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ID1303105600

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    Plenarprotokoll 13/31 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 31. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 30. März 1995 Inhalt: Abwicklung der Tagesordnung 2321 A Erweiterung der Tagesordnung . . . 2439 D Tagesordnungspunkt II: Wahl des Wehrbeauftragten (Drucksache 13/1000) . . . . . . . . . . 2321 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995 (Haushaltsgesetz 1995) (Drucksachen 13/50, 13/414) Einzelplan 04 Bundeskanzler und Bundeskanzleramt (Drucksachen 13/504, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 05 Auswärtiges Amt (Drucksachen 13/505, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung (Drucksachen 13/514, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rudolf Scharping SPD 2322 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 2333 D Otto Schily SPD 2344 C Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2344 D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . . 2349 A Michael Glos CDU/CSU 2349 C Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . 2349 D Dr. Uschi Eid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2354 C Dr. Gregor Gysi PDS 2354 C I fans Klein (München) CDU/CSU . . 2357 D Jochen Feilcke CDU/CSU 2358 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 2360 B Oskar Lafontaine, Ministerpräsident (Saarland) 2369 B Michael Glos CDU/CSU 2375 B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 2379 D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . 2384 B Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2386 D Heinrich Graf von Einsiedel PDS . . . 2389 A Günter Verheugen SPD 2391 B Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 2395 C Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . 2396 D Ulrich Irmer F.D.P 2397 D Günter Verheugen SPD . . . . . . 2398 B Eckart Kuhlwein SPD 2399 D Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA . 2401 D Eckart Kuhlwein SPD . . . . . . . . . 2401 D Jürgen Augustinowitz CDU/CSU . 2403 A Dr. Erich Riedl (München) CDU/CSU . 2403 C Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . . 2406 B Paul Breuer CDU/CSU 2409 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2411 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . 2412 B Ulrich Heinrich F.D.P. 2412 D Jürgen Koppelin F.D.P 2413 B Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 2415 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2416 C Norbert Gansel SPD 2417 C Dietrich Austermann CDU/CSU . . . 2418 C Dr. Emil Schnell SPD 2421 A Armin Laschet CDU/CSU . . . 2422 B, 2431 B Michael von Schmude CDU/CSU . . . 2424 C Wolfgang Schmitt (Langenfeld) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2425 D Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 2427 B Dr. R. Werner Schuster SPD . . . . 2428 C Karl Diller SPD 2429 B Eckart Kuhlwein SPD 2429 C Dr. Ingomar Hauchler SPD 2430 A Dr. Winfried Pinger CDU/CSU . . . 2430 D Dr. Willibald Jacob PDS 2431 C Eckart Kuhlwein SPD (Erklärung nach § 31 GO) 2439 A Namentliche Abstimmungen . . . 2433 C, 2436 C Ergebnisse . . . . . . . . . . . 2433 C, 2436 C Haushaltsgesetz 1995 (Drucksachen 13/528, 13/529, 13/966) . . . . . . . 2439 B Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998 (Drucksachen 12/8001, 13/530) . . . . . . . . . . 2439 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Initiative zum Karabach-Konflikt (Drucksache 13/1029) 2439 D Vizepräsident Hans Klein 2441 C Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2441 C Tagesordnungspunkt VI a: Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Francke (Hamburg), Peter Kurt Würzbach und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Karsten D. Voigt (Frankfurt), Uta Zapf und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann und der Fraktion der F.D.P.: Unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Lederer, Heinrich Graf von Einsiedel und der weiteren Abgeordneten der PDS: Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Nichtverbreitung von Kernwaffen zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Beer, Ludger Volmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform und Stärkung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen und das Mandat der Bundesregierung für die Verlängerungskonferenz in New York (Drucksachen 13/398, 13/429, 13/537, 13/838) Uta Zapf SPD 2440 B Klaus Francke (Hamburg) CDU/CSU . 2441 D Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2442 B Dr. Olaf Feldmann F.D.P 2443 A Andrea Lederer PDS 2443 C Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 2444 C Nächste Sitzung 2445 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2447* A 31. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 30. März 1995 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adler, Brigitte SPD 30. 03. 95 Blunck, Lilo SPD 30. 03. 95 Büttner (Ingolstadt), SPD 30. 03. 95 Hans Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 30. 03. 95 Hartmut Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Hartenstein, Liesel SPD 30. 03.95 Heym, Stefan PDS 30. 03. 95 Meißner, Herbert SPD 30. 03. 95 Scheel, Christine BÜNDNIS 30. 03. 95 90/DIE GRÜNEN Tippach, Steffen PDS 30. 03. 95 Vergin, Siegfried SPD 30. 03. 95
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    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst bedanke ich mich für diese guten Wünsche. Wer 65 wird, kann gar nicht genug gute Wünsche bekommen. Wer Bundeskanzler ist, braucht sie um so mehr. Ich bin vor allem dankbar, daß Sie die Wünsche zur Gesundheit von den Wünschen zur Amtszeit abgesetzt haben. Wenn Sie Ihre Meinung zum letzten Punkt nicht ausgesprochen hätten, würden viele unserer Freunde in Deutschland an mir zweifeln. Ich denke, bei dieser Arbeitsteilung bleiben wir.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenn ich gesund bleibe, hoffe ich, daß der erste Teil Ihres Wunsches so in Erfüllung geht. Über den zweiten Teil, Herr Abgeordneter, entscheiden die Wähler. Da sehe ich - mit großer Genugtuung - die Dinge auch für die Zukunft auf einem guten Weg.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Günter Verheugen [SPD]: Aha! Joachim Poß [SPD]: Er ist wieder im Ring! Weitere Zurufe von der SPD)

    - Haben Sie jetzt schon wieder Angst wegen der zukünftigen Kandidatur? Ich muß Sie einmal ein bißchen aus Ihrer Lethargie herausreißen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die Generaldebatte hat den Sinn, daß über die Regierungspolitik umfassend geredet wird. Diejenigen, die über sie schreiben und sie kommentieren, haben die Gewohnheit, schnell zu sagen: Die halten alle Fensterreden.

    (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Richtig!)

    Man kann nicht über parlamentarische Arbeit lamentieren und gleichzeitig nicht zugeben wollen, daß ein Parlamentarier in der konkreten Situation an einem konkreten Tag ein bestimmtes Ziel hat. Der Oppositionsführer kann ja nun nicht das Ziel haben, zu sagen: Lieber Helmut Kohl, Sie werden 65, ich wünsche Ihnen ein langes Leben, eine lange Amtszeit. Dann ist er in seiner Partei ja ganz verloren,

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. Rudolf Scharping [SPD]: Ein langes Leben schon!)

    zumal sein Nachbar von den GRÜNEN schon unüberhörbar Zweifel daran hegt, daß er das Klassenziel überhaupt je erreicht.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na, wie kommt er denn auf die Idee?)

    Also muß er hier herkommen und - das gehört sich ja auch so - gewaltig losdonnern. Das haben wir heute erlebt. Es war schon angekündigt worden: In der Fraktion gibt es Geraune; deshalb muß er zeigen, was er bringt. Er hat es gebracht: in scharfen Angriffen, mit wilden Worten.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er gut gemacht!)

    Es ist eine Republik entstanden, die mit der unsrigen gar nichts mehr zu tun hat.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Das blanke Elend quoll aus diesem Saal. Deswegen streben viele unserer Landsleute jetzt mit großem Tempo - Ostern steht bevor - in den zweiten Urlaubsabschnitt dieses Jahres.
    Also, Herr Kollege Scharping, ich will Ihnen ganz einfach sagen: Ich habe viel Verständnis für das, was heute bei Ihnen abgelaufen ist.

    (Zuruf von der SPD: Väterliche Masche!)


    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Ich erinnere mich immer an meine eigene Situation.

    (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das hat er schon einmal erzählt!)

    - Ich kann das noch einmal erzählen.

    (Dieter Schanz [SPD]: Das ist aber langweilig!)

    - Sie können es gar nicht oft genug hören.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Vielleicht nehmen Sie an diesem Punkt auch in Ihrer eigenen Fraktion ein bißchen mehr Vernunft an. Eigentlich spreche ich im Moment in Ihrem Interesse.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Als ich heute früh hierher kam, stand einer mit seinem Mikrophon da und fragte mich; Was sagen Sie zur Schwäche der Opposition? - Er war dann sichtlich enttäuscht, als ich sagte, ich hätte jetzt nicht die Absicht, mit ihm über die Opposition zu reden, sondern würde gleich im Bundestag meine Politik verteidigen. Da ich das Auf und Ab der Politik länger erlebt habe als viele andere, bin ich gegen solche vorschnellen Behauptungen. Aber Sie werden mir erlauben, Herr Vorsitzender Scharping, daß ich mich an meine eigenen Oppositionsreden erinnere, als ich, wie Sie, von Mainz hier hergekommen war, aus einem relativ ruhigen Dasein als Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Schönes Land!)

    Ich war gerade ein paar Wochen da, da ging es auch bei uns in der Fraktion los. Wir waren damals in einer besonderen Situation. Die haben Sie jetzt auch - ich komme noch darauf zu sprechen -; aber ein bißchen anders war es schon. Da hieß es: Der bringt das nie. Dann bin ich von Rede zu Rede - wenn ich das heute lese, frage ich mich, warum ich das gemacht habe - auch immer schärfer geworden. Ich habe mich immer weiter von den Leuten draußen entfernt, und die Fraktion hat großen Beifall gegeben. Sehen Sie, so geht es auch Ihnen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Nur, Herr Kollege Scharping, die Moral von der Geschichte ist: Es hat dann noch sechs Jahre gedauert.

    (Heiterkeit)

    Wenn Sie sich einmal vorstellen: Jetzt schreiben wir 1995.

    (Zuruf der Abg. Ingrid-Matthäus Maier [SPD])

    - Darüber werden wir uns doch sicher einigen, gnädige Frau, daß es 1995 ist.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Und noch einmal sechs Jahre, lieber Herr Scharping, dann sind wir in einem neuen Jahrtausend. Überlegen Sie einmal, was das heißt!
    Ich will noch einmal auf das, was ich vorhin gesagt habe, zurückkommen. Die Lage bei Ihnen ist natürlich anders. Bei uns gab es wenigstens nur einen präsumtiven Gegenkandidaten; bei Ihnen ist jedesmal ein anderer da. Man muß sich richtig daran gewöhnen.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Ministerpräsident Lafontaine scheint heute nicht so gut gelaunt zu sein. Seine übliche joviale Art ist vielleicht nachher beim Reden wieder da. Ich hoffe das.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dann kommt der Kollege aus Hannover.
    Jetzt muß ich Ihnen schon sagen: Ich habe viel erlebt. Es haben auch manche meinen Sturz betrieben. Das ist ganz normal in einer demokratischen Partei. Aber eine der größten Unverfrorenheiten - das muß ich Ihnen schon sagen -, die einem Parteivorsitzenden zuteil wurde, ist der heutige Artikel Ihrer Stellvertreterin im „General-Anzeiger". Sie sollten diese Dame möglichst rasch ablösen. Das wäre ein Segen für die Sozialdemokratie und für die deutsche Demokratie. Das möchte ich Ihnen sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Denn ein solches Maß - ich habe keine Freude daran; und auch der Kollege Solms hat keine Freude daran - an Illoyalität sollten wir nicht auch noch dadurch belohnen, daß wir es zitieren. Das sage ich noch einmal klar und deutlich.
    Dann ein Zweites, das ich Ihnen auch sagen möchte: Ich habe noch einmal das Abstimmungsergebnis für die Frau Wehrbeauftragte angesehen, der ich an dieser Stelle noch einmal im Namen der Bundesregierung gratuliere.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Aber, lieber Herr Kollege Scharping, wenn Sie Führung anmahnen bei mir und der Bundesregierung, der Koalition: Wenn ich schon meiner Fraktion die Empfehlung gäbe, die Kollegin mit zu wählen, dann würde ich wenigstens versuchen, daß mindestens über 50 % sie wählen. Also, für Sie war es heute kein großer Tag mit diesem Ergebnis; wirklich nicht.

