Rede von
Andrea
Lederer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Herr Solms, dann hätten Sie in diesem Zusammenhang genau diese Reise nicht erwähnen sollen, sondern auf andere Beispiele hinweisen können; denn die Kritik an einer übermäßigen Reisetätigkeit ist ja nicht unbegründet. Machen wir uns doch nichts vor, daß nicht wenige von uns gerne nach Australien fahren, um sechs Wochen lang dort die Verwaltungsstruktur kennenzulernen und sich vielleicht auch noch einiges andere anzusehen. Das wird uns halt übel genommen.
- Nein, das mache ich nicht. Nein, Frau Baumeister, wenn Sie nachsehen, werden Sie feststellen, daß ich da keineswegs beteiligt bin.
Lassen Sie uns zu einem ernsteren Thema kommen, nämlich zu dem 8. Mai 1995. Ich finde es erschreckend, daß die Position von Richard von Weizsäcker, die er am 8. Mai 1985 verkündet hat, nach wie vor in Teilen der CDU/CSU keinen Anklang findet. Ihr Verhältnis zu diesem Tag bleibt - gelinde formuliert - ambivalent, und das gilt auch für Sie persönlich, Herr Bundeskanzler.
Am 8. Mai erlebten die deutschen Kriegstreiber, die Massenmörder, die gesamte nazistische Barbarei ihre Niederlage. Aber immer noch gibt es zahlreiche Vertreter der Union, die diesen Tag auch als Niederlage empfinden, eben z. B. Herr Dregger, und sich damit mit jenen in eine Reihe begeben. Sie fühlen sich außerstande, diesen Tag als Tag der Befreiung zu empfinden. Herr Schäuble hat hier um Verständnis dafür geworben, daß es Menschen gibt, die Ehepartner, Väter, Söhne, Brüder verloren haben. Deshalb sei dieser Tag für diese Menschen ein Tag der Trauer. Ich frage mich: Warum ist für solche Menschen nicht der 30. Januar, der Tag der Machtergreifung Hitlers, oder der 1. September, der Tag des Ausbruchs des Krieges, der Trauertag? Warum gerade der Tag, an dem der Spuk endlich ein Ende hatte?
Solchen Leuten ist es letztlich auch zu verdanken, daß es immer noch keine Entschädigung z. B. für Sinti und Roma, für Homosexuelle, für ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, für Deserteure der Deutschen Wehrmacht, für Kommunistinnen und Kommunisten der alten BRD gibt, die von den Nazis verfolgt wurden.
Daraus resultieren auch sämtliche Peinlichkeiten in der Vorbereitung des 8. Mai 1995. Der Bundestag weiß heute noch nicht endgültig, wie er diesen Tag begehen soll. Unser rechtzeitiger Antrag auf Sondersitzung fand bisher keine Zustimmung. Zum Staatsakt wurden nur die Repräsentanten der vier Siegermächte eingeladen anstatt Repräsentanten aller vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Länder. Das führt doch nicht nur zu diplomatischen Verstimmungen mit Polen. Es animiert offensichtlich auch zu Diskussionen in Vertriebenenverbänden, die Grenzfrage weiterhin offenzuhalten und Ansprüche gegen Polen zu stellen. Der Bundesaußenminister läßt sich seinerseits davon treiben und konstruiert ein Junktim zwischen den berechtigten Entschädigungsansprüchen von Tschechen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, und Forderungen der Sudetendeutschen. Die Unwilligkeit und Gefühllosigkeit, die die Vorbereitungen auf den 50. Jahrestag der Befreiung von der Nazi-Diktatur begleiten, lassen leider befürchten, daß hier ein Schlußstrich gezogen werden soll. Wir appellieren und warnen: Machen Sie aus dem diesjährigen 8. Mai kein Begräbnis dritter Klasse für die Lehren aus der deutschen Vergangenheit!
Das Ganze muß vor dem Hintergrund eines zunehmenden Rechtsextremismus in Deutschland gesehen werden. Anstatt ihm eine klare Abfuhr zu erteilen, wird durch eine solche Politik versucht, Zustimmung auch aus diesen Reihen zu erheischen. Herr Bundeskanzler, das ist ein Spiel mit dem Feuer.
