sind, dann sorgen Sie in Ihren Kategorien endlich einmal dafür, daß in Bayern und in Baden-Württemberg Zwischenlager und Endlager eingerichtet werden, ehe Sie hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Energiepolitik auf andere zeigen.
Denn hier, meine Damen und Herren, stehen wir alle in der Verantwortung. Die Parteienmehrheit hat zu verantworten, daß die Kernenergie in der jetzigen Form der Nutzung auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben bis zum heutigen Tage keine Antwort auf die Frage: Wohin mit den radioaktiven Abfällen?
An dieser Stelle möchte ich, Herr Kollege Schäuble, auf Ihre etwas schwachen Betrachtungen zur Technologiefreundlichkeit oder -feindlichkeit der SPD eingehen. Ich habe Ihnen zugerufen: Wenn Sie sich in technischen Fragen mit den Leuten anlegen wollen, dann müssen Sie auch eine gewisse Sachkenntnis haben.
Es ist zwar ganz nett, darüber zu philosophieren, daß der Farbfernseher die letzte technologische Innovation war, der die SPD zugestimmt hat, aber das allein reicht nicht.
- Ja, auch bei uns gibt es Leute, die dummes Zeug reden. Die gibt es nicht nur bei Ihnen, Herr Kollege Schäuble. Das möchte ich durchaus einräumen.
Aus Zeitgründen will ich jetzt nicht die lichtvollen Ergüsse Ihrer Kollegen, die ich täglich in der Presse lese, referieren. Aber eines will ich Ihnen sagen: Wenn das, was Sie hier selber zur ökologischen Erneuerung gesagt haben und was Sie mehr und mehr
- von uns oder anderen - als Ziel der Energiepolitik übernehmen, nämlich daß wir die Brücke ins Solarzeitalter bauen müssen, ernst gemeint war, dann brauchen wir an einer Stelle den technologischen Durchbruch: bei der Photovoltaik. Wenn dieser einmal gelingen würde, wäre das eine Revolution, auf die die ganze Welt gewartet hätte.
Auf diesen Punkt würden wir unsere technologischen Bemühungen gerne konzentrieren. Wer die fachlichen Daten kennt, weiß, daß es nicht mehr allzu weit ist, bis technologische Durchbrüche zu erwarten sind. Es wäre wünschenswert, wenn wir auch über unsere Möglichkeiten in der Forschungspolitik und der Steuerpolitik einen Beitrag dazu leisten würden, daß dieser technologische Durchbruch, der wirklich etwas mit dem Klimagipfel zu tun hat, der wirklich etwas mit der Not der Länder in der Dritten Welt zu tun hat, endlich gelingt. Hören wir auf, uns die Keulen des Vorwurfs der Technologiefeindlichkeit um die Ohren zu schlagen!
Das ist wirklich eine falsche Betrachtungsweise. Es geht um die Frage, mit welcher Technologie wir eine umweltverträgliche Energieversorgung in der Zukunft aufbauen können.
Ich meine also, daß wir allen Grund haben, bei den Energiekonsensgesprächen einen ökologischen Ansatz zu suchen. Dort, wo es keine Einigung gibt, muß
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
man sie ausklammern. Wir haben Gesetze, auf deren Grundlage man Entscheidungen treffen kann. Es wäre ein völlig falsches Herangehen an die Konsensgespräche, wenn wir Sie zu Einsichten nötigen wollten, die Sie nicht haben, oder wenn Sie umgekehrt sagten - das ist fast das Sandkastenspiel kleiner Kinder -: Wir machen aber nur mit, wenn ihr euch der Ansicht anschließt, die wir haben. Nein, laßt uns den Konsens suchen dort, wo er möglich ist - ich will Ihnen drei Felder nennen -: erstens bei der Laufzeit der Reaktoren, zweitens bei der Entsorgung des radioaktiven Mülls und drittens bei dem Ausbau regenerativer Energien und der Energieeinsparung. Dann sind wir doch schon ein gewaltiges Stück weiter.
Ich habe schon öfters kritisiert, daß die Selbstgefälligkeit, mit der Sie, Herr Bundeskanzler - vorhin wieder - die großen Erfolge Ihrer Politik ansprechen,
im merkwürdigen Widerspruch zu dem steht, was eigentlich passiert. Ich habe mir einmal erlaubt, darauf hinzuweisen, daß man auch von einer „Reagierung" sprechen könnte.
Denn Sie reagieren im Moment auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. Das, was uns derzeit vorrangig beschäftigt, sind die Hausaufgaben, die uns das Verfassungsgericht zur Lösung aufgegeben hat. Das aber verstehe ich nicht klassisch unter Regierungspolitik.
Ich habe darunter immer verstanden, daß man Ideen hat, daß man ein Projekt hat, daß man Konzepte hat, die man auch umsetzen möchte. Aber Sie reagieren nur auf die Urteile des Verfassungsgerichts.
Da sagt das Verfassungsgericht: Ihr nehmt den kleinen Leuten viel zuviel weg, insbesondere den Familien. Diese Entscheidung wendet man dann in ein technisches Schlagwort: Freistellung des Existenzminimums. Die Leute können sich darunter oft nicht viel vorstellen. Unterhalten Sie sich einmal mit einfachen Leuten, was sie unter „Freistellung des Existenzminimums" verstehen. Schon die Sprache wird verräterisch, wenn man versucht, dahin zu kommen, daß die Leute gar nicht verstehen, um was es eigentlich geht. Es geht darum, daß Sie den Leuten, die ein geringes Einkommen haben, insbesondere den Familien, seit Jahren viel zuviel Geld wegsteuern. Das ist ein Skandal in dieser Republik, meine Damen und Herren.