    (Zurufe von der SPD: Doch!)

    Sie sollten mit Ihrer Kritik, bevor Sie über andere reden - -

    (Horst Kubatschka [SPD]: Das können auch Ihre Leute gewesen sein!)

    - Ihr Dazwischenrufen zeigt doch nur Ihr schlechtes Gewissen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Meine Damen und Herren, wir sprechen heute im Rahmen der Generalaussprache nicht zuletzt auch über die wirtschaftliche Lage. Sehen Sie, in unserer Erinnerung stehen die Debatten zur wirtschaftlichen Lage am Vorabend der Bundestagswahl - das war im September 1994, bei den ersten Reden über diesen Haushalt - und vom November 1993, als es um den 94er Etat ging. Herr Abgeordneter Scharping, wenn Sie noch einmal alles nachlesen, was Sie und Ihre Kollegen alles prophezeit haben, dann müssen Sie sich doch eigentlich fragen: Was wollen Sie uns noch an Prognosen über Weltuntergang bei uns in der Bundesrepublik zumuten?
    Sie sind durch die Gegend gezogen und haben Katastrophengemälde gezeigt. Aber die Realität sieht doch bei allen Sorgen, die wir haben, ganz anders aus. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß sich die Aufschwungkräfte in Deutschland durchsetzen. Wir erwarten für dieses Jahr ein Wachstum von ca. 3 %. Es ist doch unübersehbar, daß der Prozeß des wirtschaftlichen Aufschwungs vorankommt. In diesem Jahr werden wir in Ostdeutschland ein reales Wachstum von ungefähr 10 % haben. Wahr ist ebenfalls - das können Sie noch so lange bestreiten -, daß sich der Arbeitsmarkt zwar langsam, aber durchaus positiv entwickelt. Das gilt für Westdeutschland und ebenso für die neuen Länder.
    Aber diese Entwicklung ist noch kein Grund zur Genugtuung. Jeder hier im Saal weiß, daß das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitsplätze zu stabilisieren, die Herausforderung der deutschen Innenpolitik bleibt. In allen vergleichbaren modernen Industrienationen erleben wir seit vielen Jahren, daß am Ende jeder Rezession der Sockel der Arbeitslosigkeit höher ist als zuvor. Das macht uns betroffen. Wenn Sie genau hinschauen, dann können Sie überall, gerade bei uns in Deutschland, unschwer erkennen, daß die Welle von Rationalisierungen, die über die Betriebe hinweggegangen ist und -geht und die zum Teil dramatisch schnell die Betriebsergebnisse verbessert hat, in vielen Fällen durch den Abbau von Arbeitsplätzen erkauft worden ist.
    Hinzu kommt etwas, was ich für besonders wichtig halte, nämlich die Erkenntnis, daß im Wege des Ab- und Umbaus in den produzierenden Bereichen vor allem jene Arbeitsplätze abgebaut werden, die durch geringere Anforderungen gekennzeichnet sind. Anders ausgedrückt: Die geringer Qualifizierten haben schlechtere Möglichkeiten und bleiben eher außen vor oder werden freigesetzt. Deswegen ist die wichtigste Herausforderung der nächsten Jahre - das ist in anderen Ländern in Europa genauso -, daß wir Arbeitsplätze nicht nur im gehobenen Ausbildungssektor, sondern vor allem auch dort schaffen, wo früher etwa Hilfsarbeiter und ungelernte Arbeitskräfte ihre Chance hatten und wo heute besonders abgebaut wird.
    Wir müssen uns auch überlegen, wo es neue Möglichkeiten gibt. Wir müssen beispielsweise angesichts der Entwicklung der Altersstruktur in unserem Lande mit Blick auf die Pflege die Chance eröffnen, daß viele Leute, Männer wie Frauen, in diesem Bereich einen Arbeitsplatz finden. Ich halte es für sehr wichtig, daß wir die Anforderungen nicht so hoch setzen - ich sage das bewußt so -, daß später viele wiederum keine Chance haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    So schwierig dies ist, ich bin dennoch der Auffassung, daß wir durch gemeinsame Bemühungen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerorganisationen, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Politik und der öffentlichen Hand das Notwendige zur Transparenz und zur Flexibilisierung beitragen.
    Ich bin nach wie vor völlig unzufrieden, daß wir in der Frage der Teilzeitarbeit nicht richtig vorankommen. Ich erwarte mir von diesem Bereich nicht das Heil für alles. Aber es ist doch ganz unbestreitbar, daß es auf die Dauer nicht vernünftig sein kann, daß es in Deutschland nur 14 % oder 15 % Teilzeitarbeitsplätze gibt, während es z. B. in den Niederlanden 34 % oder 35 % sind. Es darf auch nicht so sein, daß jetzt wieder die Diskussion geführt wird - übrigens nicht zuletzt im öffentlichen Dienst; ich nehme hier Bund, Länder und Gemeinden durchaus zusammen -, daß Teilzeitarbeit eine Sache der Frauen ist. Das halte ich für ganz falsch. Die Chancen, die sich hier eröffnen, müssen wir wahrnehmen. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind da.
    Es ist für mich kein Trost, daß wir im Verhältnis zu anderen Ländern immer noch besser dastehen. Wir haben vom Frühjahr 1983 bis 1990 über drei Millionen neue Arbeitsplätze in der alten Bundesrepublik geschaffen.
    Warum soll es denn nicht möglich sein, auch auf diesem Feld mit gemeinsamer Anstrengung wieder ein gutes Stück voranzukommen?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, auch wenn es stimmt, daß die Bundesrepublik Deutschland unter den großen Industrieländern nach Japan die niedrigste Arbeitslosenrate aufweist, besteht keine Anlaß, sich auszuruhen und sich zu feiern.
    Wir haben Erfolge beim Thema Jugendarbeitslosigkeit. Es ist weniger ein Verdienst der heutigen Generation als der Generation vor uns, daß mit dem dualen System eine erstklassige Chance für junge Leute geschaffen wurde, rechtzeitig eine gute Ausbildung zu bekommen.
    Es ist doch bemerkenswert, daß unsere Jugendarbeitslosenrate nur ein Viertel des europäischen Durchschnitts beträgt. Der EU-Durchschnitt liegt bei 19,5 %, in der Bundesrepublik sind es knapp 5 %.
    Im Hinblick auf die Kapitalmarktzinsen in den großen Industrieländern haben wir eine günstige Position. Ich begrüße ausdrücklich die Entscheidung des Zentralbankrats vom heutigen Tag - ich bekomme dies gerade von Bundesminister Bohl gereicht -, die für die Entwicklung unserer Konjunktur und die mo-

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    netäre Situation insgesamt förderlich ist. Die Entscheidung geht in die richtige Richtung.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was wurde denn nun beschlossen? Sie hätten es doch sagen können! Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl reicht das Papier an Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saarland] weiter Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    - Meine Damen und Herren, wenn ich dem Ministerpräsidenten des Saarlands schon nicht das Wasser reichen kann, kann ich ihm wenigstens das Papier reichen. Vielleicht ist das hilfreich.

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Abgeordneter Scharping, als Sie dauernd über die soziale Dimension der Politik klagten, haben Sie wie üblich völlig verschwiegen: Wir haben eine Inflationsrate, die jahrelang gesunken ist und jetzt bei 2,4 % liegt. Ich bleibe bei der These: Die beste Sozialpolitik für Rentner und viele Millionen Menschen mit kleinen Einkommen ist die Wahrung der Stabilität der Währung. Deswegen ist es entscheidend, daß wir uns darum kümmern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wolfgang Schäuble hat trotz Ihres Protestes vorhin zu Recht gesagt, daß wir eine Gratwanderung machen müssen: auf der einen Seite gewachsene internationale Verantwortung, auf der anderen Seite Verantwortung für unsere Währung und strikter Konsolidierungsbedarf. Bei allen Klagen, die von der deutschen Exportwirtschaft geäußert werden, ist doch unübersehbar, daß die Stabilität der D-Mark eine gute Sache ist. Können Sie sich die Debatte vorstellen, die heute stattfände, wenn die D-Mark in den Strudel geraten wäre?

    (Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ina Albowitz [F.D.P.]: Das kann man wohl sagen!)

    Wir hätten gar nicht mehr anzutreten brauchen; Sie hätten doch im Chor vom Untergang der Republik gesungen.
    Ich bin stolz darauf, daß sich unsere Politik, nicht zuletzt auch die Politik des Bundesfinanzministers - sein hohes internationales Ansehen hat sehr viel damit zu tun -, im Vertrauen in die D-Mark widerspiegelt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Daß wir die enormen Sonderbelastungen für den Staatshaushalt in den letzten vier Jahren nicht einfach wegstecken können, ist auch wahr. Ich habe jetzt erste Notizen über neue IWF-Zahlen, die in ein paar Tagen erscheinen werden, gelesen. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, daß das Urteil über die Bundesrepublik Deutschland nicht nur sehr viel positiver ausfällt, sondern daß darin auch ein kleines
    Stück Anerkennung für die einmalige Leistung enthalten ist, die deutsche Einheit finanziell verkraftet zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, man muß auch das deutlich sagen: Bei alldem, der deutschen Einheit, dem Wiederaufbau und der Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Ländern bei gleichzeitiger schwerer Rezession, der schwersten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir über 146 Milliarden DM Unterstützungsleistungen für Osteuropa gegeben. Allein für die neuen unabhängigen Staaten, vor allem für Rußland, haben wir pro Kopf zehnmal soviel gezahlt wie beispielsweise die Französische Republik und die Vereinigten Staaten von Amerika. Das gehört doch auch zum Bild Deutschlands in dieser Zeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Weil hier wieder zum Teil absurde Vorstellungen über den Bereich der Innenpolitik im Hinblick auf Asylbewerber geäußert wurden: Es ist doch auch wahr, und das hat viel mit der Solidarität im Bereich der finanziellen Unterstützung zu tun, daß die Bundesrepublik Deutschland mit weitem Abstand die meisten Flüchtlinge und Asylbewerber in der Europäischen Union aufnimmt, und zwar mehr als 70 %.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, wenn wir gleichzeitig im Vergleich der öffentlichen Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts im G-7-Bereich auf dem zweitbesten Platz stehen - die Bundesrepublik mit 53,7 %, die USA mit 64,2 %, bei einem OECD-Durchschnitt von 70,2 % -, dann ist natürlich viel zu tun. Ich bin der letzte, der sagt, wir hätten in diesen vier, fünf Jahren alles richtig gemacht. Wir haben dazugelernt und haben uns verbessern müssen, aber insgesamt ist das eine gewaltige Leistung, und sie wird in der ganzen Welt anerkannt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Und dann, Herr Abgeordneter Scharping, haben Sie mich in der Auseinandersetzung mit meinem Amtsvorgänger in den 70er Jahren zitiert. Nun, meine Damen und Herren, die Schulden, die damals aufgelaufen waren, waren nicht Schulden infolge der deutschen Einheit und der Hilfe für Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Es waren hausgemachte Probleme, die Sie damals zu vertreten hatten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ölpreiskrise!)