Da bleibt es eben nicht aus, daß sich Ihre Junge Union in Berlin gegen ein - wie die es nennt - Judendenkmal wendet. Das sind die Früchte solcher Politik. 50 Jahre nach dem Ende des Hitler-Faschismus und des Zweiten Weltkrieges wäre es höchste Zeit, daß auch durch die Unionsfraktion und die Union selbst ein klares, eindeutiges und unmißverständliches Bekenntnis dahin gehend ablegt wird, daß dieser 8. Mai ein Tag der Befreiung und nichts anderes war.
Sie, Herr Außenminister, verwechseln das Amt des Außenministers mit dem eines Handelsreisenden für die deutsche Exportwirtschaft, insbesondere für die Rüstungsindustrie. Fragen der Menschenrechte werden regelmäßig an das Ende der Tagesordnung gesetzt, so daß sie meistens nicht mehr behandelt werden. Sie mahnen die türkische Regierung zu deren Einhaltung - jetzt zitiere ich wörtlich aus einer dpa- Meldung - „bei ihren Militäroperationen" und „zur Verhältnismäßigkeit im Einsatz", sind also im Grundsatz für militärische Einmärsche, heute im Nordirak, und wer weiß, wo morgen. Warum haben Sie nicht den Aggressionsakt an sich verurteilt, wie es nach Völkerrecht dringend geboten war?
- Bei Ihrer Außenpolitik, Herr Kinkel, bekomme selbst ich Sehnsucht nach Hans-Dietrich Genscher, und das will schon etwas heißen.
Wir wollen auch keine neuen zeitweiligen Kunstpausen bei Waffenlieferungen, wie jetzt bezüglich der Türkei, wenn auch sehr unvollständig, vorgesehen. Lassen Sie uns doch mit dem Rüstungsexport endlich und ein für allemal Schluß machen, lassen Sie uns jegliche Beihilfe zu Kriegen und Bürgerkriegen, jegliche Beihilfe zum Töten endlich und ein für allemal einstellen, egal für wen, egal gegen wen!
Dr. Gregor Gysi
- Also wissen Sie, wenn Sie - wie ich - gegen den Einmarsch in die CSSR im Jahre 1968 gewesen sind,
so ist das schon gar keine Rechtfertigung dafür, heute Waffen in die ganze Welt zu liefern, heute an vierter Stelle der Exporteure in der Welt zu stehen und überall am Krieg beteiligt zu sein! Macht es Ihnen denn gar nichts aus, daß das kurdische Volk auch mit deutschen Waffen niedergemetzelt wird? Darüber sollten Sie einmal nachdenken!
Die türkische Regierung führt einen Krieg gegen die Kurden, und zwar in der Türkei und außerhalb der Türkei. In diesem Zusammenhang ist es eben für die Bundesregierung bezeichnend, den Stopp für die Abschiebung von Kurden aufzuheben, wobei Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Berlin darum bemüht sind, nun auch tatsächlich Kurden in die Türkei abzuschieben. Ihr Leben dort ist unmittelbar gefährdet. Aber dies kümmert weder Herrn Kanther noch Herrn Stoiber noch Herrn Biedenkopf, und die CDU/SPD-Regierung in Berlin und Baden-Württemberg leider auch nicht.
Daß das Ganze überhaupt möglich ist, hängt eben damit zusammen, daß mit Hilfe der SPD das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde, eine verhängnisvolle Entscheidung, deren Auswirkungen Schritt für Schritt schrecklicher werden.
Mit den jetzt geplanten Änderungen zum Asylbewerberleistungsgesetz und mit anderen gesetzlichen Änderungen werden Ausgrenzung und Demütigung vorangetrieben. Als der erste abgelehnte Asylbewerber Selbstmord beging - soweit ich mich erinnere, war das 1983 Kemal Altun -, gab es eine breite öffentliche Betroffenheit. Joschka Fischer hielt damals seine erste große Rede dazu im Bundestag. Beute überdauert eine solche Meldung kaum den Tag. Wie herzlos ist die Politik unter der schwarz-gelben Koalition inzwischen geworden und mit ihr unsere Gesellschaft!
