Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mit einem anderen Thema fortfahren, einem Thema von globalerer Bedeutung als das, das wir gerade hatten, mit einem Thema, das uns auch noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird, so oder so: dem Weltklima.
Kerstin Müller
Auf der Klimakonferenz in Berlin werden Sie von den Repräsentanten der kleinen Inselstaaten Trauriges zu hören bekommen. Die Bewohner dieser Inselparadiese überlegen nämlich derzeit, welche Arche Noah sie wohl noch retten könnte. Denn dort heißt es bald: Land unter!
Die Bundesregierung hätte auf der Klimakonferenz in Berlin eine große Chance, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Ich befürchte, sie wird sie nicht nutzen.
Dabei geht es wohl um die größte ökologische Herausforderung in der Menschheitsgeschichte: die drohende Klimakatastrophe, verursacht durch die maßlose Verbrennung von Energie in den Wachstumsökonomien.
Meine Damen und Herren, wir müssen - im wahrsten Sinne des Wortes - das Spiel mit dem Feuer beenden. Es geht dabei um die Zukunft meiner Generation und der nachfolgenden Generationen. Das sage ich vor allem den älteren Herrschaften auf der Regierungsbank. Sie werden die dramatischsten Auswirkungen der Klimaveränderungen vermutlich nicht mehr erleben.
Auf diese Gefährdung des Weltklimas muß endlich im internationalen Rahmen und im nationalen Rahmen reagiert werden. Zunächst, so finde ich, sind die eigenen Hausaufgaben zu machen. Doch wie verhält sich die Bundesregierung? Sie ersetzt Zukunftsgestaltung durch Aussitzen und Vernebeln, frei nach dem Motto: Nach uns die Sintflut!
In einigen Jahren kann es auch bei uns heißen: Hamburg und Bremen überflutet, Schleswig-Holstein vom Meer verschlungen. - Das scheint Sie aber nicht sehr zu stören. Sie haben versprochen - auch heute hier wieder -, den Ausstoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2005 um mindestens ein Viertel zu verringern. Aber die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Dieses Ziel ist mit Ihrer Politik nicht zu erreichen.
Wo bleibt das verbindliche Klimaschutzprogramm? Von Ihnen kommt nichts, im Gegenteil: Sie planen das größte Straßenbauprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Damit wird der CO2-Ausstoß in den nächsten Jahren deutlich zu- statt abnehmen. Sie wollen bis zum Jahre 2010 insgesamt 11 500 km neue Fernstraßen bauen lassen. Mit anderen Worten: In der Verkehrspolitik rast die Bundesregierung mit Tempo 200 auf sechsspurigen Autobahnpisten in die Klimakatastrophe. Es gibt nicht den Funken eines Neuansatzes.
Beim Straßenbau wird jährlich mit 10 Milliarden DM geklotzt, für die erneuerbaren Energien haben Sie gerade einmal 10 Millionen DM übrig. Das verstehen Sie unter Klimaschutz.
Der Einbruch der Industrie in Ostdeutschland hat zwar vorübergehend die CO2-Bilanz geschönt, doch das werden Sie wohl kaum als Erfolg Ihrer Politik bezeichnen können. Die Bundesrepublik ist wahrlich nicht das gelobte Land des Klimaschutzes, und ihre immer wieder verkündete Vorreiterrolle in Sachen Umwelt ist ein Mythos. Denn beim Kohlendioxidausstoß sind wir Spitzenreiter in Europa. Der Pro-KopfEnergieverbrauch ist bei uns viermal so hoch wie im Durchschnitt der Welt.
Meine Damen und Herren, wir leben offensichtlich fiber unsere Verhältnisse. Damit setzen wir auch die Lebenschancen zukünftiger Generationen leichtfertig aufs Spiel. Ich sage Ihnen: Der Generationenvertrag muß eingehalten werden, und zwar vor allem auch was den Schutz der Lebensgrundlagen betrifft.