    Daß man das ändern konnte, haben wir ja ebenfalls bewiesen. Wir haben zwischen 1982 und 1990 den Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt zurückgeführt und sind wieder auf eine Staatsquote in der Nähe von 46 % gekommen. Sonst wäre die deutsche Einheit 1990 und in den folgenden Jahren gar nicht finanzierbar gewesen. Das ist doch die Realität.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Das heißt - und dazu bekenne ich mich auch: Wir müssen jetzt von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern verlangen, daß wir diese Finanzierung gemeinsam solidarisch tragen. Zugleich müssen wir den Kurs der Haushaltskonsolidierung fortsetzen. Die Begrenzung der Staatsausgaben wird natürlich nicht überall Freude erwecken. Dennoch, Theo Waigel hat recht mit dem, was er hier vor ein paar Tagen gesagt hat. Das Jahr 1996 wird ein Jahr der Steuersenkungen - immerhin mit einer Gesamtentlastung von 30 Milliarden DM - werden.
    Nun gibt es, weil Sie in der SPD sich vom solidarischen Denken verabschiedet haben, eine große Diskussion im Blick auf den Solidaritätszuschlag. Meine Damen und Herren, ich finde, das, was sich hier entwickelt, gehört zu den erbärmlichen Schauspielen der jüngeren deutschen Geschichte.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Ich füge ausdrücklich hinzu: Sie sind bei dieser Haltung nicht allein, leider. Ich habe noch die vielen Stimmen im Ohr, die mir zugerufen haben: Du mußt nur Opfer verlangen! Die Leute sind gern bereit, Opfer zu bringen!
    Jetzt höre ich von dem einen oder anderen, daß Kirchenaustritte mit dem Solidaritätszuschlag zusammenhängen. Das ist theologisch eine sehr einfache Begründung.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Ich höre wiederum von anderen, daß das nicht zumutbar sei. Sie kennen das alles.
    Ich habe eine ganz einfache Frage an jeden von uns. Die meisten, die hier im Saal sitzen, vor allem die, die aus Westdeutschland kommen, aus der alten Bundesrepublik, und die in meinem Alter oder etwas jünger sind, aber trotzdem dabei waren, haben doch erlebt, wie wir in den 50er und 60er Jahren an Weihnachten Lichter in die Fenster stellten. Es war dann die Rede von den „Brüdern und Schwestern im anderen Teil Deutschlands".

    (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Das ist lange her!)

    - An Ihrer Stelle würde ich diesen Zwischenruf nicht machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Denn als wir von den Brüdern und Schwestern im anderen Teil Deutschlands sprachen, hatten Sie längst die endgültige Trennung im Kopf. Sie haben das Recht verwirkt, für Brüder und Schwestern in ganz Deutschland zu sprechen. Da waren Sie auf der falschen Seite.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Und, meine Damen und Herren, dann waren doch auch die Feiertage, der 17. Juni. Da haben wir uns versammelt.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die meisten waren im Freibad!)

    - Ja, Sie waren nicht dabei. Man konnte damals auch gern auf Sie verzichten, um das klar und deutlich zu sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die meisten waren im Freibad! Geben Sie es doch zu!)

    Wir haben immer wieder gesagt: Wir wollen die Einheit. Wir wollen, wenn es auch Geld kostet, alles tun. Es sind damals in der deutschen Diskussion von den großen demokratischen Parteien ganz andere Summen genannt worden. Ich will sie gar nicht aufzählen.
    Jetzt haben wir für ein paar Jahre Opfer zu bringen. Wir werden den Solidaritätszuschlag so früh wie möglich abschaffen, aber erst dann, wenn es vertretbar und verantwortbar ist.
    Wenn auf Kirchentagen und bei anderer Gelegenheit von den Brüdern und Schwestern in Afrika, Asien und Lateinamerika gesprochen wird, dann ist es auch angemessen, von den Brüdern und Schwestern in Rostock und Frankfurt/Oder zu reden, die unsere Unterstützung brauchen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Besonders schäbig ist das Spiel, das Sie von der SPD jetzt in der Landtagswahl getrieben haben, indem Sie in Hessen den Leuten sagen: „Ihr zahlt zuviel" und Sie dann ein paar Kilometer über die Grenze nach Thüringen gehen und sagen: Ihr bekommt zuwenig. Das ist keine Politik!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Wolfgang Weng [Geringen] [F.D.P.]: Das ist ganz übel! Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stoiber, Stoiber, sage ich da nur!)

    Wenn ich, meine Damen und Herren, über die wirtschaftliche Entwicklung rede, dann muß ich ein kurzes Wort - es war in der Debatte ja viel davon die Rede, nicht nur heute, sondern in diesen Tagen - zum Standort Deutschland sagen. Zu den Elementen des Standortes Deutschland gehört eine sichere, eine kostengünstige, eine umweltfreundliche Energieversorgung.
    Bis vor wenigen Jahren waren wir uns doch auch völlig einig, daß ein ausgewogener Energiemix von Mineralöl, Erdgas, Kohle, Kernenergie und erneuerbaren Energien sowie Energiesparen eine der entscheidenden Voraussetzungen ist, um Ökonomie und Ökologie miteinander zu verbinden.

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben sich davon verabschiedet. Die Begründung, die Sie bis heute geben, ist überhaupt nicht überzeugend, denn Ihre eigenen politischen Freunde in anderen Ländern Europas haben wenigstens einen Weg des Übergangs gefunden.
    In Schweden hat eine Volksabstimmung - nicht einmal eine parlamentarische Abstimmung - eine bestimmte Entscheidung gegen Kernkraft erbracht. Die folgende Regierung - die jetzige, sozialdemokratisch geführte Regierung macht es genauso - hat versucht, eine Übergangslösung über Jahrzehnte hinaus zu erreichen, trotz des Ergebnisses der Volksabstimmung.
    Man mag ja darüber streiten, was im Jahr 2020 oder 2030 sein wird. Aber es kann doch nicht vernünftig sein, jetzt dafür zu kämpfen, daß die weit über 20 Kernkraftwerke in der früheren Sowjetunion bzw. den Nachfolgerepubliken, die das Sicherheitsniveau von Tschernobyl haben, geschlossen werden. Es kann doch angesichts der wirtschaftlichen Lage in diesen Regionen nur ein Narr verlangen, daß diese Kernkraftwerke geschlossen werden. Also müssen sie sicherer gemacht werden.
    Wenn wir gleichzeitig die Chance, Sicherheitsverbesserungen vorzunehmen, unsere Industrie auf der Höhe der Zeit zu halten, vergeben, so ist das weder eine vernünftige Politik, noch nützt es dem Standort Deutschland. Es ist ein Ausstieg aus einem Stück Zukunft.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Im übrigen wissen Sie doch bei aller Diskussion um CO2-Einsparziele so gut wie ich, daß Sie das, was wirklich notwendig ist - das gilt jedenfalls für Deutschland und vergleichbare Länder in den nächsten Jahren gemeinsam -, mit einem Ausstieg aus der Kernkraft, wie Sie ihn proklamieren, nicht erreichen können.
    Bei aller Unterstützung für Energiesparen und Nutzung erneuerbarer Energien - Sie finden mich bei all diesen Dingen völlig offen für ein Gespräch und für Entscheidungen - kann doch niemand glauben, daß die eigentliche Gefährdung im CO2-Bereich auf diese Art und Weise gestoppt und beseitigt werden kann.
    Deswegen ist es wichtig, daß wir jetzt versuchen - in ein paar Wochen ist ja die Wahl in NRW vorbei; die saarländische Wahl war bereits -, zu einem Gespräch der Vernunft auch in Sachen Steinkohle zu kommen. Denn, meine Damen und Herren, so einfach, wie Sie es sich machen, vor allem der Ministerpräsident. von Nordrhein-Westfalen, ist es nicht. Er hat nun wirklich nichts getan. Seine Amtszeit ist lang, aber was er zur Strukturverbesserung mit Blick auf die Steinkohle getan hat, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Widerspruch bei der SPD Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dummes Zeug!)

    Sie rufen lautstark: Wir brauchen das Geld aus Bonn. In der nächsten Stufe sagen Sie dann: Wenn das Geld nicht kommt, dann machen wir einen Marsch auf Bonn. Mich beeindrucken Sie mit beidem überhaupt nicht.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wann waren Sie zuletzt im Ruhrgebiet?)

    Sie können jetzt bei den Energiegesprächen Punkt für Punkt sagen, was Sie wirklich wollen. Aber es kann nicht angehen, daß, wenn es um die Sicherung der Arbeitsplätze der Bergarbeiter geht, wir, der Bund, dafür zuständig sind und Sie für die Propaganda vor Ort.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Vielmehr sind Sie genauso in Bund und Ländern - in den Ländern haben Sie die Mehrheit - für einen vernünftigen Energiemix in der Zukunft verantwortlich und dafür, daß in Deutschland Ökonomie und Ökologie versöhnt werden, daß wir die Schöpfung bewahren.
    Wenn Sie sich an Ihren Hoffnungspartnern, wie Sie glauben, bei den GRÜNEN, orientieren, werden Sie keine Zukunft gewinnen.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na!)

