Rede von
Gerhard
Rübenkönig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit der vermeidbaren Blut-Aids-Katastrophe ist das Thema Gesundheit
Gerhard Rübenkönig
noch sensibler geworden. Wie war es überhaupt möglich, daß ein Interessentrio aus Herstellern, Ärzten und Behörden diesen Skandal in der deutschen Medizin jahrelang verbergen konnte?
Heute reden wir über die Gesundheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, über Ihren Haushalt, Herr Minister Seehofer, und damit auch über Ihre Verantwortung in dieser Sache. Ihr Gesundheitshaushalt ruft nicht nur die SPD-Opposition auf den Plan, sondern entmutigt geradezu die Patienten und Versicherten in unserem Lande.
Herr Seehofer, Sie haben mit Blick auf die Contergan-Tragödie, bei der Parlamentsdebatte Anfang des Jahres zu HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte versprochen, eine weitere Katastrophe in der modernen Medizin zu verhindern. Aber schon heute morgen mußten Sie der Öffentlichkeit mitteilen, daß der Entschädigungsfonds nicht zustande gekommen ist.
Die SPD-Fraktion wird sich an der Vereinbarung, wie sie zustande gekommen ist, nämlich an dieser Billiglösung, nicht beteiligen.
Sie haben mit der Pharmaindustrie schlecht verhandelt.
Wir haben in dieser Sache die parlamentarische Pflicht, mehr zu tun. Herr Seehofer, wo bleibt die vom Parlament versprochene Genugtuung für HIV-infizierte Bluter? Dieses Verhandlungsergebnis ist auch ein Beweis für die unglaubwürdige Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Unglaubwürdig, Herr Minister Seehofer, wirkten Sie ebenfalls in der Debatte am 9. März, als Sie gleich zu Anfang wörtlich verkündeten:
Das deutsche Gesundheitswesen gehört nach wie vor zu den leistungsfähigsten auf der Welt. Ich behaupte sogar, es ist das leistungsfähigste auf dieser Erde.
Ich glaube das nicht und meine, daß Ihnen das keiner abnimmt.
Ich meine, Herr Minister, dieser Haushalt wird Sie auf den bitteren Boden der Realität zurückholen. Der Gesundheitshaushalt 1995, der gegenüber 1994 um 6,5 % heruntergefahren wurde, zeigt deutlich, daß jeder Ansatz für eine moderne Gesundheitspolitik in Deutschland unmöglich gemacht und so die Revision des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1993 mit eingeleitet wird.
Dies zeigen drastische Kürzungen auf dem Gebiet der Psychiatrie, auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, auf dem Gebiet der Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker, auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs. Lediglich bei den Ausgaben für die Aids-Bekämpfung konnten wir in der Haushaltsberatung die geplante Kürzung von 7 Millionen DM um 2 Millionen DM, nämlich auf jetzt 5 Millionen DM, herabmildern.
Einen Erfolg, Herr Minister, konnte die SPD-Opposition in diesen Tagen verbuchen. Auf die wiederholte Forderung meiner Fraktion nämlich, die humanitäre Soforthilfe für die PPSB-Opfer zu öffnen, haben Sie endlich reagiert und gehandelt.
Ich muß aber als Haushälter dennoch feststellen: Die Bundesregierung kürzt seit Jahren zunehmend die Mittel in den Bereichen Aufklärung und Prävention. Angesichts der unverminderten HIV-/Aids-Problematik ist dies nicht zu verantworten.
Jedes Jahr wird eine große Zahl von Menschen neu mit HIV infiziert. Andere erkranken; viele sterben an dieser noch immer unbesiegbaren Krankheit. Herr Minister, der von der Bundesregierung durch Sie ausgesprochenen Bitte um Verzeihung muß die ausreichende finanzielle Perspektive für die Betroffenen folgen.
Der Entschließungsantrag der SPD-Opposition zum Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses war das Signal für weitere notwendige Schritte nach den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit. So wurde auf Initiative der SPD im Bundeshaushalt 1995 ein parteiübergreifender Konsens in der Frage der Entschädigung von HIV-Opfern erreicht.
Die Schaffung des neuen Haushaltstitels „Beteiligung des Bundes an einer Regelung für angemessene Leistungen an HIV-Opfer von Blut und Blutprodukten" konnte von allen Parteien als ein erster Schritt zur umfassenden Entschädigung der Betroffenen mitgetragen werden. Weiter gefordert hatten wir aber vom Bund, meine Damen und Herren, einen festen Betrag, der sich an den Empfehlungen des 3. Untersuchuñgsausschusses orientierte. Das jetzt erzielte Verhandlungsergebnis, Herr Minister See-
Gerhard Rübenkönig
hofer, lediglich 250 Millionen DM für die Opfer der größten deutschen Arzneimittelkatastrophe, ist natürlich völlig unzureichend.
Eine solche Billiglösung ist für die Opfer und auch für die SPD völlig unakzeptabel.
Die Opfer haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb ist der Vorschlag einer Stiftung der falsche Weg.