Der Wind dreht sich. Die Stimmung in der Gesellschaft beginnt, den Fährten zu folgen, die diese Regierung so verantwortungslos gelegt hat. Nach neuesten Umfragen ist inzwischen ein Drittel der Bevölkerung der Ansicht, daß es zu viele Ausländer in unserem Land gibt, und die Mehrheit befürwortet Abschiebungen von Kurden in die Türkei. Der Druck, von oben erzeugt, wuchert nun von unten auf ausnahmslos alle Parteien. Die PDS wird stets dagegen auftreten, auch wenn es untaktisch und unpopulär ist. Solche Fragen dürften eigentlich von keiner demokratischen Partei der Taktik unterworfen werden.
Die Reue über die Erzeugung intoleranter Stimmungen kommt in der Geschichte meistens zu spät. Auch das ist eine wichtige Lehre des 8. Mai 1945.
Aber auch vereinigungspolitisch sind die Ergebnisse der Tätigkeit der Bundesregierung äußerst kritisch zu beleuchten. Die Abgeordnetengruppe der PDS verkennt keinesfalls, daß es seit der Vereinigung auch positive Entwicklungen für die Menschen in den neuen Bundesländern gibt. Hinsichtlich der persönlichen Freiheiten und des Zuwachses an Demokratie ist allerdings darauf hinzuweisen, daß diese bereits mit der Wende im Herbst 1989 erkämpft wurden und nicht erst seit der Vereinigung am 3. Oktober 1990 gegeben sind.
Wir verkennen nicht, daß beim Aufbau von Stadtzentren und bei der Entwicklung der Infrastruktur einschließlich der Telekommunikationssysteme erhebliche Fortschritte gemacht wurden.
Aber dem stehen viele Negativseiten gegenüber. Nichts hat sich seitdem an der Verachtung gegenüber ostdeutschen Biographien geändert. Der Elitewechsel ist mit Hilfe der Gauck-Behörde, besonderer Kündigungsvorschriften, insbesondere der sogenannten Bedarfskündigung, der Schließung von Einrichtungen und über andere Instrumentarien fast komplett organisiert worden. Mag zunächst noch Verständnis dafür geherrscht haben, soweit es um die ehemalige politische Klasse der DDR ging, so hörte dieses Verständnis spätestens dann auf, als deutlich wurde, daß es ebenso die pädagogische, die medizinische, die wissenschaftliche, die technische und die künstlerische Intelligenz trifft. Wahrscheinlich gab es noch nie in der Geschichte Europas ein so riesiges Heer an arbeitsloser Intelligenz wie in den neuen Bundesländern.
Aber es hat ja nicht nur die sogenannte Elite getroffen. Die Hälfte der Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern wurde vernichtet. Das wirkte sich auf alle Schichten der Bevölkerung gleichermaßen aus. Noch kämpfen Menschen z. B. in Dessau um die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze oder warten in Bischofferode darauf, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Ihr ausdrücklich abgegebenes Versprechen einhalten, nämlich dort 700 Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Wissen Sie, wie viele Arbeitsplätze dort inzwischen geschaffen worden sind? Es sind unter 30. Die Menschen haben Ihnen geglaubt und darauf gehofft, daß dort wirklich 700 Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden. Fast keiner davon ist in Sicht.
Allein in der Landwirtschaft wurden zwei Drittel der Arbeitsplätze zerschlagen. Die landwirtschaftliche Produktion wurde stark reduziert. Dort sticht Ihr Argument von der maroden Wirtschaft nicht. Die Produktivität in der Landwirtschaft der DDR war nicht niedriger als in der Landwirtschaft der alten Bundesrepublik. Hier wurde schlicht und einfach an die Bedürfnisse des Westens angepaßt.