    Denn die GRÜNEN können diese Position nur vertreten, weil sie sicher sind, daß andere die Zukunft sichern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Zu meinem Erstaunen sind heute von Ihrer Seite, Herr Abgeordneter Scharping, aber auch von anderen unsere Beziehungen und unser Verhältnis zum Nachbarn Polen in die Debatte gebracht worden. Es gehört schon ein ziemlich kurzes Gedächtnis dazu, den CDU-Vorsitzenden zum Thema Polen anzusprechen.
    Zunächst einmal lege ich Wert auf die Feststellung, daß wir in der Christlich Demokratischen und Christlich-Sozialen Union - das war immer auch die Politik in den Koalitionen mit den Freien Demokraten - den Satz aus der Regierungserklärung Konrad Adenauers von 1949 ganz wichtig nahmen. Er sagte damals ungefähr - ich formuliere das einmal aus dem Gedächtnis -: Wir wollen Aussöhnung und Frieden mit allen unseren Kriegsgegnern von gestern - vor allem mit Frankreich und mit Polen - und auch mit dem Staat Israel. Ich denke, unsere Politik hat in all diesen Jahren dazu beigetragen, dieses Ziel zu erreichen oder ihm näherzukommen.
    Mit Blick auf Israel hat das heute nacht der israelische Ministerpräsident in seiner öffentlichen Erklärung noch einmal deutlich gemacht. Im Blick auf Frankreich - auch da habe ich Sie überhaupt nicht verstanden - haben wir doch Beziehungen entwikkelt, von denen wir vor 50 Jahren nur träumen konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Herr Abgeordneter Scharping, daß es da Interessengegensätze gibt und daß man nicht in Paris sagen kann: So wird es gemacht, und wir dem nur nachfolgen, sondern daß wir auch einmal sagen: Wir möchten etwas anderes, das ist doch unter Freunden normal.
    Wenn die Beziehungen so schlecht wären und die Repräsentanten der deutschen Politik, Klaus Kinkel oder Helmut Kohl, so schlecht wären, wie wäre es dann überhaupt zu erklären, daß die französischen Spitzenkandidaten so großen Wert darauf legen, mit Bildern von uns im Wahlkampf aufzutreten?

    (Lachen bei der SPD Detlev von Larcher [SPD]: So was von billig!)

    - Das ist doch die Wahrheit.
    Als Vorsitzendem der Sozialdemokraten in Europa muß Ihnen doch aufgegangen sein, daß Ihr Kollege Jospin nach Deutschland kam, um zu demonstrieren, wie sehr ihm an der deutsch-französischen Freundschaft und am Kontakt zu bestimmten Persönlichkeiten gelegen ist. Also, verschonen Sie uns wirklich damit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Vive le roi!)

    Ich spreche das Thema Polen an, weil ich hier meine Erfahrungen mit deutschen Sozialdemokraten habe. Einige sind ja noch im Bundestag, die das miterlebt haben. Wir hatten in der CDU/CSU eine scharfe, schwierige Diskussion in den Jahren 1975/ 76, als es um den sogenannten großen Vertrag zwischen Deutschland und Polen ging; Sie wissen das. Es gab wilde Debatten hier im Bundestag, in denen die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion dagegen gestimmt hat. Wir haben dann nach einer dramatischen Entwicklung am 12. März 1976 mit der Mehrheit aller Stimmen der CDU/CSU-geführten Länder - ohne uns wäre nichts geschehen - im Bundesrat den Vertrag akzeptiert. Alle Ministerpräsidenten einschließlich meines Freundes Alfons Goppel, des Bayerischen Ministerpräsidenten, haben zugestimmt.
    Herr Scharping, ich erwähne es deswegen, weil ich damals erlebt habe, wie weit parteitaktisches Denken bei Ihnen gehen kann. Sie haben an jenem Tag fest damit gerechnet, daß wir auf Grund unserer großen inneren Schwierigkeiten keine Mehrheit zustande brächten. Sie hatten schon Millionen Fluglätter gedruckt, um uns im Wahlkampf als diejenigen anzuprangern, die die Polen-Verträge zerstören wollen. Sie haben damals schäbig gehandelt, und Sie haben heute zu diesem Punkt schäbig gesprochen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dann war da noch das Wort von der Solidarnosc.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zur Sache, Kanzler! Sagen Sie einmal etwas zu Polen und zum 8. Mai!)

    - Ich komme zum 8. Mai, aber ich lasse mir von Ihnen überhaupt nicht vorschreiben, worüber ich zu reden habe. Sie sind der letzte in diesem Haus, der mir dazu einen Grund geben kann.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zur Sache, Kanzler!)

    Also, dann war hier die Rede von Solidarnosc. Herr Fraktions- und Parteivorsitzender Scharping, wo war denn die deutsche Sozialdemokratie 1981/82? An der Seite der Solidarnosc? Wer hat denn von den deutschen Parteien dieser neu aufkommenden Gruppierung die ersten, auch materiellen, Unterstützungen gegeben? Hier sitzt Norbert Blüm, der Ihnen bestätigen wird, wer die Gespräche mit dem jetzigen Präsidenten der Polnischen Republik geführt hat. Ich habe keinen Bedarf an Nachhilfeunterricht in Sachen Polen, in Sachen Solidarnosc und in Sachen Freiheit in Polen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    In Polen käme auch niemand auf den Gedanken, das zu sagen, was Sie hier gesagt haben.

    (Günter Verheugen [SPD]: Oh doch!)

    Denn die politische Führung, auch die jetzt gerade neu ins Amt gekommene polnische Regierung, der Ministerpräsident wie der Außenminister, und ganz gewiß der Staatspräsident, wissen sehr genau, daß die Bundesregierung und hier insbesondere der Bundesaußenminister und auch ich bei jeder Gelegenheit das Notwendige getan haben, um Polen etwa den Weg in die Europäische Union zu ebnen. Wenn Sie sehen, was Volker Rühe im Bereich der NATO tut, dann kommen Sie zur gleichen Erkenntnis. Sie konnten vor wenigen Wochen in den Zeitungen lesen, was der polnische Ministerpräsident anläßlich des EU-Gipfels in Essen zu diesem Thema gesagt hat und daß er sich bei den Deutschen bedankt hat.
    Was soll das also? Wenn Sie unsere Politik nicht mögen, ist das Ihre Sache. Sie sollten aber eine Grundausstattung an Fairneß haben und die Dinge nicht so ganz falsch darstellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Jetzt erlauben Sie mir ein Wort zu der Gedenkfeier am 8. Mai. Ich versuche wieder zu dem Thema zu kommen, um das es hier eigentlich geht und das doch jeden von uns berührt, gleich, ob er in jenen Tagen schon dabei war oder später geboren ist.
    Meine Damen und Herren, am 8. Mai jährt sich zum 50. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Das muß für uns alle in allererster Linie ein Tag des Gedenkens und der Selbstbesinnung sein, auch bei ganz unterschiedlichen Lebensläufen.
    Wir erinnern uns an diesem Tag an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, an die Millionen ermordeter Juden, an die ermordeten Sinti und Roma und an viele andere. Wir erinnern uns auch an das Leiden unschuldiger Männer, Frauen und Kinder aus anderen Völkern wie auch aus unserem eigenen Volk.

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Millionen von Soldaten aus vielen Nationen ließen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, den Hitler entfesselt hatte, ihr Leben. Millionen gerieten in Kriegsgefangenschaft, viele kehrten als Kriegsversehrte in die Heimat zurück.
    Wir haben guten Grund, an diesem Tag auch derer zu gedenken, die bei Flucht und Vertreibung Schlimmes erlebt haben und die ganz unschuldig waren, die nicht für sich als einzelne die Verantwortung zu tragen hatten, die aber in die Kollektivschuld unseres Volkes geraten sind.
    Wir gedenken an diesem Tag der Frauen, die vergeblich auf ihre Männer gewartet haben, und der Mütter, die vergeblich auf ihre Söhne gewartet haben. Wir gedenken der vielen Kinder, die im Zweiten Weltkrieg Vater oder Mutter verloren haben.
    Das Kriegsende bedeutete für uns Deutsche die Chance zum Neubeginn. Es ermöglichte Frieden und Versöhnung zwischen den Völkern, hat dem größeren Teil unseres Volkes in der dann gegründeten Bundesrepublik 40 Jahre Freiheit geschenkt. 1990 kam dann die Wiedervereinigung.
    Wenn man noch einen Sinn für die Würde unseres Volkes hat, kommt man zu dem Ablauf des 8. Mai, den wir überlegt hatten. Wolfgang Schäuble sprach davon. In den allerersten Gesprächen des Bundespräsidenten, der Bundestagspräsidentin und des Bundesratspräsidenten, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und des Bundeskanzlers waren wir uns einig, daß wir versuchen wollten, diesen Tag unter uns zu begehen. Es war gar keine Rede vom Einladen ausländischer Gäste. Das ist eine Überlegung, die man sehr wohl anstellen kann. Es war gedacht, daß der Bundespräsident wie schon vor zehn Jahren die Hauptrede hält und daß eine Ansprache der beiden Parlamentspräsidenten - Bundestagspräsidentin und Bundesratspräsident - die Rede des Bundespräsidenten einrahmt. Das war unsere Vorstellung.
    In diese Vorbereitung kam dann, und zwar plötzlich - ich bin dennoch dafür sehr dankbar -, der Wunsch des französischen Präsidenten François Mitterrand, an diesem Tag in Deutschland zu sprechen. Wenn François Mitterrand einen solchen Wunsch deutlich macht, muß man gleichzeitig auch bedenken, daß am Tag vor dem 8. Mai, am 7. Mai, die Stichwahl für die Wahl des Präsidenten der Französischen Republik stattfindet, daß heißt, daß in der darauffolgenden Woche seine Amtszeit endet.
    Er selbst hat ja auch öffentlich erklärt, daß seine Rede auf den Champs-Elysées am Grabmal des unbekannten Soldaten am Morgen des 8. Mai sein letzter öffentlicher Auftritt in Frankreich sein soll. Nun ist François Mitterrand nicht irgend jemand: Er hat mehr als viele andere dazu beigetragen, daß in seiner 14jährigen Amtszeit die deutsch-französische Freundschaft sprichwörtlich in der Welt geworden ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Er hat in vielen Stationen dieser Jahre gemeinsam mit uns und nicht zuletzt mit mir als Regierungschef in Deutschland die Sache Europas vorangebracht. François Mitterrand ist in seinem Leben dreimal aus deutscher Gefangenschaft ausgebrochen.
    Er hat unser Land - das ist in diesen Tagen in einer literarischen Würdigung deutlich geworden - in seinem kulturellen und geistigen Gehalt in einer Weise in sich aufgenommen wie wenige andere. Ich finde, wir haben allen Grund, stolz zu sein, daß dieser Mann am 8. Mai bei uns in Deutschland sprechen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Das kann jeder nachvollziehen.
    Angesichts der Tatsache, daß wir bis vor wenigen Jahren von den „vier Statusmächten" in Deutschland sprachen - diese Zeit liegt nicht so weit zurück, daß wir alles vergessen haben -, war es doch ganz naheliegend, die Überlegung anzustellen, daß wir die Vier Mächte, die für das, was dann zur deutschen Einheit führte, ganz entscheidend waren, einladen. Es ist nicht alles vergessen, was in diesen Jahrzehnten geschehen ist, beispielsweise die Garantie der Freiheit Berlins. So kommen Vizepräsident AI Gore, Premierminister John Major und der russische Ministerpräsident.
    So entstand das Konzept, das der Würde unseres Landes, den Beziehungen zu unseren Freunden und Partnern entspricht und das - was mir vor allem wichtig ist - nicht rückwärtsgerichtet ist, sondern Perspektiven für die Zukunft aufweist.
    In diesem Zusammenhang darf man, Herr Abgeordneter Scharping, auch daran erinnern, daß das Treffen jetzt in Berlin 50 Jahre nach Potsdam stattfindet. Auch jemand wie ich weiß noch, wer in Potsdam am Tisch gesessen hatte; ich brauche die Ermahnung nicht, die Sie mir vorhin gegeben haben. Es ist eigentlich ziemlich naheliegend, daß wir sagen: In diesen 50 Jahren haben wir - nicht allein die hier Sitzenden, sondern ganze Generationen vor uns; ich schließe alle meine Amtsvorgänger ausdrücklich ein - diesen Weg überhaupt möglich gemacht. Wir sollten das jetzt nicht kleinreden. Wir sollten stolz darauf sein, daß wir eine solche Möglichkeit haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dann stellt sich die Frage, ob wir darüber hinaus noch andere einladen und ob wir, wenn wir jemanden einladen, jemanden einladen können, der nicht spricht. Ich brauche das nicht näher zu erläutern. Jeder spürt doch, wie schwierig so etwas ist.
    Man kann den Kalender zur Hand nehmen und festlegen, wann man anfängt. Wenn Sie von Polen reden, dann müssen Sie natürlich auch die Frage nach Tschechien und der Slowakei stellen; allerdings liegen die entsprechenden Ereignisse zeitlich davor. Dann müßten Sie auch Norwegen, Dänemark, die