Nun hat Ihre Regierung wenige Wochen vor der Berliner Klimakonferenz in den Spiegel geschaut. Und siehe da, sie hat erkannt, wie schlecht sie eigentlich aussieht. In hektischer Betriebsamkeit haben Sie Rouge und falsche Wimpern aufgetragen und Ihren Freunden aus der Industrie ein paar folgenlose Versprechungen abgerungen. Diese sogenannte Selbstverpflichtung der Wirtschaft zur CO2-Minderung ist jedoch das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.
Als ob Wirtschaftsverbände Unternehmen verpflichten könnten, CO2-Reduktionsziele einzuhalten. Anscheinend glauben Sie da noch an Wunder. Da geht es, glaube ich, eher um eine Beruhigungspille, die fristgemäß vor der Berliner Konferenz verabreicht wird, um ein umweltpolitisches Placebo.
Aber auch die Sozialdemokraten spielen, finde ich, eine unrühmliche Rolle. Im Bundestag werden schöne Konzepte zum Klimaschutz präsentiert, auch heute wieder. Im größten Bundesland allerdings, in NRW, kämpft die SPD dafür, die Energieverschwendung um weitere Jahrzehnte festzuschreiben.
Die Entscheidung für die Braunkohle, die Entscheidung für das Tagebaugebiet Garzweiler II ist doch eine klare Absage an jegliche ökologische Energiewirtschaft.
Wo bleibt denn in NRW der Einstieg in eine Energiewende, Herr Scharping, wenn die CO2-Bombe Garzweiler II - anders kann man sie wohl nicht nennen - der SPD-Beitrag zur Klimakonferenz ist? Na, dann gute Nacht.
Oder nehmen wir die sogenannten Energiekonsensgespräche von Regierung und SPD. Hier geht es offensichtlich um eine große Energiekoalition der Besitzstandswahrer von Atomenergie und Kohle. Das
Kerstin Müller
ist eine energiepolitische Dinosaurierveranstaltung. Denn eines ist für uns klar: Es wird und kann keinen Energiekonsens unter Einschluß der Atomenergie geben.
- Zu den Alternativen komme ich noch.
Was wir brauchen, ist ein politischer Grundkonsens, der die breite Mehrheit in der Bevölkerung für das Energiesparen und den Vorrang rationeller Energienutzung formuliert. Wir haben ein immenses Einsparpotential, denn in der Wirtschaft wird Energie immer noch massiv verschwendet und unzureichend genutzt. Untersuchungen zeigen - die dürften Ihnen eigentlich bekannt sein -: Wir könnten den Energieverbrauch allein in Westdeutschland um mehr als 40 % verringern. Das heißt, wir könnten aus der Atomenergie aussteigen, die nur etwa ein Zehntel des Energieverbrauchs deckt, und gleichzeitig könnten wir die Entstehung des klimaschädlichen Treibhausgases CO2 nachhaltig reduzieren.
Wir müssen Energie einsparen und sie effizienter nutzen. Und wir müssen die erneuerbaren Energieträger wie Sonne, Wind, Wasser und Biogas fördern. Das ist das Markenzeichen einer wirklichen Energiewende.
Meine Damen und Herren, ich sage es hier ganz deutlich: Ich glaube, der Markt alleine und ein paar warme Worte der Industrie werden die ökologische Wende, vor allem mit neuen Arbeitsplätzen, nicht hervorbringen. Die Gesellschaft muß zu einem Aufbruch bereit sein, und die Politik muß jetzt den Rahmen setzen.
Herr Schäuble, Sie haben dazu einiges gesagt. Da können wir Ihnen nur zustimmen. Eine zukunftsorientierte Politik braucht eine ökologische Steuerreform. Da haben wir keinen Dissens.