Es ist eine Schande, daß das Verfassungsgericht Sie nötigen muß, dieses soziale Unrecht zu beseitigen.
Soziale Politik hätte dazu geführt, daß das Unrecht von uns aus, von diesem Parlament, korrigiert worden wäre und nicht in der Folge eines Spruchs des Bundesverfassungsgerichts.
Familienlastenausgleich, Existenzsicherung und Kohlepfennig sind drei Beispiele dafür, daß das nicht an den Haaren herbeigezogen ist, was ich hier sage. Was demnächst zur Gerechtigkeit der Zinsbesteuerung und zur Frage der Einheitswerte vorgelegt wird und was das Verfassungsgericht noch alles dazu sagen wird, will ich mir gar nicht ausmalen. Nur, meine Damen und Herren, Sie werden sicherlich zustimmen, die gesamte deutsche Öffentlichkeit wird sicherlich zustimmen: Ein Ruhmesblatt ist es sicherlich nicht, wenn das Verfassungsgericht Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik für die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hohen Hauses machen muß.
Deswegen ist die entscheidende Frage: Was sind die zentralen Aufgaben der nächsten Zeit? Was ist eigentlich das politische Projekt, um das wir uns derzeit bemühen müssen? Wir Sozialdemokraten meinen, daß die sozialen Ungerechtigkeiten, die auch durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts festgestellt worden sind, schleunigst beseitigt werden müssen. Wir bieten dazu unsere Mitarbeit an. Wir meinen beispielsweise, daß dieser Wust von Steuerverordnungen und Steuergesetzen, den ich nicht nur einer Partei zuschreibe - dies wäre unfair und ungerecht -, zu etwas geführt hat, was vielleicht alle, die sich daran beteiligt haben, nicht gesehen haben, nämlich zu immer mehr Steuerungerechtigkeit, weil nur noch derjenige, der sich einen Steuerberater leisten kann, wirklich alle Schlupflöcher unserer Steuerverordnungen und Steuergesetze ausnutzen kann.
Deswegen ist - neben der ökologischen Steuerreform - das zweite Projekt, das wir Ihnen anbieten, eine durchgreifende Steuervereinfachung. Sie ist dringend erforderlich, wie es ebenfalls erforderlich ist, daß das Statistische Bundesamt, Herr Bundeskanzler, die prozentualen Veränderungen der Vermögensverteilung und der Einkommensentwicklung wieder auswirft. Es geht nicht an, daß Leute, die sich um diese Fragen bemühen, auf den merkwürdigen Sachverhalt stoßen, daß diese prozentualen Veränderungen gar nicht mehr ausgewiesen werden.
Das dritte Projekt, das wir Ihnen anbieten, ist eine wirkliche Veränderung des Rechtes des öffentlichen Dienstes. Hier sind nicht die Sozialdemokraten und der Bundesrat diejenigen, die blockieren. Das, was beispielsweise die Staatsregierung von Bayern kürzlich vorgeschlagen hat, ist ein Paket, über das zu reden sich lohnen würde, weil andere Bundesländer das genauso sehen. Wenn man einen Teil davon umsetzen würde, dann gäbe es eine spürbare und nützliche Reform des öffentlichen Dienstes. Ich nenne Ihnen nur einen Punkt: Wir können im Beamtenrecht nicht zulassen, daß es ständig Lebensarbeitszeitverkürzungen mit vollem Pensionsausgleich gibt. Das ist
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
nicht mehr bezahlbar. Das muß dringend abgestellt werden, meine Damen und Herren. Ich appelliere noch einmal an alle, einen entsprechenden Gesetzentwurf zügig umzusetzen und ihn nicht wiederum im Gestrüpp von Beamtenrechtsreferenten und handlungsschwachen Regierungen versickern zu lassen. Wir brauchen eine Reform des öffentlichen Dienstrechtes. Die Sozialdemokraten bieten über den Bundesrat, wie es der Parteivorsitzende soeben gesagt hat, diese Reform an.
- Ich will die Frage gerne beantworten. Das Saarland hat in der letzten Zeit zwei Initiativen im Bundesrat eingebracht.
- Wir haben z. B. das Kabinett im Saarland auf eine Art und Weise reduziert, daß sich selbst die Bundesregierung ein Beispiel daran nehmen könnte.
Denn bei uns gilt, verehrter Herr Kollege: Wenn man anfängt, unten auszudünnen, muß man zuerst oben mit gutem Beispiel vorangehen. An dieser Einsicht scheint es Ihnen noch zu fehlen.
Ich frage also: Was ist das zentrale Projekt Ihrer Regierung? Über diese Frage hätten wir gerne etwas gehört. Das zentrale Projekt, das wir befürworten, umfaßt mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Steuergerechtigkeit und mehr Flexibilität innerhalb unseres Staatswesens, weil die gegenwärtigen Strukturen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Als zentrales Reformprojekt für die Zukunft werben wir für eine andere Energiepolitik, die wir die „Brücke ins Solarzeitalter" nennen, weil wir auf diesem Gebiet viel zu lange zurückgeblieben sind und weil wir kommenden Generationen ein Umdenken schuldig sind.