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Niederlande, Belgien und Luxemburg - ich könnte die Liste fortsetzen - nennen.

    (Zuruf von der PDS)

    - Meine Damen und Herren von der PDS, das ist Ihre Meinung. Aber Ihre Meinung ist für mich deswegen völlig unerheblich, weil Sie über 40 Jahre mit all diesen Ländern ganz andere Beziehungen hatten. Sie sind doch in der Tschechoslowakei einmarschiert und nicht die Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich empfinde es als ein starkes Stück Heuchelei, daß Sie vorhin von der Wiedergutmachung für die Juden gesprochen haben. Sie in der DDR haben doch überhaupt keine Wiedergutmachung an den Staat Israel geleistet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Sie haben sich doch über Jahrzehnte hinweg vor Ihrer moralischen Verantwortung für das Unrecht, das in deutschem Namen geschehen ist, gedrückt. Insofern brauchen wir von Ihnen wirklich keinen Appell.
    Ich will noch einmal sagen: Wer ruhig darüber nachdenkt, wird unschwer erkennen, daß der gewählte Weg der richtige ist. Ich bedaure, daß von polnischer Seite - ich will ausdrücklich bestätigen: in einer gutwilligen Weise und mit voller Anteilnahme am Schicksal der Deutschen - der Vorschlag zu einem solchen Zeitpunkt kam, daß wir über die Gründe, die wir haben, noch gar nicht haben reden können. Ich bin ganz sicher, daß im Parlament - nicht auf meinen Rat hin, Herr Abgeordneter Scharping; auch da ist das, was Sie gesagt haben, der Wahrheit zuwider -, in seinen Gremien und auch im Bundesrat überlegt wird, erstens die Chance zu haben, einen Redner von Gewicht aus Polen bei uns in diesen Tagen als Gast zu sehen. Zum zweiten finden wir leicht eine Möglichkeit, bei dem Besuch des polnischen Staatspräsidenten hier im Deutschen Bundestag seine Rede mit jener Erwartung zu hören, die viele an diese Diskussion geknüpft haben.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Ich sage noch einmal: Wir wollen Ausgleich mit unseren polnischen Nachbarn. In den Ländern, die ich soeben angesprochen habe und die man bei einer solchen Einladung mit nennen muß, hat mir der eine oder andere bedeutet, daß er diese Einladung lieber nicht erhält, weil sie innenpolitisch Schwierigkeiten machen könnte. Das alles wissen auch Sie.
    Lassen Sie uns bitte zur sachlichen Betrachtung zurückkehren. Man mag ja unterschiedlicher Meinung sein; das respektiere ich doch. Aber diese Verbalinjurien - hätte ich beinahe gesagt -, die Sie damit verbunden haben, sind der Sache nicht gemäß.
    Ich komme zum letzten Punkt: Wissen Sie, Herr Abgeordneter Scharping, ich stelle mich gerne Ihrer Kritik an unserer Außenpolitik. Natürlich machen wir da auch Fehler, denn wir müssen ja fast täglich Entscheidungen treffen. Nur, die Vorstellung, daß die Regierung und ich isoliert seien, ist mir neu. Ich kenne nicht einen einzigen Amtskollegen in Europa - gleich welcher Partei -, der Ihren Wahlsieg am 16. Oktober gewünscht hat. Das wissen Sie doch wirklich selber.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber die müssen ihn doch auch nicht wählen!)

    Wenn Sie einmal unter echten Klausurbedingungen in der Sozialistischen Internationale mit Bezug auf die europäischen Länder nachfragen, werden Sie zu einem erstaunlichen Ergebnis kommen.
    Sie können übrigens auch über die europäischen Grenzen hinausgehen: Sie finden auch in anderen Teilen der Welt wenig Anklang, und zwar deswegen, weil Sie sich völlig isoliert haben. Sie vertreten doch die Politik, daß die Deutschen dort, wo es darum geht, Vorteile zu haben, Teil der Völkergemeinschaft sind, sich aber dort, wo es darum geht, Verantwortung zu übernehmen oder gar Opfer zu bringen, drücken. Das ist doch Ihre Position.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Herr Abgeordneter Scharping, Sie müssen uns wirklich nicht loben; das kann niemand erwarten. Aber ich wäre dann wenigstens ruhig bei der Frage, ob die Bundesregierung, der Bundesaußenminister, der Bundeskanzler und die Koalition, die diese Politik trägt, international nicht das notwendige Ansehen genießen. Am Ende dieses Jahrhunderts, in fünf Jahren, nach zwei schrecklichen Weltkriegen, nach zwei schrecklichen Diktaturen - erst einer braunen und dann einer roten Diktatur in einem Teil Deutschlands -, nach dem Furchtbaren, was in deutschem Namen geschehen ist und auf immer mit dem Namen Auschwitz verbunden sein wird - viele Jahrestage im Jahr 1995 erinnern uns daran -, bin ich glücklich und stolz, daß die großen demokratischen Kräfte - das ist nicht nur eine Frage meiner Partei - nach 1945 und vor allem nach 1949 nach Gründung der Bundesrepublik, ein neues Bild von Deutschland geschaffen, genauer gesagt: erarbeitet haben.
    Das ist uns nicht in den Schoß gefallen. Es waren Millionen Menschen daran beteiligt. Es waren die Gewerkschaften mit ihrer internationalen Arbeit genauso daran beteiligt wie auch viele deutsche Unternehmer und Unternehmungen, die weltweit arbeiten. Es war eine ganze Generation nachwachsender junger Leute - denken Sie nur an das Deutsch-Französische Jugendwerk - daran beteiligt. Denken Sie auch an die Sportverbände, denken Sie an die Arbeit der Kirchen. Ich könnte noch vieles hinzufügen.
    Wir haben die Wiedervereinigung trotz aller Bedenken und Befürchtungen, daß sich die Deutschen doch nicht geändert haben könnten, mit Zustimmung all unserer Nachbarn erreicht. Zugegeben: Die Zustimmung war zum Teil etwas reserviert. Aber sie ist letztendlich gekommen. Am 3. Oktober 1990 haben sich viele in Europa - jetzt spreche ich nicht nur von den Regierungen, sondern von den Menschen - daran erinnert.

    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
    Wenn ich daran denke - er hat dann zwar Probleme bekommen, weil Kurzsichtigkeit überall zu Hause ist -, daß der Ihnen nicht gänzlich unbekannte Wiener Bürgermeister an diesem Tag - nicht in Erinnerung an 1938, sondern in der Hoffnung auf die Zukunft - Schwarz-Rot-Gold auf dem Wiener Rathaus aufziehen ließ, in Erinnerung an Freundschaft und Partnerschaft zwischen Deutschen und Österreichern nach dem Zweiten Weltkrieg wenn ich daran denke, was wir etwa auf den Champs-Elysées erlebt haben, als das deutsch-französische Korps an den Feierlichkeiten zum 14. Juli teilgenommen hat, finde ich: Damit können wir uns sehen lassen.
    Sie müssen das, was Sie glauben sagen zu müssen, sagen. Ich bin ganz zufrieden mit der Erkenntnis, daß Sie außerhalb und innerhalb der deutschen Staatsgrenzen für Ihre Meinung nicht nur keine Mehrheit, sondern nicht einmal eine minimale Zustimmung finden.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch!)

    Wir werden unseren Weg weitergehen für eine Politik für Frieden und Freiheit, für eine Politik des Umdenkens in einer sich dramatisch verändernden Welt. Wolfgang Schäuble hat deutlich gemacht, Herr Solms hat deutlich gemacht, was angesagt ist: ein Umdenken, das eben nicht in der bequemen Form zu erreichen ist, indem wir überall Besitzstände erhalten. Vielmehr werden wir über Besitzstände reden müssen, um Prioritäten neu zu setzen und die Zukunft zu sichern.
    Die Bundesregierung wird auf diesem Weg vorangehen. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung für den Haushalt. Ich sage Ihnen auch: Bei allen Diskussionen - das gehört zu einem aktiven politischen Leben in der Koalition - werden die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. und diese Bundesregierung ihr Ziel erreichen, so wie in den vergangenen zwölf Jahren auch. Das ist immerhin ein Wort. Sie besteht bald länger als die Weimarer Republik. Deshalb hat unsere Politik auch Zustimmung gefunden.

    (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von Dr. Burkhard Hirsch
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich erteile jetzt dem Herrn Ministerpräsidenten Lafontaine das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Oskar Lafontaine


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat zum Schluß seiner Ausführungen die Außenpolitik seiner Regierung gewürdigt und darauf hingewiesen, auf wieviel internationale Zustimmung diese Außenpolitik stößt. Wer von der Opposition wollte dies beklagen, entspräche es den Tatsachen? Es ist aber - hierin wird mir jeder zustimmen - nicht in Ordnung, wenn in diesem Parlament ein Bild der Zustimmung zur Außenpolitik der Bundesregierung im gesamten Europa gezeichnet wird, das den Tatsachen schlicht und einfach nicht entspricht.