Wer die Umwelt schädigt, muß zahlen, und wer sie bewahren hilft, soll gewinnen. Im Zentrum soll die Einführung einer Energiesteuer stehen, aber auch die Mineralölsteuer muß schrittweise erhöht werden, denn die Benzinsparautos, von denen so viel gesprochen wird, werden erst dann attraktiv, wenn die Preise die ökologische Wahrheit sagen.
Eine ökologische Steuerreform ist auch ohne volkswirtschaftliche Nachteile im nationalen Alleingang möglich. Die einschlägigen Studien dürften auch hier bekannt sein. Auch hier hat die Regierung meiner Meinung nach die Zeichen der Zeit nicht verstanden.
Meine Damen und Herren, Sie verschanzen sich hier hinter dem Ziel einer EU-weiten CO2-Energiesteuer. Damit verschieben Sie die ökologische Steuerreform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
Noch ist es nicht zu spät. Wir brauchen eine ökologische Gründerzeit, den Aufbruch in eine Energiewende, den Einstieg in eine Verkehrswende. Diese Wende wird auch neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze hervorbringen. Das DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, rechnet mittelfristig mit einer halben Million zusätzlicher Arbeitsplätze. Wir wollen diese umweltverträglichen Arbeitsplätze schaffen, anstatt wie die Bundesregierung auf die Sackgassentechnologien des Atomkraftzeitalters zu setzen. Wir meinen, Kilowattstunden und nicht Menschen müßten arbeitslos werden.
Bei der ökologischen Offensive geht es nicht nur um veränderte politische Rahmenbedingungen, sondern auch darum, möglichst viele Menschen zu ermutigen, bei diesem Umbau mitzumachen. Das wird zunehmend schwerer. Denn obwohl die Umweltprobleme nicht kleiner, sondern größer geworden sind, treten sie für viele immer mehr in den Hintergrund. Der ökologische Umbau verlangt viel von den Menschen. Aber die eigentlich vorhandene Bereitschaft wird zunehmend durch soziale Probleme erdrückt. Dies bestätigt uns von den Bündnisgrünen darin: Eine ökologische Wende ist ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu machen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich meine, auch in der Finanz- und Sozialpolitik haben Sie leider kein Konzept für eine solche lebenswerte Zukunft. Sozialer Zusammenhang und Solidarität - ich möchte diese Begriffe hier noch einmal nennen - können nicht einfach vorausgesetzt werden. Sie müssen immer wieder durch konkrete Politik neu hergestellt werden. Bei Ihnen sind die Begriffe wie sozialer Zusammenhalt zu Leerformeln verkommen, vorbehalten für wohlfeile Feiertagsreden. Im konkreten Alltag wird immer wieder vorgeführt, daß das Recht des Stärkeren gilt.
Schauen wir uns die Fakten an: Fast vier Millionen Menschen sind arbeitslos. Nehmen wir die verdeckte Arbeitslosigkeit hinzu, kommt man auf nahezu sechs Millionen Menschen, die Arbeit suchen. Und trotz Wachstums alles andere als blühende Landschaften!
Die Bundesregierung hat inzwischen den Begriff Umbau des Sozialstaates in ihren Wortschatz aufgenommen. Gemeint ist aber wohl der kalte Ausstieg. Allein die in den letzten zwei Jahren beschlossenen Kürzungen, die sogenannten Konsolidierungsmaßnahmen, belaufen sich für die Jahre 1994 bis 1997 auf über 70 Milliarden DM. Ist Ihnen eigentlich klar, welche gesellschaftlichen Folgen diese tiefen Einschnitte in das soziale Netz für die Menschen in Ost und West haben? Anscheinend nicht.
Kerstin Müller
Auch das neue Programm der Bundesregierung zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen ist meiner Meinung nach völlig unzureichend. Nur 45 000 der 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen werden jährlich mit diesem Programm erreicht. Das ist eine sehr kleine Minderheit von nur 3 %. Dabei ist die Finanzierung sogar noch ungeklärt. Vermutlich wollen Sie hierfür bei anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen kürzen. So entstehen die Langzeitarbeitslosen von morgen. Was Sie da vorgelegt haben, ist eher ein arbeitsmarktpolitischer Offenbarungseid.