Statt einer Kapitalentschädigung - der Untersuchungsausschuß hat 350 000 DM als unteren Rahmen für angemessen erachtet - soll jetzt aus dem zu geringen Stiftungsvermögen lediglich eine monatliche Rente gezahlt werden.
Was bei Contergan richtig war, hilft den Menschen auf Grund ihrer geringen Lebenserwartung in diesem Falle nicht.
Viele Menschen starben bereits an den Folgen ihrer Infektion, und, meine Damen und Herren, Woche für Woche werden es mehr.
Kolleginnen und Kollegen, nach der ConterganKatastrophe sollte mit der Schaffung eines sogenannten Pharmapools verhindert werden, daß sich die rechtliche Situation und die nachteilige Behandlung von Opfern wiederholen. Deswegen wurde für die Abdeckung von Großrisiken der Pool gebildet. Aber es rührt sich nichts. Die Gesamtprämieneinnahmen machen heute über 600 Millionen DM aus. Gezahlt hat die Versicherungswirtschaft aber bis heute nichts.
- Nein, natürlich nicht.
Ja, die Versicherer konnten sogar das Mißbrauchsverfahren gegen das Kartellamt mit der Begründung anhalten, dieses Geld werde für die Entschädigung für HIV-Infizierte gebraucht. Aus diesem Grund hätten Sie anders auftreten und anders verhandeln müssen, Herr Minister.
Meine Aufforderung an die Vertreter der Versicherungswirtschaft: Kommen Sie doch endlich Ihren Verpflichtungen nach! Stellen Sie dem Entschädigungsfonds die Hunderte von Millionen DM zur Verfügung, die Sie für eine solche Katastrophe zurückgelegt haben! Zeigen Sie, daß Sie die Steuervorteile nicht zu Unrecht erhalten haben!
Mein Appell an Sie, Herr Minister, und an die Vertreter der Pharmaindustrie und Versicherungswirtschaft: Verhandeln Sie in dieser Sache nach! Wir brauchen dringend vertrauensbildende Maßnahmen. Wir müssen den Opfern sofort helfen, und wir dürfen mit unserer Hilfe nicht zu spät kommen.
Ich meine, wir müssen jetzt die Initiative ergreifen: Der Staat tritt sofort mit den Beiträgen von Bund und Ländern in Vorleistung,
läßt sich von den Betroffenen deren Haftungsansprüche abtreten und macht sie, z. B. in Musterprozessen, gegen die Pharmaindustrie geltend. Die SPD wird zur dritten Lesung hierzu einen Initiativantrag stellen.
Deshalb müssen wir den Antrag vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Frau Heyne, den Sie hier gestellt haben, ablehnen.
Herr Minister Seehofer, neben der ungelösten HIV-Problematik existiert natürlich noch der Aufgabenkatalog des Gesundheitsstrukturgesetzes, der noch nicht abgearbeitet ist. Reden Sie jetzt nicht schon von der dritten Stufe der Gesundheitsreform, son-dem kehren Sie zum Lahnsteiner Kompromiß zurück und lassen Sie uns zum Wohle der Patienten und Versicherten diese tiefgreifende Strukturreform endlich umsetzen!
Schon in der Koalitionsvereinbarung zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens fehlte nach meiner Auffassung ein eindeutiges Bekenntnis zur Umsetzung des Gesundheitsstrukturgesetzes, mit dem im Jahr 1993 eine Reform im Gesundheitswesen unter der Zielsetzung „Modernisierung des Gesundheitswesens statt Rationierung medizinischer Leistungen" begonnen wurde.
Bedenklich stimmt mich die Ankündigung, eine dritte Reformstufe des Gesundheitswesens vorzubereiten, vor allem deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Fragestellungen des Gesundheitsministers an die Gutachter zur gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere auf eine Rationierung und Privatisierung von Leistungen abzielen.
Prompt will der Sachverständigenrat dann auch das vorhandene Problem der Knappheit der Mittel vorwiegend in der Sphäre der Versicherten lösen.
Gerhard Rübenkönig
Wie ich den bereits in einem Zwischenbericht dargelegten Diskussionsvorschlägen entnehme, geraten die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung unter Druck. Danach stehen der bisherige Arbeitgeberanteil, das Solidarprinzip, das Sachleistungsprinzip, das Finalprinzip - d. h. Leistungen werden unabhängig von der Verursachung der Erkrankung erbracht - und die medizinisch vollwertige Versorgung zur Disposition.
Einer Gesundheitspolitik, die den solidarischen Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung und die Bedarfsgerechtigkeit mit dem Schlagwort einer verstärkten Eigenverantwortlichkeit zu einem wesentlichen Teil außer Kraft setzt, erteilen wir Sozialdemokraten eine klare Absage.
Die Petersberg-Gespräche mit den Verbänden des Gesundheitswesens waren ein weiterer Anlaß für Sie, Herr Minister sich vom Gesundheitsstrukturgesetz zu verabschieden. Denn wer will sich nach der Ankündigung einer weiteren Reform noch freiwillig einem Rationalisierungsdruck für seinen Bereich aussetzen?