    (Beifall bei der SPD)

    Beginnen wir mit Polen. Herr Bundeskanzler, Sie haben dieses schwierige Thema nicht sachgemäß behandelt. Niemand bestreitet, was Sie zur Politik Konrad Adenauers erwähnt haben. Ich stehe auch nicht an zu sagen, daß einige kritische Bemerkungen, die Sie hinsichtlich des Umgangs mit der Solidarnosc gemacht haben, durchaus berechtigt sein mögen. Zu Zeiten der Ostpolitik war es halt immer schwer, den Spagat zwischen den Regierenden und den Oppositionsgruppen richtig zu halten.
    Aber davon war gar nicht die Rede. Die Rede ist von der jüngeren Geschichte, die Sie zu verantworten haben. Die Rede ist von Ihrer Weigerung, die polnische Westgrenze anzuerkennen. Diese Weigerung war ein schwerer politischer und diplomatischer Fehler, der heute noch nachwirkt.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Bundeskanzler, wenn Ihnen entgangen sein sollte, wie isoliert Sie zur damaligen Zeit waren, hätte ich mir gewünscht, daß Sie beispielsweise den Film von Hajo Friedrichs über die deutsche Einheit gesehen hätten, der anläßlich seines Todes noch einmal gezeigt worden ist. Beispielsweise mußte Sie der amerikanische Präsident öffentlich zur Ordnung rufen. Diese Begebenheit aus dem Jahre 1990 habe ich noch nicht vergessen.
    Sie wissen ganz genau, auf wieviel Unverständnis in Frankreich und England diese Ihre Politik gestoßen ist. Maggie Thatcher schrieb in ihren Memoiren: Helmut Kohl hinterließ den denkbar schlechtesten Eindruck.
    Herr Bundeskanzler, von großer Zustimmung kann hier ja wohl nicht die Rede sein.

    (Beifall bei der SPD - Lachen des Bundesministers Dr. Theodor Waigel)

    - Das ist auch nicht zum Lachen.
    Ihre Weigerung, die polnische Westgrenze anzuerkennen, hat das deutsch-polnische Verhältnis schwer belastet. Herr Bundeskanzler, wenn Sie das heute immer noch nicht verstanden haben, dann tut uns das leid. In diesem Kontext ist die Frage zu sehen, ob der polnische Staatspräsident nicht vielleicht anders hätte behandelt werden müssen, als Sie ihn behandelt haben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Es mag ja sein, daß Sie bis zu dem Zeitpunkt, als François Mitterrand darum gebeten hat, das Wort ergreifen zu dürfen, durchaus übereinstimmend vorgegangen sind. Aber spätestens dann hätte sich doch die Frage stellen müssen - nachdem der französische Staatspräsident um diese Einladung gebeten hat -, ob nicht auch eine besondere Einladung an den polnischen Nachbarn hätte ergehen müssen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    Darum geht es, Herr Bundeskanzler, und um nichts anderes. Dies kann man nicht mit irgendwelchen Einwänden vom Tisch fegen.
    Ich möchte ganz leise etwas zur Diskussion über den 8. Mai sagen. Das scheint wirklich schwer zu sein. Herr Kollege Schäuble, Ihre Einlassung dazu war unter der Gürtellinie.

    (Beifall bei der SPD)

    Es geht nicht darum, daß irgend jemand daran gehindert werden soll zu trauern. Mein Vater ist am 25. April 1945 gefallen. Wenn das Ende des Krieges früher gekommen wäre, bräuchte ich seinen Tod nicht zu betrauern. Ich bin der Auffassung, daß wir die Opfer und die Leiden nicht unbedingt am 8. Mai betrauern müssen, sondern wir betrauern sie ständig. Wir betrauern sie, wenn wir ihres Todestages gedenken

    (Rudolf Scharping [SPD]: So ist es!)

    oder wenn wir der Tage gedenken, an denen das Unglück eingetreten ist.
    Natürlich stellt niemand in Abrede, daß viel Unrecht auch nach dem 8. Mai 1945 geschehen ist. Natürlich nehmen wir am Los solcher Menschen Anteil und betrauern ihr Schicksal. Was wir beklagen, ist, daß sich viele immer noch weigern einzusehen, daß der 8. Mai 1945 das Ende der Schreckensherrschaft des Nazi-Systems war. Darum ging es.

    (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wenn Sie von der großen Zustimmung sprechen, die Sie in der internationalen Politik erfahren haben, muß ich Sie leider korrigieren. Es könnte allerdings sein, daß wir immer in verschiedenen Hauptstädten sind und mit unterschiedlichen Politikern sprechen.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer weiß, wo Sie sich rumtreiben!)

    - Ach, Herr Kollege Schäuble, Sie haben schon klügere Zwischenrufe gemacht.
    Ich will dies gern am Beispiel François Mitterrands erläutern. Dies hat mich im Jahre 1990 belastet. Es trifft ja nicht zu, daß alles eitel Sonnenschein ist, wie Sie hier immer versuchen, es darzustellen. Sie, Herr Bundeskanzler, reden sich die Welt so schön, wie Sie glauben, daß sie aus Ihrer Sicht sein sollte. Das ist aber kein richtiges Herangehen an die Wirklichkeit.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Als Sie im Jahre 1989 den Zehn-Punkte-Katalog im Deutschen Bundestag vorgetragen -

    (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Eine Sternstunde!)

    - eine Sternstunde, höre ich hier - und damals keine
    Zeit gefunden haben, den französischen Staatspräsidenten zu informieren, haben Sie einen schweren Fehler begangen, der das deutsch-französische Verhältnis bis zum heutigen Tage belastet.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Sie waren mitverantwortlich dafür, daß im Anschluß daran der französische Staatspräsident, Ihr Freund François Mitterrand, in der französischen Politik in enorme Schwierigkeiten kam. Er reiste nach Ost-Berlin, er reiste nach Kiew, und er mußte sich die Frage gefallen lassen, was er eigentlich wolle und was eigentlich das Ziel der französischen Politik sei.

    (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Dieser Frage müßten Sie sich eigentlich auch stellen!)

    Ich sage Ihnen: Den französischen Staatspräsidenten über diese entscheidende, richtungsweisende Rede im Deutschen Bundestag nicht informiert zu haben war für mich ein Bruch des Elysee-Vertrages, um dies einmal in aller Deutlichkeit zu sagen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Hören Sie, Herr Bundeskanzler, also auf, von der großen Zustimmung im Ausland zu Ihrer Politik zu sprechen. Ich habe Ihnen einige Beispiele, die das Gegenteil belegen, genannt. Es wäre ebenfalls gut, wenn Sie nicht mit einer derartigen Selbstgewißheit hier an das Podium treten würden, so als hätte ganz Europa, von rechts bis links, von oben bis unten, nur auf Ihren Wahlsieg gewartet. Das ist doch ein bißchen Selbstüberschätzung. Nehmen Sie sich etwas zurück! Das wäre auch gut für das Ansehen der deutschen Außenpolitik, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Immer wenn Sie sich listig hier ans Pult pirschen und sich schon im vorhinein über den Humor freuen, den Sie vortragen werden, ist Aufmerksamkeit geboten. Und so unterrichteten Sie Rudolf Scharping darüber, daß Sie hier Reden als Oppositionsführer gehalten hätten, daß Sie da immer aggressiver geworden seien, daß Sie sich immer weiter von den Leuten entfernt hätten und daß die Fraktion großen Beifall geklatscht habe. Nun, großen Beifall haben Sie vorhin wieder von Ihrer Fraktion gehabt. Dies führt dann zu der Frage, ob Sie wirklich so nahe bei den Leuten draußen im Lande sind, wie Sie glauben, daß Sie derzeit seien.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Dabei, Herr Bundeskanzler, wollen wir Ihnen gar nicht absprechen - und Sie haben dem SPD-Vorsitzenden leider nicht genau zugehört -,

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie waren doch gar nicht da!)

    daß Sie mit Ihrer Rede durchaus die Empfindungen vieler Menschen in unserer Republik treffen und daß Sie durchaus auch viele Positionen vertreten, die mehrheitsfähig sind. Wer wollte das bestreiten?

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    Aber wenn man wirklich den Anspruch erhebt, sich nicht von den Leuten zu entfernen, dann muß man natürlich auch an die Minderheiten in unserem Volke denken,

    (Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    weil sich eine Demokratie eben im besonderen durch den Umgang mit Minderheiten auszeichnet, und zwar mit dem Recht, daß ihre Anliegen hier zur Sprache kommen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Deshalb sage ich Ihnen: Wenn der Oppositionsführer Rudolf Scharping hier von den Arbeitslosen, von den Obdachlosen, von den Sozialhilfeempfängern, von den vielen Menschen spricht, die in Not und Elend sind, dann geht es zwar um eine Minderheit, aber trotzdem muß von ihr gesprochen werden, denn diese Minderheit darf in unserem demokratischen Rechtsstaat nicht vergessen werden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Sie haben die Arbeitslosigkeit angesprochen. Aber auch hier fehlt eine kritische Selbstreflexion. Sie setzen auf Wachstum. Sie zitieren die Statistik. Ich rate immer, sich die Statistik genau anzusehen. Die stolzen Zahlen, die Sie verkünden, relativieren sich nämlich schnell, wenn man sie analysiert hinsichtlich Vollzeitarbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeitsverhältnissen und nicht sozialversicherungspflichtig abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Wenn Sie sich einmal dieser Mühe unterzögen, dann würde Ihnen etwas auffallen. Dann würde Ihnen auffallen, daß Sie seit Jahren an einer Stelle eine falsche Politik betrieben haben.
    Es ist nun einmal so, daß sich der Zuwachs unserer gesamten Wirtschaftsleistung über Jahrzehnte linear vollzieht und daß die Entwicklung der Pro-Kopf-Produktivität eben nicht linear verläuft, sondern stärker ist als der Zuwachs unserer gesamten Wirtschaftsleistung; man nennt das exponentiell. Bei einer solchen Entwicklung ist mehr Menschen ein Zugang zum Arbeitsleben nur zu ermöglichen, wenn man die Arbeitszeiten verkürzt.
    Sie haben diese richtige Politik jahrelang mit der Formel „dumm, töricht und absurd" bekämpft. Sie sind also mitverantwortlich für Fehlentwicklungen, die sich in den letzten Jahren eingeschlichen haben.

    (Beifall bei der SPD und der PDS)

    Noch vor einiger Zeit sprachen Sie von einer Verlängerung der Arbeitszeit, die notwendig sei. Sie dürfen nicht auf das Kurzzeitgedächtnis setzen, Herr Bundeskanzler. Politik vollzieht sich in langen Wellen. Sie sprachen mit vielen Verbandsfunktionären von einer notwendigen Verlängerung der Arbeitszeit.
    Es ist ja gut, daß Sie jetzt von dieser völlig falschen Rezeptur heruntergekommen sind; es ist ja gut, daß Sie jetzt die Wende vollzogen haben und daß Sie jetzt immer mehr über Teilzeit reden. Sie haben das in Ihrer Rede eben wieder getan. Teilzeit ist Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich. Wir begrüßen es, daß Sie jetzt endlich zu dieser Einsicht gefunden haben. Sie haben aber mehr als zehn Jahre dazu gebraucht, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie sprachen von der Stabilität der D-Mark und von ihrer Stärke. Ich bedanke mich für die Information über die Entscheidung des Zentralbankrates, die Sie mir freundlicherweise zukommen ließen. Ich hoffe, daß Sie mir das Papier auch noch nach meiner Rede gegeben hätten. Es ist nun einmal meine Aufgabe, Herr Bundeskanzler, auf die Schwachstellen Ihrer Politik aufmerksam zu machen.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Da müssen Sie aber lange suchen!)