Ihre bisherigen Negativrekorde müßten Ihnen doch eigentlich reichen. Zur Erinnerung: Unter Ihrer Regierung hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger von zwei auf vier Millionen Menschen verdoppelt. Betroffen sind vor allem Arbeitslose, alleinerziehende Frauen und kinderreiche Familien. Mehr als sieben Millionen Menschen leben in diesem Land in Armut. Das ist unter Zugrundelegung der Armutsgrenze der EU jeder elfte Bundesbürger.
Zunehmend sind auch Kinder von Armut betroffen. In Ostdeutschland - das hat der neue Jugendbericht offengelegt - ist inzwischen jeder dritte Sozialhilfeempfänger unter 18 Jahre alt. Ihre Aussage, Frau Nolte, im Zusammenhang mit der Debatte um den Jugendbericht, die jungen Menschen seien mit ihrem Leben zufrieden, beweist angesichts solcher Tatsachen nur: Sie haben regierungsamtliche Schönfärberei schnell gelernt.
Die Bundesregierung bleibt mit dem vorgelegten Haushalt jede Antwort auf diese Misere schuldig, keine Spur von christlicher Nächstenliebe oder vom Karitasgedanken. Da wird das hohe C bei der Union niedrig gehängt. Vielleicht sind diese Menschen für Sie ja auch nur Spaziergänger im Freizeitpark Deutschland; dieser diffamierende Begriff ist ja in der Debatte schon einmal gefallen.
In den neuen Plänen zur Sozialhilfe - die anscheinend nur Pläne sind - vergreifen Sie sich wieder einmal an den Schwächsten der Gesellschaft. Diese wollen Sie weiter unter das Existenzminimum drücken. Sie verbreiten die alte Legende, der Abstand zwischen der Sozialhilfe und den unteren Einkommen sei nicht gegeben, weil die Sozialhilfe zu hoch sei. Ihre eigenen Gutachter haben doch schon 1993 das Gegenteil festgestellt.
Den Vogel abgeschossen haben Sie aber mit dem neuen Ausländerleistungsgesetz. Mehr als eine halbe Million Ausländer und Ausländerinnen, Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber haben künftig selbst auf die sogenannten normalen Sozialleistungen keinen Anspruch mehr; statt dessen gibt es Auszahlungen in Sachleistungen, Einschränkungen der Gesundheitsfürsorge.
Das ist eine unglaubliche Stigmatisierung rechtmäßig hier lebender Ausländer und Ausländerinnen. Sozialpolitik wird hier nicht eingesetzt, um den sozialen Absturz zu verhindern. Sie wird mißbraucht, um soziale Spaltung zwischen Deutschen und Ausländern zu organisieren. Das nenne ich staatlich verordneten Rassismus.
Die zunehmende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft ist eines der Kernprobleme der Zukunft. Die Kirchen haben das in ihrer Schrift zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland ausgesprochen: Die soziale Spaltung ist eine Gefahr für die Demokratie. Auch deshalb muß der Sozialstaat reformiert werden. Es geht aber nicht darum, ihn zu zerstören, sondern darum, ihn auch für zukünftige Generationen zu erhalten.
Schon der traditionelle Sozialstaat ist längst aus den Fugen geraten. Er schützt nämlich nur noch diejenigen vor Armut, die ununterbrochen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Doch dieser sogenannte männliche Normalarbeitnehmer, der zeit seines Lebens in der Woche 40 Stunden arbeitet, Frau und Kinder ernährt, gehört eben nicht mehr zur Normalität dieser Gesellschaft.
Für viele ist das herkömmliche Sozialstaatsmodell deshalb schon lange kein soziales Netz mehr, sondern ein Sieb: für Dauererwerbslose, Frauen, Migranten, Pflegebedürftige und Behinderte. Ohne eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung, die als Sockel in die Renten- und Arbeitslosenversicherung eingebaut wird, wird es dauerhaft Armut geben.