Dr. Gregor Gysi
Und so sind eben auch die massenhaften Betriebsstillegungen in der Industrie in den neuen Ländern äußerst unterschiedlich zu bewerten. Natürlich gab es Fälle, daß Betriebe so marode waren, daß sie nicht gehalten werden konnten. Aber es gab auch andere Fälle, bei denen es reale Sanierungsmöglichkeiten gab, die nicht genutzt wurden, um Konkurrenz von vorneherein auszuschließen.
Mit großer Sorge stelle ich fest, daß die Erfahrungen der Menschen aus den neuen Bundesländern für die Gestaltung dieser Bundesrepublik Deutschland weder gefragt noch genutzt werden. Im Gegenteil, schon wieder ist Anbiederei zum höchsten Motto erklärt worden. Aber damit sind ja nicht nur Chancen für die Entwicklung dieser Bundesrepublik vertan worden, sondern es wurde künstlich auch im Denken und Fühlen der Menschen ein Ost-West-Widerspruch zementiert, bei dessen Überwindung wir wesentlich weiter sein könnten.
Zu dieser Zementierung tragen auch der Bundesfinanzminister und sehr viele Rednerinnen und Redner hier in der Haushaltsdebatte unmittelbar bei.
Denn immer wieder wird auf die ungeheuren Ausgaben zum Aufbau in den neuen Bundesländern hingewiesen. Regelmäßig wird dabei jedoch verschwiegen, daß es sich bei diesen Ausgaben zu einem großen Teil um Sozialtransfers handelt, d. h. um Zahlungen an Bürgerinnen und Burger, auf die Rechtsanspruch besteht, unabhängig davon, ob die Bürgerin bzw. der Bürger in Thüringen oder in Bayern wohnt. Nur den neuen Bundesländern, nicht aber den alten werden solche Leistungen wie Kindergeld, Wohngeld, Arbeitslosenunterstützung angerechnet.
Aber dieses Geld wird ja regelmäßig konsumiert, und zwar zum größten Teil in Form von Westprodukten, wodurch westdeutsche Unternehmen nicht schlecht verdienen. Gleiches gilt für Transferleistungen, mit denen tatsächlich Aufbaumaßnahmen im Osten finanziert werden; denn auch hier sind die Nutznießer in aller Regel westdeutsche Unternehmen.
Seit Jahren wird festgestellt, daß es nicht wenige gibt, die an der Einheit erheblich verdienen; nur ist diese Bundesregierung nicht bereit, sie auch für die Kosten heranzuziehen.
Neuerdings werden die Ostdeutschen auch noch damit verschreckt, daß mittels einer dritten Mieterhöhungsverordnung, die in das Vergleichsmietensystem führen soll, Wohnungen für viele kaum noch bezahlbar sein werden. Ich ersuche Sie, Herr Bundeskanzler, sorgen Sie dafür, daß die geplante Mieterhöhung zum 1. Juli 1995 unterbleibt! Die Einkünfte der Ostdeutschen sind nicht so gestaltet, daß diese verkraftbar wäre. Sorgen Sie dafür, daß die Wohnungsgesellschaften endlich von den Altschulden, zumindest von ihrer Tilgung, freigestellt werden! Dann hätten diese Gesellschaften auch die Mittel, um in Zukunft notwendige Sanierungsmaßnahmen ohne Mieterhöhungen durchzuführen.
Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir bezahlbare Wohnungen auch in den alten Bundesländern realisieren können, anstatt darüber nachzudenken, wie die Unbezahlbarkeit von Wohnungen und die Obdachlosigkeit vom Westen auch in den Osten eingeführt werden!
Und da eben so viel darüber geredet wurde: Sorgen Sie dafür, daß wirklich das politische Strafrecht aus dem Rentenrecht beseitigt wird! Sorgen Sie auch dafür, daß Rentenerhöhungen nicht durch Abschmelzungen von Zuschlägen praktisch nicht stattfinden! Erkennen Sie endlich Arbeit in der früheren DDR gleichermaßen an, auch rentenrechtlich, und leisten Sie einen Beitrag dazu, daß Ostdeutsche die Möglichkeit erhalten, künftig selbstbewußter in die Gestaltung dieser Bundesrepublik einzugreifen!