    Ich möchte, was die Stärke der D-Mark angeht, zur Vorsicht raten, Herr Bundeskanzler. Auch der Dollar war beispielsweise zu Zeiten Ronald Reagans sehr stark.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Der Vergleich ist gut!)

    Ob dies ein Ausdruck besonders rationaler ökonomischer Politik war, mag zumindest dahingestellt sein.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Das war ein starker Mann!)

    In Amerika wird das heute anders gesehen. Daß Sie diese Zusammenhänge nicht richtig würdigen und damit zu politischen Fehlern kommen, ergibt sich aus Ihrer Betrachtung des Verschuldungsgrades der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe es mir aufgeschrieben: Auf das Sozialprodukt bezogen beträgt der Verschuldungsgrad bei uns 53 % - nun will ich nicht darüber rechten, wie viele Nebenhaushalte dabei noch nicht berücksichtigt sind; das ist für meine Betrachtung unwichtig - und in den Vereinigten Staaten 64 %.
    Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, das entscheidende Problem ist dabei nicht berührt: Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind und das wir nicht gelöst haben, ist der rapide Anstieg der Staatsverschuldung in den letzten Jahren. Dieses Problem muß gelöst werden. Das kann man nicht wegreden mit dem Hinweis darauf, daß die Amerikaner ja schon viel früher angefangen haben, sich über beide Ohren zu verschulden.

    (Beifall bei der SPD)

    Hier möchte ich durchaus selbstkritisch eine Reflexion aufgreifen, die auch aus Ihren Reihen gekommen ist und vom Bundesfinanzminister zu Recht immer wieder eingewandt wird: Wir stehen alle in der Pflicht der Konsolidierung. Es hat keinen Sinn, populäre Forderungen nach Steuersenkungen in die Welt zu setzen, aber nicht zu sagen, wie das Ganze gegenfinanziert werden soll. Es hat ebenfalls keinen Sinn, immer wieder Forderungen zu erheben und nicht zu sagen, wie das gegenfinanziert werden soll. Das trifft dann in der Regel die Opposition. Es hat

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    keinen Sinn, sich an diesen Grundregeln solider Finanzpolitik vorbeizumogeln. Daher möchte ich auch in meiner Funktion und in meiner Verantwortung für den Bundesrat dies hier in aller Klarheit sagen.
    Wenn Sie aber, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang die Argumentation der SPD, was den Solidaritätszuschlag angeht, als erbärmlich bezeichnen, dann haben Sie die Debatte in der letzten Zeit wohl nicht richtig mitbekommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Es waren doch nicht die Sozialdemokraten, die als erste angefangen haben zu sagen: Wir müssen die Steuern sehr schnell senken. Ich habe hier oft die finanzpolitischen Reden für die Sozialdemokraten gehalten. Ich habe bei meiner ersten Rede den Finanzminister bestärkt und gesagt: Geben Sie bei Steuersenkungsforderungen nicht so leicht nach, ehe wir nicht bestimmte Probleme gelöst haben. Es war zunächst einmal vielmehr Ihr Koalitionspartner, der immer wieder gesagt hat: Es müssen jetzt schleunigst die Steuern gesenkt werden. Wenn Sie also den Esel meinen, dann hauen Sie auch den Esel, und schlagen Sie nicht nach dem Sack!

    (Beifall bei der SPD Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie heißt der Esel?)

    Ich habe natürlich mit einer gewissen Skepsis aufgenommen, daß auch der geschätzte Kollege Waigel es zu einer bestimmten Zeit nicht lassen konnte, als Weihnachtsmann durch die Lande zu ziehen und große Steuersenkungspakete zu verkünden.
    Sie wurden heute in einer Tageszeitung darauf aufmerksam gemacht, daß es fair wäre, die zusätzlichen Belastungen gegenzurechnen. Dann relativiert sich nämlich die Summe, die auf die Bürgerinnen und Bürger in Form von Steuern und Abgaben zukommt und die Sie in die Welt gesetzt haben. Das würde der Redlichkeit entsprechen und ist für die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicherlich von Bedeutung.
    Nein, es hat keinen Sinn, sich mit Steuersenkungsversprechen zu überbieten, Forderungen zu erheben und gleichzeitig so zu tun, als könne man das Ziel der Haushaltskonsolidierung in vollem Umfang erfüllen.
    An dieser Stelle zeigt sich die besondere Schwäche der jetzigen Koalition: Was war das für ein Hin- und Hergewürge um den Kohlepfennig und seine Gegenfinanzierung! Die F.D.P. hatte vor der Bundestagswahl einen Parteitag. Auf diesem Parteitag wurden drei Energiesteuern beschlossen: zunächst einmal eine allgemeine Energiesteuer, dann eine CO2-Steuer und schließlich die Erhöhung der Mineralölsteuer. Die allgemeine Energiesteuer war zunächst an die Mitwirkung der Europäischen Union gebunden, und nach einiger Zeit sollte der entsprechende Vorbehalt aufgegeben werden.
    Ich habe es begrüßt, daß jetzt - dies ist ein Ertrag der Debatte - der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Herr Schäuble, wieder gesagt hat - er hat das ja öfters gesagt -, daß er für die ökologische Steuerreform eintritt. Daß selbst Herr Solms dies hier wiederholt hat, hat mich wirklich überrascht. Er hat hier gesagt: Auch wir sind für die ökologische Steuerreform. Wenn dies auf europäischer Ebene nicht geht, dann wollen wir das auf nationaler Ebene tun. - Dann laßt es uns doch endlich machen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Seit Jahren werben viele verantwortliche Bürgerinnen und Bürger dieses Landes für die ökologische Steuerreform; nicht von heute auf morgen in riesigen Schritten, sondern abgestimmt auf die konjunkturelle Entwicklung und die Erfordernisse der Wirtschaft. Aber wir müssen dieses Reformprojekt auf den Weg bringen, wenn ein Klimagipfel, wie er jetzt in Berlin stattfindet, nicht zu einer reinen Witzveranstaltung verkommen soll.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Daß jetzt am Ende Ihres von Ihnen so gepriesenen Regierungshandelns - Herr Bundeskanzler, es tut mir leid, daß ich etwas Wasser in den Wein gießen muß -, am Ende Ihrer Diskussion ein Absenken der Strompreise steht, ist nun wirklich schizophren und keinem draußen mehr vermittelbar.

    (Beifall bei der SPD)

    Beenden Sie diesen Unsinn! Wenn Sie Geld zuviel haben, dann legen Sie es irgendwo drauf. Dann ziehen Sie meinetwegen die Entlastung beim Solidaritätszuschlag vor oder irgendwo sonst. Aber daß Sie ausgerechnet die Strompreise senken wollen, zeigt doch nun wirklich, daß Sie vor lauter Streit im Innern der Koalition nur noch zu unsinnigen Beschlüssen fähig sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Damit komme ich nun zur Energiepolitik, die sowohl vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion als auch vom Bundeskanzler angesprochen worden ist. Ich stelle hier schlicht und einfach fest, daß wir in der Beurteilung der Fakten weit auseinanderliegen. Ich bin der Auffassung, daß man die energiepolitische Diskussion nicht auf einen Schadstoff, auf CO2, reduzieren kann. Ich habe das nie verstanden. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar und unökologisch. Vernünftig ist es, davon auszugehen, daß unendlich viele Schadstoffe unsere Umwelt belasten, auch wenn einzelne stärker im Blickfeld der Öffentlichkeit und der Politik stehen, andere weniger. Aber einzelne Schadstoffe herauszugreifen und sie gar etwa durch Energieumwandlungsprozesse ersetzen zu wollen, die dann noch weitaus größere Gefahren in sich bergen, ist irrational und von der Sache her nicht haltbar.
    Es gab einmal eine Zeitlang eine Diskussion um die Schwefelsäure. Dann gab es eine Zeitlang eine Diskussion um die Stickstoffverbindungen. Jetzt ist CO2 das beliebteste Thema. Dann gab es andere, die sich der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und vieler anderer Schadstoffe annahmen. Einen einzelnen

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    Schadstoff herauszugreifen ist methodisch völlig unhaltbar und führt daher - Herr Kollege Töpfer, Ihre Heiterkeit erheitert nun wieder mich - zu völlig falschen Schlußfolgerungen.
    Die saubere Antwort darauf ist: Reduktion der Energieumwandlung in jeder Form.

    (Beifall bei der SPD)

    Dies ist die einzige Formel, auf die wir uns verständigen können. Unter diese Formel müssen alle Formen der Energieumwandlung subsumiert werden. Wer aber wirklich auf die Schwachsinnsidee verfällt, das CO2 durch das Plutonium ersetzen zu wollen, das den Lebenskreislauf 500 000 Jahre lang belastet und das in geringsten Dosen wirklich lebensgefährdend ist, da es ganze Landschaften unbewohnbar machen kann, der hat von Ökologie wirklich überhaupt nichts verstanden.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich sage also noch einmal: Wir müssen die Umwandlung fossiler Brennstoffe reduzieren, aber wir müssen - mit weitaus besseren Argumenten - auch die Umwandlung von Uranerzen und andere Prozesse der Erzeugung von Strom aus Kernenergie reduzieren.
    Was soll denn nun diese wirklich ideologische Anbetung und Gläubigkeit gegenüber der Kernenergie? Meine Damen und Herren, manchmal stellt man sich die Frage, was eigentlich passiert wäre, wenn im japanischen Kobe ein Kernreaktor gestanden hätte. Wären Sie dann vielleicht wach geworden, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien?

    (Beifall bei der SPD)

    Oder sitzt hier jemand, der wirklich glaubt, tektonische Verwerfungen würden sich nach der Tagespolitik der Bonner Koalition richten?