Mit einer materiellen Grundsicherung wollen wir diesen Menschen ihre Menschenwürde zurückgeben, nicht mehr und nicht weniger.
Meine Damen und Herren, klar ist aber auch: Ohne eine radikale Umverteilung der Arbeit steht der soziale Frieden auf dem Spiel. Wir brauchen ein modernes Arbeitszeitgesetz, das Frauen und Männern die Möglichkeit einer individuellen Lebensplanung bietet, das Überstunden begrenzt und jetzt Impulse für beschäftigungswirksame Arbeitszeitverkürzung gibt.
Durch öffentlich geförderte Beschäftigung kann sinnvolle Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert werden; dies gilt gerade für Langzeitarbeitslose. Deshalb haben wir im Rahmen der Haushaltsberatung beantragt, den Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit wieder deutlich aufzustocken.
Die zunehmende Armut und der Mangel an bezahlbaren Wohnungen drängen immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit. Es ist skandalös: In einer der reichsten Gesellschaften müssen Menschen ohne ein Dach über dem Kopf oder in Notunterkünften leben. Das ist mit der Menschenwürde - Art. 1 des Grundgesetzes - wohl kaum vereinbar. Eine unserer ersten Initiativen war deshalb, ein Sofortprogramm zur Überwindung der Obdachlosigkeit vorzulegen.
Kerstin Müller
Wenn Sie nach den Finanzierungsquellen für einen solidarischen Umbau des Sozialstaats fragen: Es gibt sie. Sie werden jedoch aus unserer Sicht von den Koalitionsfraktionen ganz bewußt ausgespart.
Ich nenne einige Beispiele: Das private Geldvermögen wird nach Angaben der Deutschen Bundesbank auf mindestens 4 000 Milliarden DM geschätzt. Seit Beginn dieses Jahrzehnts wächst es im Westen Deutschlands um jährlich 200 Milliarden DM. An diesem Vermögen hat aber die Hälfte der Personenhaushalte so gut wie keinen Anteil; sie besitzen schlichtweg kein Vermögen.
Es gibt einen beträchtlichen neuen Reichtum, der in diesem Jahrzehnt entsteht: Immer mehr Vermögen werden ererbt statt erarbeitet. In den 90er Jahren werden es im Westen Deutschlands schätzungsweise 2 000 bis 3 000 Milliarden DM sein, die auf neue, jüngere Eigentümer übertragen werden.
Wenn der politische Wille vorhanden wäre, könnten durch eine gerechte Besteuerung dieser Vermögen zusätzliche Einnahmen erzielt werden.
Warum wird die Erbschaftsteuer bei uns nicht so hoch angesetzt wie in Japan, Frankreich oder den USA - mit angemessenen Freibeträgen, versteht sich -?
Auch die steuerliche Neubewertung von Grund und Boden ist seit langem überfällig; ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts hierzu steht noch aus. Zur Zeit werden nur etwa 10 % des eigentlichen Wertes steuerlich erfaßt.
Die Koalitionsfraktionen haben das in ihrer Vereinbarung explizit ausgeschlossen. Wörtlich heißt es: „Wir wollen keine Verkehrswertbesteuerung. " Im Klartext, Sie verzichten bewußt auf mögliche zusätzliche Steuereinnahmen.
Meine Damen und Herren, beenden Sie endlich Ihre Politik, die in den vergangenen Jahren systematisch die Gutverdienenden und Vermögenden begünstigt hat! Wir wollen die Bezieher niedrigerer Einkommen entlasten.
Wir treten deshalb u. a. für eine Solidaritätsabgabe für Gutverdienende ein.