Fazit für mich ist: Während vor allem die Patienten und allen voran chronisch Kranke durch Arzneimittelzuzahlungen bereits unverhältnismäßig hoch belastet werden, werden in anderen Bereichen die strukturellen Maßnahmen, die ja die Wirtschaftlichkeitsreserven mobilisieren sollen, leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Ein deutliches Beispiel, Herr Minister Seehofer, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ist der geplante Verzicht auf die Einführung der Positivliste für Arzneimittel.
Was Herr Lohmann von der CDU schon eine Horror-liste nannte, ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetzes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen doch alle, daß der Arzneiverordnungsreport von Jahr zu Jahr neu beweist, wie unübersichtlich und unverständlich der Arzneimittelmarkt aussieht. Die Mittel der Solidargemeinschaft werden weder unter qualitativen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten optimal eingesetzt.
Arzneien mit einem marginalen therapeutischen Nutzen können gleichzeitig mit Risiken behaftet sein. Der Verzicht auf ein Medikament bedeutet in solchen Fällen daher auch einen Verzicht auf Nebenwirkungen. Der deutsche Arzneimittelmarkt, meine Damen und Herren, zeichnet sich durch eine erhebliche Intransparenz aus, die ihrerseits deutliche Qualitätsmängel zur Folge hat.
Die Positivliste als Orientierung im Arzneimittelbereich ist daher ein Instrument zur dringend notwendigen Qualitätsverbesserung und für den Arzt die Grundlage einer rationalen Therapie.
Wir sind der Auffassung, daß durch die AMG-Novelle die Positivliste nicht überflüssig geworden ist. Der Ausschlußtatbestand nach § 92a Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 ist neu und geht ganz bewußt über die Kriterien für die Zulassung eines Arzneimittels hinaus, indem er auf das Ausmaß des zu erzielenden Effektes abhebt.
Demgegenüber kann einem Medikament die Zulassung nur dann versagt werden, wenn sich mit ihm keine Wirkung erzielen läßt. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen stellt sich die Frage, ob EdelPlacebos wirklich von der Solidargemeinschaft bezahlt werden sollten.
Die Positivliste, Herr Minister, die Sie bis zum 31. Dezember 1995 zu erlassen haben, ist ein Qualitäts- und Transparenzinstrument und keine Maßnahme zur Kostendämpfung im Arzneimittelbereich.
Die Tatsache, daß die Frage der Verordnungsfähigkeit mehr als bisher an qualitative Gesichtspunkte geknüpft ist, können wir im Blick auf das Wohl der Patienten und einer hochwertigen Versorgung unserer Versicherten nur begrüßen.
Bevor ich zum Schluß komme, Herr Minister, möchte ich aus aktuellen Gründen auf den unerhörten Entwurf des Ausländerleistungsgesetzes aus Ihrem Hause eingehen.
Sie wollen den Anspruch von Bürgerkriegsflüchtlingen in der Bundesrepublik sowie geduldeten Ausländern und Asylbewerbern, die über ein Jahr in Deutschland leben, um ein Viertel unter das Sozialhilfeniveau drücken. Wenn das der Auftakt für die Neuregelung der Sozialhilfe sein soll, läßt diese würdelose Kalkuliererei Schlimmeres vermuten.
Der von Ihnen erwogene Abstand zwischen Sozialhilfe und Einkommen in den unteren Lohngruppen kann dazu führen, daß mancher Haushalt in die totale Armut abrutscht. Dies ist ein Angriff auf die Würde des Menschen in unserem Lande und ist ein Vorschlag, der mit Sozialdemokraten nicht zu machen ist.
Gerhard Rübenkönig
Für ein solches Gesetz, Herr Seehofer, wird es keine Mehrheit im ganzen Deutschen Bundestag geben. Die SPD-Fraktion lehnt diesen menschenunwürdigen Gesetzentwurf zutiefst ab.
Zum Schluß stelle ich zusammenfassend nochmals die zentralen Aufgaben in der Gesundheitspolitik heraus: erstens die Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips durch die inhaltliche Forcierung der Einführung von Fallpauschalen und Sonderentgelten im Krankenhaus, zweitens die Förderung der wirtschaftlichen Verordnungsweise durch Einführung von Richtgrößen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel in der ambulanten Praxis, drittens die qualitative Absicherung der Wirtschaftlichkeit durch Einführung von Qualitätsmaßstäben im Leistungsgeschehen des Gesundheitswesens und viertens die Sicherstellung der Arzneimitteltherapie auf einem höheren Qualitätsniveau durch die Einführung der von mir bereits erwähnten Positivliste im Arzneimittelmarkt.
Herr Minister Seehofer, meine Damen und Herren, die Fülle der Versäumnisse zeigt, daß die Gesundheitspolitik der Bundesregierung unglaubwürdig ist. Aus diesem Grunde lehnen wir Ihren Haushalt ab.
Aber im Interesse der Patienten und Versicherten, insbesondere der HIV-Infizierten, bieten wir Ihnen bei der Durchsetzung der Strukturreform und unserer Forderungen bei den Nachverhandlungen mit den Beteiligten unsere Mitarbeit und Unterstützung an.
Ich danke Ihnen.