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Der Philosoph Günther Anders hatte recht, als er analysierte, daß die Menschheit apokalypseblind geworden ist, daß sie nicht mehr in der Lage ist, die Reichweite ihrer Verantwortung für ihre eigenen Produkte zu erfassen. Das ist auch meine feste Überzeugung. Wer die Kerntechnologie so befürwortet wie Sie, der muß auch wissen, daß die Ausbreitung der Kerntechnologie die sichere Gewähr dafür ist, daß wir eine immer größere Verbreitung von Atomwaffen auf dieser Erde haben werden. Alles andere ist schlicht und einfach naiv.
    Aber jetzt bewege ich mich wieder auf Kategorien zu, die Sie vielleicht eher akzeptieren können. Wenn Sie schon so sehr Anhängerin und Anhänger der Kernenergie sind, dann sorgen Sie in Ihren Kategorien endlich einmal dafür, daß in Bayern und in Baden-Württemberg Zwischenlager und Endlager eingerichtet werden, ehe Sie hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Energiepolitik auf andere zeigen.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn hier, meine Damen und Herren, stehen wir alle in der Verantwortung. Die Parteienmehrheit hat zu verantworten, daß die Kernenergie in der jetzigen Form der Nutzung auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben bis zum heutigen Tage keine Antwort auf die Frage: Wohin mit den radioaktiven Abfällen?
    An dieser Stelle möchte ich, Herr Kollege Schäuble, auf Ihre etwas schwachen Betrachtungen zur Technologiefreundlichkeit oder -feindlichkeit der SPD eingehen. Ich habe Ihnen zugerufen: Wenn Sie sich in technischen Fragen mit den Leuten anlegen wollen, dann müssen Sie auch eine gewisse Sachkenntnis haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Es ist zwar ganz nett, darüber zu philosophieren, daß der Farbfernseher die letzte technologische Innovation war, der die SPD zugestimmt hat, aber das allein reicht nicht.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das habe ich zitiert!)

    - Ja, auch bei uns gibt es Leute, die dummes Zeug reden. Die gibt es nicht nur bei Ihnen, Herr Kollege Schäuble. Das möchte ich durchaus einräumen.
    Aus Zeitgründen will ich jetzt nicht die lichtvollen Ergüsse Ihrer Kollegen, die ich täglich in der Presse lese, referieren. Aber eines will ich Ihnen sagen: Wenn das, was Sie hier selber zur ökologischen Erneuerung gesagt haben und was Sie mehr und mehr
    - von uns oder anderen - als Ziel der Energiepolitik übernehmen, nämlich daß wir die Brücke ins Solarzeitalter bauen müssen, ernst gemeint war, dann brauchen wir an einer Stelle den technologischen Durchbruch: bei der Photovoltaik. Wenn dieser einmal gelingen würde, wäre das eine Revolution, auf die die ganze Welt gewartet hätte.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Auf diesen Punkt würden wir unsere technologischen Bemühungen gerne konzentrieren. Wer die fachlichen Daten kennt, weiß, daß es nicht mehr allzu weit ist, bis technologische Durchbrüche zu erwarten sind. Es wäre wünschenswert, wenn wir auch über unsere Möglichkeiten in der Forschungspolitik und der Steuerpolitik einen Beitrag dazu leisten würden, daß dieser technologische Durchbruch, der wirklich etwas mit dem Klimagipfel zu tun hat, der wirklich etwas mit der Not der Länder in der Dritten Welt zu tun hat, endlich gelingt. Hören wir auf, uns die Keulen des Vorwurfs der Technologiefeindlichkeit um die Ohren zu schlagen!

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Das ist wirklich eine falsche Betrachtungsweise. Es geht um die Frage, mit welcher Technologie wir eine umweltverträgliche Energieversorgung in der Zukunft aufbauen können.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich meine also, daß wir allen Grund haben, bei den Energiekonsensgesprächen einen ökologischen Ansatz zu suchen. Dort, wo es keine Einigung gibt, muß

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    man sie ausklammern. Wir haben Gesetze, auf deren Grundlage man Entscheidungen treffen kann. Es wäre ein völlig falsches Herangehen an die Konsensgespräche, wenn wir Sie zu Einsichten nötigen wollten, die Sie nicht haben, oder wenn Sie umgekehrt sagten - das ist fast das Sandkastenspiel kleiner Kinder -: Wir machen aber nur mit, wenn ihr euch der Ansicht anschließt, die wir haben. Nein, laßt uns den Konsens suchen dort, wo er möglich ist - ich will Ihnen drei Felder nennen -: erstens bei der Laufzeit der Reaktoren, zweitens bei der Entsorgung des radioaktiven Mülls und drittens bei dem Ausbau regenerativer Energien und der Energieeinsparung. Dann sind wir doch schon ein gewaltiges Stück weiter.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe schon öfters kritisiert, daß die Selbstgefälligkeit, mit der Sie, Herr Bundeskanzler - vorhin wieder - die großen Erfolge Ihrer Politik ansprechen,

    (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nur kein Neid!)

    im merkwürdigen Widerspruch zu dem steht, was eigentlich passiert. Ich habe mir einmal erlaubt, darauf hinzuweisen, daß man auch von einer „Reagierung" sprechen könnte.

    (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!)

    Denn Sie reagieren im Moment auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. Das, was uns derzeit vorrangig beschäftigt, sind die Hausaufgaben, die uns das Verfassungsgericht zur Lösung aufgegeben hat. Das aber verstehe ich nicht klassisch unter Regierungspolitik.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe darunter immer verstanden, daß man Ideen hat, daß man ein Projekt hat, daß man Konzepte hat, die man auch umsetzen möchte. Aber Sie reagieren nur auf die Urteile des Verfassungsgerichts.

    (Beifall bei der SPD)

    Da sagt das Verfassungsgericht: Ihr nehmt den kleinen Leuten viel zuviel weg, insbesondere den Familien. Diese Entscheidung wendet man dann in ein technisches Schlagwort: Freistellung des Existenzminimums. Die Leute können sich darunter oft nicht viel vorstellen. Unterhalten Sie sich einmal mit einfachen Leuten, was sie unter „Freistellung des Existenzminimums" verstehen. Schon die Sprache wird verräterisch, wenn man versucht, dahin zu kommen, daß die Leute gar nicht verstehen, um was es eigentlich geht. Es geht darum, daß Sie den Leuten, die ein geringes Einkommen haben, insbesondere den Familien, seit Jahren viel zuviel Geld wegsteuern. Das ist ein Skandal in dieser Republik, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Es ist eine Schande, daß das Verfassungsgericht Sie nötigen muß, dieses soziale Unrecht zu beseitigen.

    (Beifall bei der SPD)

    Soziale Politik hätte dazu geführt, daß das Unrecht von uns aus, von diesem Parlament, korrigiert worden wäre und nicht in der Folge eines Spruchs des Bundesverfassungsgerichts.
    Familienlastenausgleich, Existenzsicherung und Kohlepfennig sind drei Beispiele dafür, daß das nicht an den Haaren herbeigezogen ist, was ich hier sage. Was demnächst zur Gerechtigkeit der Zinsbesteuerung und zur Frage der Einheitswerte vorgelegt wird und was das Verfassungsgericht noch alles dazu sagen wird, will ich mir gar nicht ausmalen. Nur, meine Damen und Herren, Sie werden sicherlich zustimmen, die gesamte deutsche Öffentlichkeit wird sicherlich zustimmen: Ein Ruhmesblatt ist es sicherlich nicht, wenn das Verfassungsgericht Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik für die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hohen Hauses machen muß.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Deswegen ist die entscheidende Frage: Was sind die zentralen Aufgaben der nächsten Zeit? Was ist eigentlich das politische Projekt, um das wir uns derzeit bemühen müssen? Wir Sozialdemokraten meinen, daß die sozialen Ungerechtigkeiten, die auch durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts festgestellt worden sind, schleunigst beseitigt werden müssen. Wir bieten dazu unsere Mitarbeit an. Wir meinen beispielsweise, daß dieser Wust von Steuerverordnungen und Steuergesetzen, den ich nicht nur einer Partei zuschreibe - dies wäre unfair und ungerecht -, zu etwas geführt hat, was vielleicht alle, die sich daran beteiligt haben, nicht gesehen haben, nämlich zu immer mehr Steuerungerechtigkeit, weil nur noch derjenige, der sich einen Steuerberater leisten kann, wirklich alle Schlupflöcher unserer Steuerverordnungen und Steuergesetze ausnutzen kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Deswegen ist - neben der ökologischen Steuerreform - das zweite Projekt, das wir Ihnen anbieten, eine durchgreifende Steuervereinfachung. Sie ist dringend erforderlich, wie es ebenfalls erforderlich ist, daß das Statistische Bundesamt, Herr Bundeskanzler, die prozentualen Veränderungen der Vermögensverteilung und der Einkommensentwicklung wieder auswirft. Es geht nicht an, daß Leute, die sich um diese Fragen bemühen, auf den merkwürdigen Sachverhalt stoßen, daß diese prozentualen Veränderungen gar nicht mehr ausgewiesen werden.
    Das dritte Projekt, das wir Ihnen anbieten, ist eine wirkliche Veränderung des Rechtes des öffentlichen Dienstes. Hier sind nicht die Sozialdemokraten und der Bundesrat diejenigen, die blockieren. Das, was beispielsweise die Staatsregierung von Bayern kürzlich vorgeschlagen hat, ist ein Paket, über das zu reden sich lohnen würde, weil andere Bundesländer das genauso sehen. Wenn man einen Teil davon umsetzen würde, dann gäbe es eine spürbare und nützliche Reform des öffentlichen Dienstes. Ich nenne Ihnen nur einen Punkt: Wir können im Beamtenrecht nicht zulassen, daß es ständig Lebensarbeitszeitverkürzungen mit vollem Pensionsausgleich gibt. Das ist

    Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)

    nicht mehr bezahlbar. Das muß dringend abgestellt werden, meine Damen und Herren. Ich appelliere noch einmal an alle, einen entsprechenden Gesetzentwurf zügig umzusetzen und ihn nicht wiederum im Gestrüpp von Beamtenrechtsreferenten und handlungsschwachen Regierungen versickern zu lassen. Wir brauchen eine Reform des öffentlichen Dienstrechtes. Die Sozialdemokraten bieten über den Bundesrat, wie es der Parteivorsitzende soeben gesagt hat, diese Reform an.

    (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was haben Sie im Saarland schon gemacht?)

    - Ich will die Frage gerne beantworten. Das Saarland hat in der letzten Zeit zwei Initiativen im Bundesrat eingebracht.

    (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was haben Sie selbst gemacht?)

    - Wir haben z. B. das Kabinett im Saarland auf eine Art und Weise reduziert, daß sich selbst die Bundesregierung ein Beispiel daran nehmen könnte.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn bei uns gilt, verehrter Herr Kollege: Wenn man anfängt, unten auszudünnen, muß man zuerst oben mit gutem Beispiel vorangehen. An dieser Einsicht scheint es Ihnen noch zu fehlen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich frage also: Was ist das zentrale Projekt Ihrer Regierung? Über diese Frage hätten wir gerne etwas gehört. Das zentrale Projekt, das wir befürworten, umfaßt mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Steuergerechtigkeit und mehr Flexibilität innerhalb unseres Staatswesens, weil die gegenwärtigen Strukturen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Als zentrales Reformprojekt für die Zukunft werben wir für eine andere Energiepolitik, die wir die „Brücke ins Solarzeitalter" nennen, weil wir auf diesem Gebiet viel zu lange zurückgeblieben sind und weil wir kommenden Generationen ein Umdenken schuldig sind.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)