Meine Damen und Herren, keine Bundesregierung hat sich vom Verfassungsgericht so häufig und in so zentralen Fragen des Finanz- und Steuerrechts das Urteil „verfassungswidrig" eingehandelt wie die Regierung Kohl/Waigel. Ich nehme an, Sie haben in Karlsruhe bereits eine ständige Vertretung eingerichtet, so oft, wie Sie vor dieses Gericht zitiert werden.
Nun versuchen Sie sich auch noch bei der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums an den Vorgaben des Verfassungsgerichts vorbeizuschleichen. Ihre eigene Expertenkommission hat doch den Betrag von 12 000 DM als zu niedrig befunden, Herr
Waigel. Dieser Betrag liegt deutlich unter dem aktuellen Sozialhilfebedarf - preiswert für Sie, aber ungerecht für die unteren Einkommen. Das ist Steuerpolitik nach Gutsherrenart.
Genauso unzureichend sind Ihre Vorschläge zum Kinderleistungsausgleich. Sie wollen bei dem Nebeneinander von Kindergeld und -freibetrag bleiben, für die Einkommensschwächeren das Kindergeld, für die Gutverdienenden der Freibetrag. Sie bleiben Ihrem Grundsatz treu: Mit den Beziehern hoher Einkommen meinen Sie es immer besonders gut.
Leben mit Kindern ist heute für viele ein Armutsrisiko geworden, besonders für Alleinerziehende. Sie aber begünstigen mit Ihrem Steuersystem vor allem die kinderlosen Ehen, in denen nur ein Partner, oft der Mann, das Einkommen erzielt. Das ist die Konsequenz des famosen Ehegattensplitting, das Ihnen jedes Jahr ganze 36 Milliarden DM wert ist. Wir wollen, daß mit dieser einseitigen und antiquierten Subventionierung der Lebensform Ehe endlich Schluß ist.
Wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert. Wir wollen das Leben mit Kindern begünstigen und nicht den Trauschein.
Herr Waigel, das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen doch die Hausaufgaben ins Heft diktiert. Sie müssen das Existenzminimum freistellen und das Leben mit Kindern finanziell erleichtern. Umverteilung ist eben komplizierter als die Beantwortung der simplen Frage, ab welcher Verdienstgrenze man denn als Besserverdienender zu gelten habe.
Wir schlagen daher eine integrierte Steuerreform vor, die die Freistellung des Existenzminimums mit deutlich verbesserten Kinderleistungen verbindet. Wir wollen den Kinderfreibetrag ersatzlos streichen und ein einheitliches Kindergeld von 300 DM pro Kind und Monat einführen. Für die Freistellung des Existenzminimums schlagen wir einen Grundfreibetrag von 14 000 DM im Jahr vor. Vor allem für Familien und für Alleinerziehende führt die Kombination aus einem erhöhten Existenzminimum und einem deutlich erhöhten Kindergeld zu einer spürbaren steuerlichen Entlastung.
Und das alles ist auch finanzierbar, wenn die Steuerprivilegien für die Ehe eingeschränkt werden, und durch den Abbau weiterer sozial ungerechter Privilegien im Einkommensteuergesetz könnte nochmals kräftig gespart werden. Wir haben da eine entsprechende Liste vorgelegt. Herr Waigel, das wäre endlich einmal eine Steuerreform, die vor dem Verfassungsgericht Bestand hätte.
Meine Damen und Herren von der Regierung, auch die Einrichtung eines Zukunftsministeriums hat Sie in den entscheidenden Fragen keinen Schritt
Kerstin Müller
weitergebracht. Ob es um den sozialen oder den ökologischen Generationenvertrag geht: Sie sind nicht auf der Höhe der Probleme; in der Sozialpolitik unsolidarisch, in der Umweltpolitik verantwortungslos.
Oder um es mit einem alten Vers Friedrich Schillers in etwas neuer Form zu sagen:
Aber Kohl in allem seinem Glanze ist ein Grab nur der Vergangenheit.
Lebend duftet nur die frische Pflanze, die die grüne Stunde streut.
Danke.